Portofrei
Wie politisch sollen Künstler heute sein?

Portofrei #2 Runde 1
Der Künstler und die Politik – ein Balanceakt? | Illustration: © Bernd Struckmeyer

Zeitgenössische Kunst in Europa ist gesellschaftlich relevant. Doch wie verwahrt sie sich der politischen Vereinnahmung? Darüber diskutieren: Joseph Young, Klangkünstler, belit sağ, Videokünstlerin, und Via Lewandowsky, Bildender Künstler – und Sie können mitmachen! Schreiben Sie uns Ihre Meinung und Ihre Fragen: ins Kommentarfeld dieser Seite oder auf Facebook und Twitter unter #portofrei. Moderatorin Geraldine de Bastion bringt Ihre Beiträge mit in die Debatte ein.

Eine Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft der Bildenden Künste.

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29. März  2019   |   Via Lewandowsky
Via Lewandowsky Via Lewandowsky | Foto: Rainer Gollmer Man könnte einerseits sagen, dass Rituale, kritische Distanz oder Nähe im Umgang mit den von mir bearbeiteten Themen aufgrund der Spontanität, der Diversität und der unvorhersehbaren Wirkungsweisen künstlerischer Praxis mit ihren unterschiedlichen Arbeitsprozessen und den schwer steuerbaren Folgeereignissen eher selten sind. Jedes Thema wird mit offenen Armen empfangen und ohne Vorurteile in der kreativen Mühle aufgerieben, in seine Bestandteile zerlegt und entsprechend der jeweils notwendigen Strategie zu einem persönlichen Gegenstand gemacht, zu einem persönlichen Thema umformuliert.

Andererseits gibt es durchaus Methoden der Auseinandersetzung und der Annäherung an Themen und Inhalte, die immer wiederkehren und letztlich dann auch meine künstlerische Praxis ausmachen und mich zu bestimmten Ergebnissen führen.

Sehen Sie den kompletten Beitrag von Via Lewandowsky – diese Woche als Video:
 

 
26. März 2019   |   Joseph Young
Joseph Young Joseph Young | Foto: Joseph Young Wenn wir ein positives Bild der Zukunft gestalten möchten, dann müssen wir uns zunächst fragen, welche Art von Gesellschaft wir erschaffen möchten. Wir sind uns in unserer eigenen kulturellen Echokammer wohl einig, wie diese aussehen könnte: keine Grenzen, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung et cetera.

Das Problem ist nur, dass die Menschen in Europa diese Utopie derzeit nicht unterstützen.

Sehen Sie die ganze Antwort von Joseph Young – diese Woche als Video:
 
23. Januar 2019   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Zum Abschluss unseres Austausches möchte ich gerne mehr darüber erfahren, wie Sie als Künstler persönlich mit dem Balanceakt der kritischen Distanz und der kritischen Nähe umgehen – und wie sie zu ihren persönlichen „Present Utopias“ kommen, von denen Joseph Young spricht.

Mich interessiert, ob Sie bestimmte Methoden, Rituale oder Prozesse in ihrer Arbeit nutzen, um zu überprüfen, ob sie genug Nähe und Distanz zu einem Thema haben.

Sehen Sie den kompletten Beitrag von Moderatorin Geraldine de Bastion – diese Woche als Video:
 

In Kürze antworten an dieser Stelle belit sağ und Via Lewandowsky – ebenfalls in Videobeiträgen. 
7. Januar 2019   |   belit sağ
belit sağ belit sağ | Foto: belit sağ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Tatsache, dass man gegen etwas ist, der erste Schritt zum eigenen politischen Bewusstsein ist. Wenn sich eine Bewegung gründet, kommen hier viele Interessengemeinschaften zusammen, die alle gegen eine bestimme Sache aufbegehren. Wenn diese Bewegung aber in dieser Position verharrt und nur einfach gegen etwas ist, dann wächst und verändert sich nichts mehr. Dies hat zur Folge, dass sie sich entweder auflöst oder eine unterdrückende Struktur annimmt und damit genau jene Verhältnisse widerspiegelt, gegen die man eigentlich gerichtet war.

Eine Bewegung wird also erst zu einer solchen, wenn sie anfängt, Räume und Möglichkeiten zu schaffen, ihre Überzeugungen sowohl von innen als auch von außen nährt und die Menschen in ihrem direkten Umfeld unterstützt. Das ist der Moment, in dem die Bewegung der Konfrontation mit der Wirklichkeit standhalten muss.

Manchmal sollte man sehr nah an seinem Objekt dran sein, oftmals ist aber auch Distanz notwendig.

In dem Zitat von Rancière interpretiere ich den Begriff „Abstand” sowohl als Unterschied als auch als Nähe. Man braucht in seiner Arbeit einen gewissen kritischen Abstand, egal, welches Thema man behandelt, aber ich finde es enorm wichtig, diesen Abstand immer wieder neu zu definieren. Manchmal sollte man sehr nah an seinem Objekt dran sein, oftmals ist aber auch eine gewisse Distanz notwendig. Es ist eine der Stärken der Kunst, diesen Bereich immer wieder neu abzustecken.

Problematisch wird es allerdings, wenn Künstlerinnen und Künstler anfangen, sich mit bestimmten Bewegungen zu identifizieren und dabei ihre Kritikfähigkeit verlieren, was für die Bewegung und den Künstler gleichermaßen eine Gefahr darstellt. Schwierig wird es auch, wenn der Abstand so groß wird, dass er als Desinteresse interpretiert werden kann und die eigene Haltung nicht mehr aufrichtig wirkt, weil die kritische und praktische Auseinandersetzung abhandenkommt.
 
3. Januar  2019   |   Via Lewandowsky
Via Lewandowsky Via Lewandowsky | Foto: Rainer Gollmer Es ist immer auch eine moralische und ethische Frage, die jedes Mal neu beantwortet werden muss. Vor allem dann, wenn die Arbeit nicht mehr nur als Gedanke, sondern schon als realisiertes Werk ihre Reise durch die Zeiten angetreten hat. Aus einer Ausstellung 2007 in Beijing sollte ich meine Arbeit Als Stalin weinte entfernen. Als ich mich weigerte, wurde die Ausstellung geschlossen.

Der mit mir ausstellende chinesische Künstler trug zwar die Entscheidung mit, war aber dennoch wenig begeistert. Die Resonanz in den deutschen Medien war unverhältnismäßig stark im Vergleich zu diesem marginalen Fall künstlerischen Ungehorsams. Den meisten Erfolg feierte nun die Arbeit bei einem Publikum weit entfernt vom Ausstellungsort. Der ursprünglich kritische deutsch-chinesische Dialog zwischen den Künstlern spielte dabei kaum noch eine Rolle.

Eine der größten Herausforderungen besteht darin, sich der sanften Verführung des Opportunismus zu widersetzen.

In einem anderen Fall schaffte es eine Arbeit erst gar nicht bis zum Publikum. Ein deutsches und später auch ein französisches Museum hat es aus politischen Gründen einfach abgelehnt, meine Arbeit Brutkasten auszustellen: eine umgebaute Kuckucksuhr, aus der anstelle des Kuckucks stündlich ein Muezzin zum Gebet ruft.

Die Angst vor einem Publikum, was nicht mehr so homogen und westlich zentriert scheint, hatte schon längst die kuratorische Agenda bestimmt. Meine ironische Kritik an der Angst vor Überfremdung kam praktisch schon zu spät. Das hinterläßt Spuren und im besten Fall versteckt man seine kritischen Botschaften noch besser. Eine der größten Herausforderungen für den Künstler besteht nun darin, sich der sanften Verführung des Opportunismus zu widersetzen.
2. Januar 2019   |   Joseph Young
Joseph Young Joseph Young | Foto: Joseph Young Die Erschaffung dessen, was ich „Utopien der Gegenwart“ nennen würde, ist der Modus Operandi, der uns deutlich von der Welt trennt, in der wir leben. Demnach bilden wir den Status Quo nicht ab, sondern hinterfragen diesen. Indem wir uns eine gerechte Welt vorstellen und diese auch leben, können Künstler wirklich etwas bewirken – ohne dabei auf die Entwürfe unserer politischen Institutionen zu warten.

Dies ist eine „Art, in seiner eigenen Gegenwart zu leben, statt die Umsetzung seiner Ideale immer wieder zu vertagen“: Dabei setzen wir das um, was der marxistische Kulturtheoretiker Herberte Marcuse meint, wenn er davon redet, dass „die Kunst verspricht, transzendent  zu sein“.

Indem wir uns eine gerechte Welt vorstellen und diese auch leben, können Künstler wirklich etwas bewirken.

Der Ausdruck von Schönheit, der im Post-Modernismus zu Unrecht abgetan wurde, ist unsere Art, eine revolutionäre Vorstellungskraft zu erschaffen. Wenn wir diese Wahrheit in unseren Werken ausdrücken können, dann können wir damit eine symbolische Sehnsucht nach ihrer Verwirklichung schaffen. Ranciere hat auch gesagt, Autonomie sei eine „Form des Denkens, Handelns und der Organisation, die frei von dem Gedanken der Ungleichheit ist“. Für mich ist dies die perfekte Beschreibung der Ethik eines Künstlers des 21. Jahrhunderts. Auf mich trifft dies jedenfalls zu, und ich denke, dass auch die anderen Künstlerinnen und Künstler dieser Debatte dem zustimmen werden. 

belits Freunde, die sich für Menschenrechtsorganisationen engagiert haben, haben dies aus einer autonomen Position heraus getan, und ihre Handlungen waren ganz klar politisch. Damit haben sie auf eine weitere richtige Art auf die Krise der heutigen Zeit reagiert. Natürlich gibt es auch Künstlerinnen und Künstler, die sich nur mit Trump und Jesus beschäftigen, diese sind jedoch zum Glück nur eine Ausnahmeerscheinung in der Kunstszene.
11. Dezember 2018   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Joseph Young regt an, dass Europa eine Vorreiterrolle einnehmen könnte, indem man „Verbindungen zwischen der Kunstszene und anderen Aktivisten schafft und sozusagen als Ansprechpartner für Künstlerinnen und Künstler dient, die sich über verschiedene Kampagnen informieren und diese unterstützen möchten“. Genau das ist es, was wir heute brauchen.

Ich habe mich eingehend mit politischen Bewegungen beschäftigt: Derzeit stiften etwa die Proteste der „Gelbwesten” viel Verwirrung. Dahinter steckt ein sehr interessantes Phänomen: Offenbar ist es möglich, in unserer angeblich von Informationsflut und politischer Apathie gezeichneten Gesellschaft die Massen zu mobilisieren, ohne ein konkretes Ziel definiert zu haben. 

Wenn man einfach nur gegen etwas ist, ist man noch lange nicht politisch.

Es ist einerseits interessant, aber gleichzeitig auch sehr beängstigend zu sehen, wie die Leute vehement gegen den Status Quo rebellieren, ohne eine Vision zu haben, wie man die Gesellschaft der Zukunft für alle positiv gestalten kann. In einem der Kommentare unter unseren Social Media Posts hieß es, jeder Mensch sollte politisch aktiv sein. Dem kann ich nur beipflichten; jeder sollte seiner Bürgerpflicht nachkommen, wählen gehen und sich für unsere Demokratie engagieren. Wenn man aber einfach nur gegen etwas ist, ist man meiner Meinung nach noch lange nicht politisch. Politisch ist man, wenn man in einer Weise aktiv wird, wie es etwa belit sağs Freunde tun. Was meinen Sie dazu?

Ihre bisherigen Antworten geben mir zu verstehen, dass Sie alle im Grenzbereich zwischen Aktivismus und Kunst tätig sind. Jacques Rancière hat einmal gesagt, Kunst sei „nicht politisch durch die Weise, wie sie die Strukturen der Gesellschaft, die Konflikte und Identitäten der sozialen Gruppen darstellt. Sie ist politisch gerade durch den Abstand, den sie in Bezug auf diese Funktionen nimmt.“ Wie stellen Sie persönlich sicher, dass Sie genügend Abstand einhalten, um Ihrer Kunst jene gesellschaftskritische Funktion zuzuteilen, die ihr Ihrer Meinung nach zusteht?
28. November 2018   |   belit sağ
belit sağ belit sağ | Foto: belit sağ Die Situation, die wir momentan erleben, ist wirklich traurig. Daher finde ich es gut, dass überhaupt danach gefragt wird, wo diese Solidarität ihren Ausdruck findet. Für mich äußert sich diese in einer ständigen Suche, einem nie endenden lebenslangen Wunsch, neue Formen und Potentiale ausfindig machen zu wollen, um diesen Ausdruck stets wieder neu und anders zu formulieren.

Das Ganze ist also ein dynamischer Prozess, der sich immer wieder neu definiert. Solidarität bedeutet etwas Dynamisches und sollte daher auch dynamisch praktiziert werden. Viele meiner Freunde, die Aktivisten sind und strikt gegen den Staat waren und sich stets weigerten, mit irgendwelchen staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, sind in den letzten Jahren ans Mittelmeer gefahren, um dort humanitäre Arbeiten zu leisten und da zu helfen, wo die Regierung versagt. Die Dringlichkeit verschiedener Situationen hat uns dazu gebracht, darüber nachzudenken, was Aktivismus eigentlich bedeutet, und wir haben den Begriff neu definiert. Das gleiche gilt für die Solidarität.

Internationale Solidarität fällt nicht vom Himmel, wir müssen sie mit unseren eigenen Händen erschaffen.

Ich glaube allerdings, dass sich ein solcher Ausdruck der Solidarität in der Kunst nur schwer finden lässt. Das hat nichts mit Pessimismus zu tun, ich betrachte das Ganze eher aus einem realistischen Blickwinkel, der jedoch immer noch von einem steten Bemühen gekennzeichnet ist, diese Formen der Solidarität zu finden. Es gibt viele Gruppen und Initiativen, die wichtige Arbeit leisten. Vielleicht wäre es das Beste, so wie Geraldine es in ihrer Frage formuliert, alle diese kleinen autonomen Gemeinschaften in einem größeren übergeordneten Ganzen miteinander zu verbinden, sprich, sich untereinander besser zu vernetzen und Wissen auszutauschen.

Vor ein paar Jahren habe ich bei einer Kampagne mitgemacht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Nähfabriken mit Auftraggebern aus verschiedenen asiatischen Ländern zusammengebracht hat, um gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu schaffen, in denen massenweise Ware für den europäischen Markt hergestellt wird. Das Besondere an dieser Kampagne war, dass sie die Bemühungen in verschiedenen Ländern unter einem Dach zusammengefasst und somit gezeigt hat, dass dieselben Prozesse an unterschiedlichen Orten zwar nicht gleichzeitig stattfinden, aber nach einem vergleichbaren Muster ablaufen. Solche Bestrebungen können nur zu etwas führen, wenn man sein Wissen und seinen Erfahrungsschatz miteinander teilt. Das gilt für die Kunst: Auch hier können wir viel voneinander lernen. Internationale Solidarität fällt nicht vom Himmel, wir müssen sie mit unseren eigenen Händen erschaffen.
 
21. November  2018   |   Via Lewandowsky
Via Lewandowsky Via Lewandowsky | Foto: Rainer Gollmer Ist nicht schon die kleinste Einheit künstlerischer Solidarität das Künstlerpaar? Praktizieren Künstlerkollektiv, die Geistesverwandten, die Interessensgemeinschaften und so weiter nicht schon immer unterschiedliche Formen künstlerischer Solidarität? Jenseits davon ist es aber schon erstaunlich, dass es unter den Künstlerinnen und Künstlern eine so hohe Akzeptanz unsolidarischen Verhaltens gibt.

In keinem anderen Bereich der Gesellschaft treten in einer Berufsgruppe derart gravierend soziale Unterschiede auf. Da es keinen Leistungskatalog gibt, der eine Aussage über den Wert der getanen Arbeit macht, ist jeder für seinen künstlerischen Mehrwert selber verantwortlich. Es ist fast unmöglich, obwohl es sehr interessant wäre, sich hier über ethische Fragen Gedanken zu machen.

Im Kunstkontext selbst funktioniert Solidarität sehr gut.

Solidarität würde einerseits dringend gebraucht, andererseits widerspricht sie den Wirkungsmechanismen der Kunstwelt. Dennoch funktioniert im Kunstkontext selbst Solidarität sehr wohl. Viele Formen solidarischer Praxis haben sich als eine ritualisierter Form eine künstlerische Gestalt gegeben, in der das Wesen der Solidarität nicht mehr erkennbar ist. Für vieles gibt es außerdem staatliche Strukturen als Regulativ. Im Laufe der Jahre haben sich die unterschiedlichsten Organisationsformen in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern gebildet, die schon längst nicht mehr von den Künstlern selbst zu leisten wären.

Ob Krankenkasse, Ateliervermittlung, Aufträge staatlicher Bauträger, Urheberrecht- oder Ausstellungsvergütungen – dies sind in einem großen Teil europäischer Länder politische Instrumente solidarischer Maßnahmen jenseits marktliberaler Kräfte. Diese Strukturen gilt es zu stärken und zu schützen.
19. November 2018   |   Joseph Young
Joseph Young Joseph Young | Foto: Joseph Young Der Begriff „Festung Europa” macht es einem schwer, die Europäische Union als „Heldin“ zu sehen, wie belit es in ihrer vorherigen Antwort ausdrückte. Helden werden meiner Meinung nach überbewertet; was wir jetzt dringend brauchen, ist keine Idealisierung, sondern handfeste politische Reformen wie die Initiative DiEM25 sie für die EU-Wahlen 2019 fordert .

Im Organisationskomitee von DiEM25 sind viele Künstlerinnen und Künstler, daran sieht man, dass sich auch die Kunstszene immer mehr in politische Prozesse einbinden möchte. Ich möchte damit übrigens keine Werbung für DiEM25 machen, sondern nur ein Beispiel aufzeigen, wie Wandel konkret aussehen könnte.

 

Wir Künstler haben die Aufgabe, das zu schützen und auszuweiten, wofür Europa steht.

Die Europäische Union sieht sich von innen wie von außen mit Bedrohungen konfrontiert. Wir Künstler haben daher die Aufgabe, das zu schützen und auszuweiten, wofür Europa steht. Ja, wir müssen sehen, was im Namen der EU an deren Grenzen passiert, wir müssen aber genauso sehen, dass diese Grenzen ein Produkt des Nationalstaates sind und „Europa“ für gemeinsame Kultur und gemeinsame Werte hinsichtlich Gleichheit und Offenheit steht und leider gerade auch ein gemeinsames Problem in Sachen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit hat. Die Organisation European Alternatives, fordert, dass wir „kreative Kulturen unterstützen, die Dinge hinterfragen und grenzüberschreitend arbeiten”, eine Aufforderung, die vielleicht gar nicht so utopisch ist, wie sie klingt, sondern lediglich darauf hinweist, dass wir vor einer existentiellen Herausforderung stehen.

Es gibt viele Initiativen in ganz Europa, die offene Grenzen fordern, so auch die kleine Organisation Go Europe!, die mit ihrer Aktionstour Make Europe Greater! dafür sorgt, dass sich Menschen aus verschiedenen Teilen Europas persönlich begegnen. Die Initiativen IAA und Culture Action Europe könnten hier Vorreiter sein, indem sie Verbindungen zwischen der Kunstszene und anderen Aktivisten schaffen und sozusagen als Ansprechpartner für Künstlerinnen und Künstler dienen, die sich über verschiedene Kampagnen informieren und diese unterstützen möchten.

„Europa ist kein Ort, es ist eine Idee, und diese Idee ist unsere einzige Stärke“, schreibt Máriam Martinez-Bascuñán in El Paìs am 28.Oktober 2018.
 
7. November 2018   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Es macht mich traurig, dass ich dem Schlusssatz von belit sağs Antwort zustimmen muss. Schließlich sind die Ideale, von denen wir hier sprechen, eine Farce, denn Menschenrechte sind nur dann Menschenrechte, wenn sie für alle gelten und nicht nur für einige Auserwählte, die den richtigen Pass besitzen.

Es bleibt also die Frage: Gibt es noch ein Europa, das darüber hinausgeht? Gibt es ein Bild von Europa, das nicht von der momentanen Politik in Mitleidenschaft gezogen und herabgewürdigt wird? Und wenn ja, wo finden wir dieses Europa? 

Welche Art von internationaler Solidarität braucht die Kunst?

makeitclear.eu ist offenbar ein großartiges Beispiel für den Versuch, durch künstlerische Mittel und Aktionen international zu Solidarität aufzurufen. Wie können wir Frieden und Sicherheit schaffen und erhalten, wo Staat und internationale Gemeinschaft versagen? Wie könnte eine neue und gerechte Form der Solidarität genau aussehen? Welche Art von internationaler Solidarität braucht die Kunst für Themen wie Freiheit, Förderungen und andere Formen der Unterstützung, um dies in die Tat umzusetzen?

In den vergangenen Jahren haben sich diverse Bürgerrechtsorganisationen gebildet und Aufgaben übernommen, für die eigentlich der Staat zuständig ist und so etwa Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Bei meinen Recherchen bin ich auf Initiativen wie Glasgow Buzzcut und FromMe2You gestoßen; Projekte von Künstlern für Künstler, in denen Informationen ausgetauscht und Netzwerke zur Unterstützung aufgebaut werden.

Gibt es auch vergleichbare Formen von künstlerischer Solidarität? Und wie können wir einen solchen Austausch über Sprachgrenzen und verschiedene Ausdrucksformen hinweg fördern, um, wie Joseph Young es ausdrückt, eine Zukunftsvision anzubieten, die Hoffnung macht?
 
31. Oktober 2018   |   belit sağ
belit sağ belit sağ | Foto: belit sağ Ich bin der Meinung, dass künstlerisches Wirken Räume schaffen sollte, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, in denen Menschen sich begegnen und innehalten können. Viele Menschen sind Bedrohungen ausgesetzt, gerade in der heutigen Zeit.

Wir sollten uns fragen, welche schwierigen Aufgaben die Kunst derzeit erfüllen kann. Und welche Räume und Erfahrungsfelder – die momentan dringend gebraucht werden – sie schaffen kann. Die Kunst vermag es, Nischen und Schlupflöcher zu finden, denn sie unterliegt keiner Vorschrift. Oft ist es nur eine kleine Geste, die die Kunst politisch macht. 

Ich möchte, dass die Erschaffung von Kunst zu etwas Größerem beiträgt.

In der Zeit, in der wir leben, geht es darum, das zu tun, was man am besten kann. Ich möchte, dass die Erschaffung von Kunst zu etwas Größerem beiträgt. Ich möchte, dass die Kunst einmal in den Hintergrund und sich nicht selbst reißerisch ins Rampenlicht rückt, sondern einfach gemeinsam mit der Welt nachdenkt, statt diese zum Subjekt zu machen. In der heutigen Zeit sollte die Kunst die Rolle einer Mitverschworenen einnehmen.

Die Tatsache, dass die Europäische Union gefährdet ist und eine Verschlechterung der Gesamtsituation droht, sollte uns nicht vergessen lassen, wofür die EU eigentlich steht, was und wen sie ein- und ausschließt, wen sie verteidigt und wer es nicht wert ist, von ihr verteidigt zu werden. Vor allem sollten wir uns stets vor Augen führen, was an den Grenzen der EU passiert. Dort findet gerade im Namen des Schutzes der EU-Grenzen eines der größten Massensterben statt – und das nicht nur dank der Politik der äußerst rechts Gesinnten. Für einige Teile der Welt war die EU noch nie ein Sinnbild für Menschenrechte und Frieden.

Andererseits hat der Kampf gegen Ultra-Rechte längst begonnen. Menschen mit Migrationshintergrund, Arme, ethnische und religiöse Minderheiten, die LGBT-Gemeinschaft und Frauen auf der ganzen Welt erleben in ihrem Alltag Hass und Hetze. Eine Demo für Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union und an deren Grenzen ist daher von enormer Bedeutung. Gerade besteht die Gefahr, dass wir ein Heldenbild auf die EU projizieren, und dabei die Gewalt, die von der EU ausgeht, nicht mehr sehen.
 
30. Oktober 2018   |   Via Lewandowsky
Via Lewandowsky Via Lewandowsky | Foto: Rainer Gollmer Zweifellos kann und soll der Künstler eine Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Belange tragen, aber wieviel Engagement kann sich jeder Künstler leisten, ohne seine Freiheit und Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen? Die Instrumentalisierung von Kunst für politische Zwecke hat im vergangenen Jahrhundert Künstler und Kunstwerk zuweilen in einem schlechten Licht erscheinen lassen.

Dabei sind die Setzungen durch den Staat noch immer die stärksten politischen Statements der Kultur einer Gesellschaft. Diesen Widerspruch kann man an Gerhard Richters vier Gemälden Birkenau deutlich machen, die heute im Reichstag gegenüber seinen monochromen Farbtafeln in den Farben der deutschen Bundesflagge hängen. Für seinen Zyklus Birkenau fertigte Richter malerische Reproduktionen von Fotografien an, die ein Häftling heimlich von einem Sonderkommando in Auschwitz gemacht hatte. Richter überdeckte sie dann wieder mit der für ihn typischen abstrakten Malerei.

Die Bildende Kunst wird die Polarisierung der Gesellschaft als Schutzraum und Labor weiter begleiten und beobachten.

Die politische Wirksamkeit dieser Arbeit hängt nun in paradoxer Weise von der Bedeutung der Person des Künstlers und seinem Marktwert ab. Eine Diskussion um die Gründe und auch ihre Sinnfälligkeit eines solchen politischen Statements ist nun gar nicht mehr möglich. Viele Künstler haben genau damit ein Problem. Sie agieren auf einer ambivalenten Bühne zwischen zahllosen Möglichkeiten unterschiedlichster Kunstkonzepte. Und stecken damit in dem Dilemma, dass sich die Kunst selbst polarisiert, sich selbst zwischen politischem Aktivismus und marktorientiertem „L’art pour l’art“-Kanon aufreibt oder gleich als bigotte moralische Vormundschaft empfunden wird. 

Trotzdem wird auch weiterhin die bildende Kunst die Polarisierung der Gesellschaft als Schutzraum und Labor, als Instrument und Modell weiter begleiten und beobachten, wenn man sie in Ruhe lässt.
 
29. Oktober 2018   |   Joseph Young
Joseph Young Joseph Young | Foto: Joseph Young Künstler haben sich schon immer auf unterschiedlichste Weise in die Gesellschaft eingebracht, nicht zuletzt als aktive Bürger in ihrem direkten Umfeld. Für mich stellt sich gar nicht die Frage, ob Künstler sich politisch engagieren sollten, sondern wie?

Neulich hat ein Kritiker meiner Show Make Futurism Great Again („Macht den Futurismus wieder groß“) in der Estorick Collection in London meine Antwort auf die „Absurditäten des Kapitalismus“ als „enttäuschend“ bezeichnet, da „Proteste an sich ja inzwischen allesamt in Form eines Kunstprojekts daherkommen“.

Wir müssen einen Schritt weitergehen und eine Zukunftsvision anbieten, die Hoffnung macht.

Negative Kritik hin oder her, ich würde diese Aussage gerne umkehren und behaupten, dass dies nur belegt, wie gekonnt sich die Künstler bereits die Sprache und Ästhetik des politischen Protests angeeignet haben. Wir müssen nun noch einen Schritt weitergehen und eine Zukunftsvision anbieten, die Hoffnung macht.

Dazu sind zwei Dinge von Nöten: Mitgefühl und Ideologie. Mitgefühl, um dem Hass der populistischen Rhetorik etwas entgegenzusetzen und Ideologie, um Antworten auf die dringlichen Fragen unserer Zeit zu geben. Wir sehen gerade, wie sich der Faschismus wieder in Europa ausbreitet, und da reicht es nicht, wenn Künstler einfach den Status quo kritisch betrachten.

Mir gefällt in diesem Zusammenhang sehr die Arbeit der Künstlergruppe Keep it Complex. Diese widerspricht mit vehementer Stimme der Tendenz, komplizierte Dinge zu stark zu vereinfachen, wie es die Alt-right-Bewegung gerne tut. Meiner Meinung nach ist es die Pflicht eines jeden Künstlers, die Themen der Zeit zu „komplexifizieren“, um den Menschen dabei zu helfen, zu verstehen, welche Kernursachen den drängenden Themen unserer Zeit eigentlich zugrunde liegen.
 
18. Oktober 2018   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Unsere Demokratien und das Konzept der Europäischen Union stehen unter Druck. Doch die wachsenden populistischen, nationalistischen und autoritären Strömungen bringen auch eine neue Solidarität unter den Befürwortern der europäischen Ideen und den Verfechtern der Menschenrechte und des Friedens hervor.

Diese neue Solidarität konnte man unter anderem vergangenes Wochenende in Berlin bei der Demonstration #unteilbar beobachten, bei der fast 250.000 Menschen für Solidarität, das Recht auf Asyl, Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gingen. 

Die Erwartungshaltung an die Kunst, politisch zu sein, scheint heute stärker zu sein denn je.

Künstlerische Interventionen wie die grauen Gestalten beim G20-Protest in Hamburg im Sommer 2017 spielen eine wichtige Rolle bei solchen sozialen Bewegungen. Das Verhältnis zwischen Politik und Kunst wurde und wird viel diskutiert. Doch kann diese Debatte nie abgeschlossen werden, sondern sollte stattdessen kontinuierlich fortgeführt und reflektiert werden. Die Erwartungshaltung an die Kunst, politisch zu sein, scheint heute stärker zu sein denn je.

„Wenn die Kunst keine Politik macht, wer sonst?“, fragte im Sommer 2017 Documenta-14-Kurator Dieter Roelstraete seine Kunststudenten. Im heutigen Europa: Wie politisch kann und soll Kunst sein? Wie kann Kunst dazu beitragen, aus der zunehmenden Polarisierung in unserer Gesellschaft auszubrechen?
 

Es debattieren


belit sağ belit sağ | Foto: belit sağ belit sağ, Videokünstlerin und visuelle Künstlerin, lebt in Amsterdam. In Ankara studierte sie Mathematik, in Amsterdam audiovisuelle Kunst. belit sağ war Mitglied einer türkischen Videoaktivisten-Gruppe und Mit-Initiatorin von bak.ma, ein audiovisuelles Online-Archiv sozialer Bewegungen in der Türkei. Ihre Arbeiten wurden bereits bei der Documenta14 und internationalen Filmfestivals gezeigt.




Joseph Young Foto: Joseph Young Joseph Young ist Klangkünstler aus Großbritannien. Er ist Gründer der Twitter-Kampagne @artsforeu, die sich dafür einsetzt, dass Großbritannien in der EU bleibt. Joseph Youngs Arbeiten wurden unter anderem im Tate Modern und im Seoul Museum of Art gezeigt. Young arbeitet mit Klanginstallationen und Performances in Gallerien und im öffentlichen Raum.




Via Lewandowsky Foto: Rainer Gollmer Via Lewandowksy, geboren in Dresden, ist Bildender Künstler. Er arbeitet mit wechselnden Medien und ist vor allem für seine skulptural-installativen Arbeiten und seine Ausstellungsszenografien mit architektonischen Einflüssen bekannt. Seine Arbeiten im öffentlichen Raum und seine Performances haben nicht nur einen politischen Aspekt, sondern überlagern bewusst verschiedene Verständnisebenen.
 

Moderation

Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Geraldine de Bastion berät als Politologin öffentliche Institutionen, NGOs und Unternehmen zum Einsatz digitaler Technologien. Weltweit schätzen Netzaktivisten und Blogger ihre Expertise. Sie ist Mitglied der Digitalen Gesellschaft e.V., die sich für Grundrechte und Verbraucherschutz im digitalen Raum einsetzt. Alljährlich wirkt sie als gefragte Kuratorin und Moderatorin bei der internationalen Netzkonferenz re:publica.
 
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