Lilian Peter an Yui Tanizaki
Lausanne und Marseille, 27.10.-9.11.2021

Lilian Tanizaki Briefwechsel

Liebe Yui,
 
ich habe Deinen letzten Brief im Verlauf einiger Wochen immer wieder gelesen; er hat mich auf vielfache Weisen sehr berührt. Immer wieder habe ich es aufgeschoben, meine Antwort an Dich anzufangen, was sicher, wie bei Dir, auch damit zu tun hat, dass es meine letzte Antwort an Dich sein soll (wenigstens in diesem öffentlichen Briefwechsel); einen Abschluss zu finden, fällt mir nicht nur schwer, sondern widerstrebt mir geradezu, wir haben doch eben erst angefangen, ich will nicht aufhören. Ich finde etwas sehr Tröstliches, Wunderbares in diesem so viele Ländergrenzen überfliegenden gemeinsamen Raum, den wir uns erschrieben haben, und das nicht nur zu zweit, sondern zu viert, mit den beiden Übersetzerinnen, ohne die das alles auf diese Weise natürlich überhaupt nicht möglich gewesen wäre, deren Worte sich mit unseren Worten verbinden, verbunden haben. Tröstlich gerade auch in dieser Zeit der Pandemie, in der wir alle plötzlich mit solcher Vehemenz auf (unsere eigenen) Innenräume zurückgeworfen waren oder weiterhin sind. Als Frauen wissen wir vielleicht in spezifischer Weise, was es bedeutet, hinter Wänden eingesperrt zu sein und keine (eigene) Verbindung zur Welt unterhalten zu können. Mir hat diese Zeit sehr zugesetzt, manchmal war ich regelrecht panisch und konnte mir gar nicht mehr vorstellen, jemals nochmal „rauszukommen“. Auf sehr spezielle, sehr intensive Weise waren die Geister meiner weiblichen Ahnen, meiner Mütter, ständig bei mir, auf ihrer Insel, die sie nie verlassen konnten, in ihrem Hausinneren, in ihrem Verrücktwerden.

Immer wieder habe ich mich gefragt, ob einem, wenn man immer im „Inneren“ ist, nicht irgendwann das Erinnern abhanden kommt, Erinnern auch im Sinn von Schreibvermögen, Schreiblust. Mir zumindest ging es so. Im deutschen Wort „Erinnern“ steckt das „innen“; „Erinnern“ heißt eigentlich wörtlich so etwas wie „nach innen nehmen“. Eine Art Langzeitprojekt von mir ist das Sammeln von Wörtern in fremden Sprachen, die soviel wie „Erinnern“ oder „Erinnerung“ bedeuten, und zu verstehen, wie sie in der jeweiligen Sprache konnotiert sind; einer der interessantesten Funde in letzter Zeit war das hebräische Wort zakhar. Es bedeutet „erinnern“, aber es bedeutet auch: „männlich sein“. Der Mann ist derjenige, der erinnert; die Frau ist das, was erinnert wird, nach innen genommen wird, oder auch das, wohinein (männliche) Erinnerung injiziert wird. Das etwas jüngere altgriechische Wort mimnesko bedeutet „erinnern“; aber es bedeutet bei manchen Autoren auch: „um eine Frau werben“. In mimnesko steckt zudem das mnema, das Grab. Ist es nicht merkwürdig, dass in so unterschiedlichen Kulturen, über so viele Grenzen hinweg bestimmte grundlegende Bilder und Erfahrungen genau gleich zu sein scheinen?

Du schreibst von einem „stillen Ärger“, der Dich begleitet, seit Du aufgrund der Schwangerschaft nicht mehr schreiben kannst, und dass er Dir Teil des „Sprechens der Mütter“ zu sein scheint. Das deutsche Wort „Mutter“ ist dasselbe Wort wie das englische „to mutter“; in einem meiner Essays spiele ich unter anderem mit den historischen und etymologischen Assoziationen dieser Wörter. „To mutter“ heißt soviel wie „murren, brummen, nuscheln, murmeln“; dasselbe Verb, muttern, gab es auch einmal im Deutschen (heute ist es nicht mehr gebräuchlich). In einem historischen Wörterbuch habe ich dafür eine Definition gefunden, die dieses Verb mit einem Menschen in Verbindung bringt, der seiner Unzufriedenheit, seinem Ärger durch „Murren“ Ausdruck verleiht; als Vergleich nennt die Definition auch den dumpfen Ton eines fernen Gewitters! Dieses Bild finde ich der Magmakammer unter der gefrorenen Erde, von der Du sprichst, verblüffend ähnlich. Historisch findet sich dieses „Muttern“ natürlich als unverständlich abgewertet, als unlesbar und unwert, selbst als Text in der Welt zu sein. Aber: in „to mutter“ steckt auch „to utter“, was wiederum vom lateinischen Wort „uterus“ abstammt und soviel heißt wie „(zusammenhanglose-Wörter-)aus-sich-Herausstoßen“. Die Urgeste des Sprechens überhaupt, der Uterus als Ur-Organ nicht nur des Lebens, sondern auch –– der Sprache!

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Liebe Yui, eine Woche ist vergangen, den Anfang dieses Briefes habe ich in einem Café in Lausanne geschrieben, wo ich für einen Workshop war, nun sitze ich auf einer Bank an der felsigen Küste von Marseille und blicke aufs Mittelmeer, die Sonne scheint mir kräftig ins Gesicht, ich kann kaum sehen, was ich tippe. Nur noch rund 250 Wörter bleiben mir zu schreiben, dann ist das Budget dieser Briefe aufgebraucht. Die Luft ist salzig, es weht ein kräftiger Wind. Das Meer murmelt und rauscht.

Ich habe die Phantasie, diesen Briefwechsel mit Dir lebens- oder wenigstens jahrelang weiterzuschreiben, als life writing, als woman writing, als writers writing zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen, zwei Kulturen. Ein Raum, der immer da bleibt, der sich niemals verkleinert, sondern stets nur vergrößert, ein Raum, in dem immer gesprochen werden kann, aus dem die Sprache niemals verschwindet. Ich will nicht, dass Du aufhörst zu sprechen, ich will nicht, dass das Sprechen aus Dir „entweicht“. Niemals! Es wird auch nicht passieren. Deine Tochter wird größer werden, sie wird selbstständiger werden, Du wirst zum Schreiben zurückfinden. Du wirst nicht verschwinden, Deine Sprache wird nicht verschwinden, auch wenn sie für eine Zeit „auf Eis liegen“ mag. Aber ich verstehe Deine Angst davor und kenne ihren bitteren Geschmack.

La mer (das Meer), la mère (die Mutter) – die beiden Wörter klingen im Französischen genau gleich. Wasser, „weibliches“ Element; es steht niemals still, ist immer in Bewegung, wie das Erinnern, wie die Schrift selbst, die eben gerade nicht in einem Grab liegt und darauf wartet, von einem Mann umworben und unter seine Haube gebracht zu werden. In meiner Vorstellung sende ich meinen Brief an Dich diesmal nicht über Land, oder besser gesagt nicht durch die Luft, auf direktem Weg im Flug von Berlin aus über die sibirische Tundra, sondern ich sende ihn über das Meer, in der Hoffnung, dass sein Murmeln, sein Rauschen, sein brodelndes Magma Dich an einem guten Ort erreichen. Ich stelle mir vor, wie Du an irgendeiner der japanischen Küsten stehst, aufs Meer blickst, und ... meine Flaschenpost aus dem Wasser ziehst. Ich lege Dir noch etwas mit hinein, wovon ich an dieser Stelle nicht verraten will, was es ist, das würde schließlich die Überraschung verderben; ich wünsche mir, dass es Dich zum Lachen bringt.

Deine Lilian



PS. Von meinem Berliner Balkon gibt es nichts Nennenswertes zu berichten, aber auf einer kleinen Insel vor Marseille habe ich vor einigen Tagen blühende Agaven bewundert. Sie sehen seltsam aus, fast baumähnlich mit ihrem langen Stiel und den kleinen Krönchen daran, die von Ferne ein bisschen Ähnlichkeit haben mit gestutzten japanischen Schwarzkiefern. Man nennt sie auch Jahrhundertpflanzen, da es Jahrzehnte dauern kann, bis sie blühen; nach der Blüte sterben sie direkt ab. In einem Berliner Park blühte kürzlich auch einmal eine Agave. Sie war mit einem Schild versehen, auf dem stand, dass dies ein sehr besonderes Ereignis sei; in Berlin habe zuletzt im Jahr 1838 eine Agave geblüht.

 

 

Japanische Übersetzung: Miho Matsunaga