Lesewettstreit „Wortspiele“
Texte auf der Teststrecke

Das Festival „Wortspiele“ zieht junge Leute an;
Das Festival „Wortspiele“ zieht junge Leute an; | Foto (Ausschnitt): © Klaus Kindermann

Das Festival für junge Literatur „Wortspiele“ bringt in München und Wien Debüts und Neuerscheinungen von Nachwuchsautoren auf die Bühne. Es spricht vor allem ein junges, großstädtisches Publikum an.

Drei Abende, 18 junge Autorinnen und Autoren, die im Lesewettstreit gegeneinander antreten – so lautet das Konzept der Wortspiele. An einem der schönsten Plätze Münchens, dem direkt an der Isar gelegenen historischen Muffatwerk, durch das sonst die Sounds angesagter Bands und DJs wabern, kürt das Publikum nach jeweils sechs Lesungen seinen Tagessieger. Funktioniert dieses aus der Slam-Poetry bekannte Format auch bei „hoher Literatur“? Unter den 18 Autoren befanden sich 2016 zehn Debütanten, weitgehend unbekannte Namen im Literaturbetrieb. Das traditionelle Lesepublikum fühlte sich nicht angesprochen, dafür kamen junge Leute, die sonst wohl eher zu den Konzertgängern zählen. Das Ambiente passte zur Zielgruppe: Auf zwei riesigen Projektionswänden leuchteten die Cover der Bücher, ein DJ beschallte vor, nach und zwischen den Lesungen die Szene.

Stipendium für die Villa Aurora

Es sind bekannte literarische Publikumsverlage aus dem deutschsprachigen Raum, die bei den Wortspielen ihre neuen Autoren mit frisch erschienen Texten auf die Teststrecke schicken. Wenig später dreht das Festival eine zweite Runde in Wien, unter Mithilfe der Literaturzeitung Volltext. Besonderheit in München: Der Bayerische Rundfunk stellt nicht nur die routinierten Moderatoren, sondern lobt am Ende auch den attraktiven Hauptpreis aus – einen Geldpreis von 2.000 Euro sowie ein Stipendium in der Künstlerresidenz Villa Aurora in Los Angeles . Ein Aufenthalt im Haus des von den Nationalsozialisten vertriebenen Münchener Schriftstellers Lion Feuchtwanger ist der Traum junger Autoren. Wahr wurde er 2016 für Katharina Winkler, eine in Berlin lebende Österreicherin, deren Roman Blauschmuck (Suhrkamp-Verlag) in sozialen Netzwerken eifrig kommentiert und gelobt wird. Ein seltener Fall von Einigkeit unter Jury und Publikum, denn Winkler wurde auch zur Siegerin des ersten Abends gewählt. Man merkte es dem Text positiv an, dass sich die Autorin Zeit ließ, eine angemessene Sprache für die authentische Geschichte der jungen Kurdin Filiz zu finden: Sie wird mit 15 Jahren verheiratet, muss schwerste Landarbeit verrichten, bekommt Kinder und wird von ihrem Mann immer wieder misshandelt – daher der auf Hämatome anspielende Titel. Schließlich flieht sie, um in Europa ein eigenständiges Leben beginnen zu können.

Winklers Buch ragte aus einer ganzen Reihe von Titeln heraus, die sich bei den Wortspielen den Themen Flucht, Vertreibung und Migration verschrieben hatten. Pierre Jarawan erzählt in Am Ende bleiben die Zedern (Berlin-Verlag) die Geschichte seiner libanesischen Eltern, die vor zehn Jahren nach Berlin kamen. Daniel Zipfel berichtet in Eine Handvoll Rosinen (Kremayr & Scheriau) aus der Perspektive eines Bundespolizisten und eines afghanischen Schleppers, die gemeinsame Sache machen. Rasha Khayat macht in Weil wir längst woanders sind ihre Suche zwischen den Kulturen ihres saudischen Vaters und ihrer deutschen Mutter zum Thema. Nicht immer reichen die sprachlichen Mittel, um die Komplexität des Geschehens, der Gedanken und Gefühle angemessen abzubilden. Gut gelingt das Cornelia Travnicek mit Junge Hunde (DVA). Sie versetzt sich in die Rolle eines chinesischen Adoptivsohns deutscher Eltern, der erstmals in sein Herkunftsland reist. Im weiteren Sinn zum Thema gehört auch das Buch des Münchener Autors Björn Bicker Was glaubt ihr denn (Antje Kunstmann Verlag), Gewinner des zweiten Abends. Er  lässt in antiker Manier vielstimmige Chöre auftreten: Muslime, Christen, Nicht-Gläubige.

Verändertes moralisches Koordinatensystem

Exakt die Hälfte der Titel des Wortspiele-Festivals 2016 bezogen sich auf das Flüchtlingsthema, wie der Organisator und Ideengeber des Festivals, Johan de Blank, hervorhob. Deutlich wird daran, wie sehr dieses Thema das moralische Koordinatensystem verändert hat. Aber es gibt auch eine andere Hälfte: Beziehungsgeschichten wie die von Lena Gorelik (Null bis unendlich, Rowohlt Berlin) und Sandra Weihs (Das grenzenlose Und, Frankfurter Verlagsanstalt) oder eine Krimi-Parodie von Jakob Nolte (Alff, Matthes & Seitz Berlin). Die groß angelegte Dystopie Die Verteidigung des Paradieses (S. Fischer) von Thomas von Steinaecker spielt unter den wenigen Überlebenden eines durch Sonnensturm verheerten Deutschlands und kommt sprachlich geradezu gravitätisch daher. Von Steinaecker erhielt den Publikumspreis des dritten Abends. Die erst seit 1996 auf Deutsch schreibende Ukrainerin Marjana Gaponenko erhielt 2013 den Chamisso-Preis. Sie beweist auch in Das letzte Rennen (C.H. Beck), dass sie eine Erzählerin mit ganz eigenem Tonfall ist. Wien ist der Schauplatz, es geht um Pferde, Pferderennen, Fiaker und eine fatale Vater-Sohn-Beziehung. Gaponenko präsentierte einen der wenigen amüsanten Texte in einer ansonsten doch sehr ernsten Runde.

Leider mussten Antonia Baum (Tony Soprano stirbt nicht, Hoffmann und Campe) und Kathrin Wessling (Morgen ist es vorbei, Luchterhand Literaturverlag) ihre Auftritte am letzten Abend wegen Krankheit absagen. Für sie sprang der Münchner Autor Fridolin Schley ein und setzte mit Die Ungesichter (Allitera-Verlag) außer Konkurrenz den Schlusspunkt. Hier kam das Festival wieder auf sein bestimmendes Thema zurück. Schley schreibt über die Erlebnisse mit einer jungen Frau aus Somalia, für die er die Patenschaft übernommen hat. Bei aller Düsternis setzte dabei wenigstens ihr Name ein Zeichen: „Amal“ bedeutet im Deutschen „Hoffnung“.