Tanzplattform Deutschland 2016
Nachbarn, im Plural

Will Rawls
Will Rawls | Foto (Ausschnitt): © Luis Rodriguez

Der Choreograf Will Rawls und die Dramaturgin Sandra Noeth im Gespräch über Identität, Nation und die Tanzplattform Deutschland.

Sandra Noeth: Als wir in die Jury der Tanzplattform Deutschland eingeladen wurden, sorgte die ausdrückliche Kennzeichnung „deutsch“ für ein leichtes Unbehagen bei meinen Jurykolleginnen und -kollegen und mir. Wir fragten uns, welche Bedeutungsebenen und Ansprüche heute mit diesem Begriff verbunden sind. Er scheint ziemlich überholt, wenn man die derzeitigen Produktionspraktiken in zeitgenössischem Tanz und Performance betrachtet. Und was bedeutet es vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Realitäten, diese übergreifende, nationale Bezeichnung aufrechtzuerhalten?

Will Rawls: Im Sommer 2015 besuchte ich die Biennale in Venedig und hatte den Eindruck, dass das Konzept der Nationalpavillons nicht mehr länger so funktioniert, wie es vielleicht einmal funktioniert hat, als eine Einteilung nach Ländern noch entscheidend war, um eine Ästhetik verorten und in einen internationalen, wenn auch eingeschränkten Dialog treten zu können. Der Tanzdiskurs, an dem ich beteiligt bin, ist interdisziplinär und grenzübergreifend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die in Deutschland in diesem Bereich tätig sind, ihre kreative Entwicklung als etwas besonders Deutsches wahrnehmen – Tanz beruht ja so oft auf Osmose und Durchlässigkeit.

In den USA fehlt es uns eigentlich an der ideologischen Infrastruktur, um eine US-amerikanische Tanzplattform zu etablieren. Tanz ist hier immer noch eine sehr uneinheitliche Präsenz im kulturellen Dialog über Kunst, und Tanzpraktiken und -methoden sind weiterhin unabhängig vom System, insofern als sie sich nicht einem nationalisierten, institutionellen Programm zuordnen lassen können oder wollen.

Sandra Noeth: Die Tanzplattform Deutschland wurde 1994 gegründet, zu einem Zeitpunkt, an dem Aspekte der Institution, Infrastruktur und Wissenszirkulation im zeitgenössischen Tanz in Europa und ihre lokalen, nationalen und internationalen Schnittstellen sich in einem grundlegenden Wandel befanden. Seitdem wurden Fragen im Zusammenhang mit Ethnie, Gender und Nationalität als Zuschreibung von Identität im Diskurs eingehend erörtert. Sie beeinflussen bis heute kuratorische Entscheidungen, die institutionelle Einladungspolitik von Künstlerinnen und Künstlern und die Finanzierung von Projekten. Die Performativität und Physikalität des Körpers verstört diese Kategorien zugleich immer schon und löst sie in einem aufeinander reagierenden, sich widersprechenden Wechselspiel zwischen individuellem und kollektivem Körper auf. Wie können wir diese sich überlappenden, miteinander verflochtenen Prozesse nachvollziehen, wenn wir Tanz präsentieren oder ansehen, der mit einem spezifischen Ort verbunden ist, aber das spezifische Umfeld, in dem der Tanz entstanden ist, nicht „importieren“? Das erinnert mich an das Projekt „The Planet Eaters“, das Du 2013 im Balkan aufgeführt hast.

Will Rawls: The Planet Eaters ist ein Duo für den Musiker Chris Kuklis und mich, bei dem ich Rhythmen und Bildsprache in unseren physischen und akustischen Austausch choreografierte. Als Ergebnis entstand eine Karte, die ritualisiert und dennoch fließend war, und das sich verändernde Territorium nachzeichnet, das das Selbst an das Andere und die Tradition an die Gegenwart bindet. Unter meinen Projekten ist es in gewisser Hinsicht das mit der bewusstesten nationalistischen Haltung – und vielleicht auch das einzige. Den Balkan als Tänzer, Choreograf und US-Bürger zu bereisen, beeinflusste mein Verständnis davon, wie Tanz auf kultureller Ebene funktioniert oder eben nicht funktioniert, in vielerlei Hinsicht. Ich kehrte nach Serbien zurück und nahm Unterricht an einer Schule für Volkstanz. Ich wollte wissen, ob das Erlernen dieser „ethnischen“ Tänze einer anderen Kultur eher eine destabilisierende, als eine stabilisierende Wirkung auf meine Identität und mein Handlungsvermögen haben könnte. So geht es mir mit dem Tanz ganz allgemein, aber in diesem Fall wurde der Unterschied zwischen demjenigen, der einen kulturell spezifischen Tanz aufführt, und dem, was mit diesem Tanz vielleicht ausgedrückt werden soll, zu einem Raum, in dem man die widersprüchliche Dynamik der Identitäten aufspüren konnte. Aus ethischer Perspektive schien es richtig – ohne politisch korrekt zu sein – die Tänze vor Ort und nicht durch YouTube zu lernen, sich auf physischer Ebene, auf der Ebene der Verkörperung damit auseinanderzusetzen.

Sandra Noeth Sandra Noeth | Foto: privat Sandra Noeth: Diese Frage nach der Verantwortung entsteht auch auf der Ebene der Produktion und Präsentation von zeitgenössischem Tanz, wenn es um Finanzierungsmodelle geht, die an Nationalität und Staatsbürgerschaft gebunden sind. Ich denke zum Beispiel an verschiedene Wellen der Aufmerksamkeit, die um 2000 im Zusammenhang mit der damaligen EU-Politik verschiedene osteuropäische Länder fokussierten, oder an Programme in jüngerer Zeit, die in der Folge der politischen Unruhen dem arabischen Raum gewidmet waren. Ohne die positiven Auswirkungen dieser Initiativen in Abrede stellen zu wollen, möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass damit komplexe Ökonomien von Geld und Raum, von Sichtbarkeit und Ästhetik einhergingen. Die Herausforderung besteht darin, ein Bewusstsein für diese Dynamik in unserer Praxis zu erzeugen und nicht die Künstlerinnen und Künstler und deren Werk auf ihre repräsentativen Fähigkeiten zu reduzieren und zu symbolischen Werkzeuge zur Lösung politischer Probleme zu machen.

Will Rawls: Gibt es spezielle Methoden bei eurer Arbeit, um dem bei der bevorstehenden Tanzplattform Deutschland entgegenzuwirken? Methoden, die die Künstlerinnen und Künstler bei ihren eigenen Zweifeln im Umgang mit diesem Präsentationsrahmen unterstützen?

Sandra Noeth: Die wichtigste Entscheidung ist wahrscheinlich, sich auf eine begrenzte Auswahl von künstlerischen Arbeiten zu beschränken und damit mehr Raum für eine eingehende Auseinandersetzung mit jeder einzelnen zu schaffen. Zudem versuchen wir, Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen, indem wir als Jury sichtbarer und greifbarer werden. Wir wollen – wenn auch nicht auf unkritische Weise – neben den Künstlerinnen und Künstlern stehen und uns Zeit und Aufmerksamkeit nehmen, um mit ihnen in einen öffentlichen Dialog über ihre Werke und deren Kontextualisierung zu treten. Das sind kleine, aber wichtige Strategien, um die im Feld des zeitgenössischen Tanzes vorherrschenden Ein- und Ausschlussmechanismen zumindest zu adressieren.

Will Rawls: Und wie werdet ihr die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern unterstützen, die sich für Fragen der Identität und Selbstidentifikation interessieren? In den US-Medien bekommt man häufig den Eindruck, dass wir keine Nachbarn hätten. Uns fehlt ein Sinn für Grenzen, und die „American experience“ wird immer selbstzentrierter aber und auch immer verallgemeinernder. Auch wenn unsere nationale Sicht beschränkt sein mag, widerstrebt mir dennoch die Ansicht, dass sich für ethnische Fragen zu engagieren oder vielleicht auch davon besessen zu sein, Komplexität im Diskurs, in der Kunst, nicht vereinbaren lassen. Wir erleben in unserem Land ein derart sichtbares Wiederaufflammen rassistischer Gewalt. Diese basiert auf vielen strukturellen Faktoren, von denen einer die ungerechte Bewertung und Einschätzung schwarzer Menschen in der Massenkultur ist. Aus meiner Sicht sind deshalb in allem, was sich mit Sichtbarkeit und Repräsentation auseinandersetzt, wie das Theater, diese rassistischen Anteile strukturell eingelagert. Dieser Gedanke führt vielleicht zu unserer gemeinsamen Frage nach der Abstraktion: Können wir es uns leisten, in unseren Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten abstrakt zu sein? Oder können wir es uns leisten, als Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren abstrakt zu bleiben? Wo liegt die moralische Verantwortung im Umgang mit Abstraktion?

Sandra Noeth: Wie gehst Du mit diesem Spannungsfeld in Deiner künstlerischen Praxis um?

Will Rawls: Ich versuche, sowohl Stellung zu beziehen als auch Dinge unkommentiert zu lassen. Bei meinem Solostück Personal Effects arbeite ich oft mit einem Kapuzenshirt. Die Kapuze ist zu einem Merkmal von Urbanität geworden, das sich in den USA, aber auch anderenorts, mit einem Erstarken rassistischer Tendenzen überschneidet. Doch bei dem Solostück ist die Kapuze auch ein Material und etwas, das mithilfe der Choreografie mobilisiert und gedehnt werden kann in Bezug auf seine Bedeutung und Funktion.

Sandra Noeth: Sind das Details in Deiner Arbeit, die sich potenziell auf bestimmte Identitäten oder Communities in den USA beziehen und diese mobilisieren, oder etwas, das Du anpassen würdest, wenn Du das Stück außerhalb der USA aufführst?

Will Rawls: Da bin ich mir nicht sicher. Ich versuche, eine Poetik zu ergründen, die mit der Prekarität des Körpers zusammenhängt, der von anderen ausgeschlossen, nationalisiert und auch abstrahiert worden ist.

Sandra Noeth: Ebenso scheint die Tanzplattform Deutschland – unwillentlich – in eine problematische und befremdliche Resonanz mit den aktuellen Geschehnissen in Deutschland zu treten. Mit den nach Europa kommenden Flüchtlingen gibt es neben den positiven Reaktionen und dem Netzwerk an Unterstützung auch unglaubliche Akte der Gewalt und Furcht, die Hass schüren und Bilder und eine Rhetorik entstehen lassen, die uns allen wohl vertraut ist. Im Hinblick auf das, was Du als „moralische Verantwortung“ definiert hast und vor dem Hintergrund der europäischen und auch globalen Realität: Was ist die Verantwortung und der Handlungsauftrag eines Projekts, das sich Tanzplattform Deutschland nennt?

Will Rawls: Gute Frage. Es ist ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos nationaler Grenzen repräsentiert. Und wenn die Ländergrenzen Europas durch die Machtspiele der Einwanderungspolitik so explizit durchlässig gemacht und durchdrungen werden, dann steht die Berechtigung der Idee einer „deutschen“ Plattform auf dem Prüfstand. Wie kann die Verlagerung und das Verlassen eines Ortes für eine Künstlerin oder einen Künstler als eine Art der Hinterfragung eines deutschen – oder jeglichen – nationalen Gestus produktiv sein?

Sandra Noeth: Neben Ländergrenzen, sichtbaren, nachvollziehbaren, materiellen und bürokratischen Grenzen, werden in nationalen Kontexten auch nicht materielle Grenzen wirksam. Grenzen und Hürden in Form von Zensur und Selbstzensur beeinflussen sowohl Künstlerinnen und Künstler als auch Kuratorinnen und Kuratoren sowie Institutionen in ihren Entscheidungen. Was also wird innerhalb eines nationalen Kontextes akzeptiert in Bezug auf Kunst, Ästhetik oder Bewegungssprache? Was sind die praktischen Konsequenzen unserer Entscheidungen? Wie weit können wir gehen? Wie weit gehen wir tatsächlich?

Will Rawls: Ja, diese Vorstellung, man müsse ständig eine Art Monitor mit sich tragen, der überwacht, ob das eigene Tun, die eigene Ästhetik, angebracht sind. Ich glaube, mein unbehagliches Verhältnis zu diesen Machtstrukturen öffnet für mich einen produktiven Raum, um zu agieren. Dieses Unbehagen, das sich auch in der Arbeit anderer Künstlerinnen und Künstler politisch und ästhetisch ausdrückt, ist aufschlussreicher für mich als Projekte, die sich ohne Schwierigkeiten durch Institutionen und bestehende ästhetische Narrative bewegen.

Sandra Noeth: Ich denke zurück an die Anfänge des modernen Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an Projekte, die hauptsächlich von Europäern und US-Amerikanern durchgeführt wurden und darauf abzielten, ein orientalisches oder afrikanisches Vokabular aufzunehmen und in den Westen bringen: Wer hat das Recht zu sprechen, wer hat das Recht aufzutreten, und wem gehören welche Bewegungen und welche Symbolik? Ich glaube, diese Prozesse der Internalisierung einer Ästhetik haben immer noch großen Einfluss. Wie können wir ein gespanntes und komplexes Verhältnis zu dieser Dynamik aufrechterhalten und einen Tanz kultivieren, bei dem es nicht so sehr darum geht, Antworten zu präsentieren, sondern der weiterhin Zuschreibungen von Identität in einen destabilisierenden oder pluralen Modus versetzt?

Will Rawls: Das ist ein Misstrauen, das man unbedingt kultivieren muss. Ich kuratiere 2016 eine Plattform in New York – das Danspace Project. Zusammen mit Ishmael Houston-Jones erforsche ich die Auswirkung von Aids auf die Tanzcommunity sowie die direkten, nicht linearen Folgen von Aids auf die Vielfalt queerer Performancekultur heute. Wir denken da an eine Art Erzählprogramm, das sich mit Erinnerung beschäftigt und sich dem fiktionalisierenden Potenzial der Geschichte zuwendet. Aids führte zu einem großen Verlust an Menschen, Archiven, Ideen und Infrastruktur, und nun sind wir hier, in diesem Moment. Wie füllen wir die Lücke? Sich Fiktion und Fakten zuzuwenden scheint ein Weg des produktiven, poetischen Umgangs mit der Aids-Epidemie zu sein, der zugleich Aufmerksamkeit für ihre auch heute nach wie vor beharrliche Präsenz schafft.

Sandra Noeth: Ja, wie erhalten wir die Narrative? Und warum erhalten wir sie? Dieses andauernde Bedürfnis, zu fiktionalisieren, adaptieren, korrigieren, das sich auch auf das brüchige Verständnis von Nation bezieht …

Will Rawls: Wie wäre es, wenn die Tanzplattform Deutschland den Beteiligten die Möglichkeit gäbe, die Plattform von innen heraus neu zu erzählen – Geschichten aus der Plattform heraus entstehen zu lassen und die starre Vorstellung von Nationalität aufzuheben? Das wäre doch nachbarschaftlich.
 

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit der Tanzplattform Deutschland 2016, er erscheint zeitgleich in der Broschüre der Tanzplattform.

Tanzplattform Deutschland 2016
02.–06. März 2016, Mousonturm, Frankfurt