Portofrei
Wie politisch sollen Künstler heute sein?
Zeitgenössische Kunst in Europa ist gesellschaftlich relevant. Doch wie verwahrt sie sich der politischen Vereinnahmung? Darüber diskutieren: Joseph Young, Klangkünstler, belit sağ, Videokünstlerin, und Via Lewandowsky, Bildender Künstler – und Sie können mitmachen! Schreiben Sie uns Ihre Meinung und Ihre Fragen: ins Kommentarfeld dieser Seite oder auf Facebook und Twitter unter #portofrei. Moderatorin Geraldine de Bastion bringt Ihre Beiträge mit in die Debatte ein.
Eine Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft der Bildenden Künste.
Andererseits gibt es durchaus Methoden der Auseinandersetzung und der Annäherung an Themen und Inhalte, die immer wiederkehren und letztlich dann auch meine künstlerische Praxis ausmachen und mich zu bestimmten Ergebnissen führen.
Sehen Sie den kompletten Beitrag von Via Lewandowsky – diese Woche als Video:
Das Problem ist nur, dass die Menschen in Europa diese Utopie derzeit nicht unterstützen.
Sehen Sie die ganze Antwort von Joseph Young – diese Woche als Video:
Mich interessiert, ob Sie bestimmte Methoden, Rituale oder Prozesse in ihrer Arbeit nutzen, um zu überprüfen, ob sie genug Nähe und Distanz zu einem Thema haben.
Sehen Sie den kompletten Beitrag von Moderatorin Geraldine de Bastion – diese Woche als Video:
In Kürze antworten an dieser Stelle belit sağ und Via Lewandowsky – ebenfalls in Videobeiträgen.
Eine Bewegung wird also erst zu einer solchen, wenn sie anfängt, Räume und Möglichkeiten zu schaffen, ihre Überzeugungen sowohl von innen als auch von außen nährt und die Menschen in ihrem direkten Umfeld unterstützt. Das ist der Moment, in dem die Bewegung der Konfrontation mit der Wirklichkeit standhalten muss.
Manchmal sollte man sehr nah an seinem Objekt dran sein, oftmals ist aber auch Distanz notwendig.
Problematisch wird es allerdings, wenn Künstlerinnen und Künstler anfangen, sich mit bestimmten Bewegungen zu identifizieren und dabei ihre Kritikfähigkeit verlieren, was für die Bewegung und den Künstler gleichermaßen eine Gefahr darstellt. Schwierig wird es auch, wenn der Abstand so groß wird, dass er als Desinteresse interpretiert werden kann und die eigene Haltung nicht mehr aufrichtig wirkt, weil die kritische und praktische Auseinandersetzung abhandenkommt.
Der mit mir ausstellende chinesische Künstler trug zwar die Entscheidung mit, war aber dennoch wenig begeistert. Die Resonanz in den deutschen Medien war unverhältnismäßig stark im Vergleich zu diesem marginalen Fall künstlerischen Ungehorsams. Den meisten Erfolg feierte nun die Arbeit bei einem Publikum weit entfernt vom Ausstellungsort. Der ursprünglich kritische deutsch-chinesische Dialog zwischen den Künstlern spielte dabei kaum noch eine Rolle.
Eine der größten Herausforderungen besteht darin, sich der sanften Verführung des Opportunismus zu widersetzen.
Die Angst vor einem Publikum, was nicht mehr so homogen und westlich zentriert scheint, hatte schon längst die kuratorische Agenda bestimmt. Meine ironische Kritik an der Angst vor Überfremdung kam praktisch schon zu spät. Das hinterläßt Spuren und im besten Fall versteckt man seine kritischen Botschaften noch besser. Eine der größten Herausforderungen für den Künstler besteht nun darin, sich der sanften Verführung des Opportunismus zu widersetzen.
Dies ist eine „Art, in seiner eigenen Gegenwart zu leben, statt die Umsetzung seiner Ideale immer wieder zu vertagen“: Dabei setzen wir das um, was der marxistische Kulturtheoretiker Herberte Marcuse meint, wenn er davon redet, dass „die Kunst verspricht, transzendent zu sein“.
Indem wir uns eine gerechte Welt vorstellen und diese auch leben, können Künstler wirklich etwas bewirken.
belits Freunde, die sich für Menschenrechtsorganisationen engagiert haben, haben dies aus einer autonomen Position heraus getan, und ihre Handlungen waren ganz klar politisch. Damit haben sie auf eine weitere richtige Art auf die Krise der heutigen Zeit reagiert. Natürlich gibt es auch Künstlerinnen und Künstler, die sich nur mit Trump und Jesus beschäftigen, diese sind jedoch zum Glück nur eine Ausnahmeerscheinung in der Kunstszene.
Ich habe mich eingehend mit politischen Bewegungen beschäftigt: Derzeit stiften etwa die Proteste der „Gelbwesten” viel Verwirrung. Dahinter steckt ein sehr interessantes Phänomen: Offenbar ist es möglich, in unserer angeblich von Informationsflut und politischer Apathie gezeichneten Gesellschaft die Massen zu mobilisieren, ohne ein konkretes Ziel definiert zu haben.
Wenn man einfach nur gegen etwas ist, ist man noch lange nicht politisch.
Ihre bisherigen Antworten geben mir zu verstehen, dass Sie alle im Grenzbereich zwischen Aktivismus und Kunst tätig sind. Jacques Rancière hat einmal gesagt, Kunst sei „nicht politisch durch die Weise, wie sie die Strukturen der Gesellschaft, die Konflikte und Identitäten der sozialen Gruppen darstellt. Sie ist politisch gerade durch den Abstand, den sie in Bezug auf diese Funktionen nimmt.“ Wie stellen Sie persönlich sicher, dass Sie genügend Abstand einhalten, um Ihrer Kunst jene gesellschaftskritische Funktion zuzuteilen, die ihr Ihrer Meinung nach zusteht?
Das Ganze ist also ein dynamischer Prozess, der sich immer wieder neu definiert. Solidarität bedeutet etwas Dynamisches und sollte daher auch dynamisch praktiziert werden. Viele meiner Freunde, die Aktivisten sind und strikt gegen den Staat waren und sich stets weigerten, mit irgendwelchen staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, sind in den letzten Jahren ans Mittelmeer gefahren, um dort humanitäre Arbeiten zu leisten und da zu helfen, wo die Regierung versagt. Die Dringlichkeit verschiedener Situationen hat uns dazu gebracht, darüber nachzudenken, was Aktivismus eigentlich bedeutet, und wir haben den Begriff neu definiert. Das gleiche gilt für die Solidarität.
Internationale Solidarität fällt nicht vom Himmel, wir müssen sie mit unseren eigenen Händen erschaffen.
Vor ein paar Jahren habe ich bei einer Kampagne mitgemacht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Nähfabriken mit Auftraggebern aus verschiedenen asiatischen Ländern zusammengebracht hat, um gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu schaffen, in denen massenweise Ware für den europäischen Markt hergestellt wird. Das Besondere an dieser Kampagne war, dass sie die Bemühungen in verschiedenen Ländern unter einem Dach zusammengefasst und somit gezeigt hat, dass dieselben Prozesse an unterschiedlichen Orten zwar nicht gleichzeitig stattfinden, aber nach einem vergleichbaren Muster ablaufen. Solche Bestrebungen können nur zu etwas führen, wenn man sein Wissen und seinen Erfahrungsschatz miteinander teilt. Das gilt für die Kunst: Auch hier können wir viel voneinander lernen. Internationale Solidarität fällt nicht vom Himmel, wir müssen sie mit unseren eigenen Händen erschaffen.
In keinem anderen Bereich der Gesellschaft treten in einer Berufsgruppe derart gravierend soziale Unterschiede auf. Da es keinen Leistungskatalog gibt, der eine Aussage über den Wert der getanen Arbeit macht, ist jeder für seinen künstlerischen Mehrwert selber verantwortlich. Es ist fast unmöglich, obwohl es sehr interessant wäre, sich hier über ethische Fragen Gedanken zu machen.
Im Kunstkontext selbst funktioniert Solidarität sehr gut.
Ob Krankenkasse, Ateliervermittlung, Aufträge staatlicher Bauträger, Urheberrecht- oder Ausstellungsvergütungen – dies sind in einem großen Teil europäischer Länder politische Instrumente solidarischer Maßnahmen jenseits marktliberaler Kräfte. Diese Strukturen gilt es zu stärken und zu schützen.
Im Organisationskomitee von DiEM25 sind viele Künstlerinnen und Künstler, daran sieht man, dass sich auch die Kunstszene immer mehr in politische Prozesse einbinden möchte. Ich möchte damit übrigens keine Werbung für DiEM25 machen, sondern nur ein Beispiel aufzeigen, wie Wandel konkret aussehen könnte.
Wir Künstler haben die Aufgabe, das zu schützen und auszuweiten, wofür Europa steht.
Es gibt viele Initiativen in ganz Europa, die offene Grenzen fordern, so auch die kleine Organisation Go Europe!, die mit ihrer Aktionstour Make Europe Greater! dafür sorgt, dass sich Menschen aus verschiedenen Teilen Europas persönlich begegnen. Die Initiativen IAA und Culture Action Europe könnten hier Vorreiter sein, indem sie Verbindungen zwischen der Kunstszene und anderen Aktivisten schaffen und sozusagen als Ansprechpartner für Künstlerinnen und Künstler dienen, die sich über verschiedene Kampagnen informieren und diese unterstützen möchten.
„Europa ist kein Ort, es ist eine Idee, und diese Idee ist unsere einzige Stärke“, schreibt Máriam Martinez-Bascuñán in El Paìs am 28.Oktober 2018.
Es bleibt also die Frage: Gibt es noch ein Europa, das darüber hinausgeht? Gibt es ein Bild von Europa, das nicht von der momentanen Politik in Mitleidenschaft gezogen und herabgewürdigt wird? Und wenn ja, wo finden wir dieses Europa?
Welche Art von internationaler Solidarität braucht die Kunst?
In den vergangenen Jahren haben sich diverse Bürgerrechtsorganisationen gebildet und Aufgaben übernommen, für die eigentlich der Staat zuständig ist und so etwa Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Bei meinen Recherchen bin ich auf Initiativen wie Glasgow Buzzcut und FromMe2You gestoßen; Projekte von Künstlern für Künstler, in denen Informationen ausgetauscht und Netzwerke zur Unterstützung aufgebaut werden.
Gibt es auch vergleichbare Formen von künstlerischer Solidarität? Und wie können wir einen solchen Austausch über Sprachgrenzen und verschiedene Ausdrucksformen hinweg fördern, um, wie Joseph Young es ausdrückt, eine Zukunftsvision anzubieten, die Hoffnung macht?
Wir sollten uns fragen, welche schwierigen Aufgaben die Kunst derzeit erfüllen kann. Und welche Räume und Erfahrungsfelder – die momentan dringend gebraucht werden – sie schaffen kann. Die Kunst vermag es, Nischen und Schlupflöcher zu finden, denn sie unterliegt keiner Vorschrift. Oft ist es nur eine kleine Geste, die die Kunst politisch macht.
Ich möchte, dass die Erschaffung von Kunst zu etwas Größerem beiträgt.
Die Tatsache, dass die Europäische Union gefährdet ist und eine Verschlechterung der Gesamtsituation droht, sollte uns nicht vergessen lassen, wofür die EU eigentlich steht, was und wen sie ein- und ausschließt, wen sie verteidigt und wer es nicht wert ist, von ihr verteidigt zu werden. Vor allem sollten wir uns stets vor Augen führen, was an den Grenzen der EU passiert. Dort findet gerade im Namen des Schutzes der EU-Grenzen eines der größten Massensterben statt – und das nicht nur dank der Politik der äußerst rechts Gesinnten. Für einige Teile der Welt war die EU noch nie ein Sinnbild für Menschenrechte und Frieden.
Andererseits hat der Kampf gegen Ultra-Rechte längst begonnen. Menschen mit Migrationshintergrund, Arme, ethnische und religiöse Minderheiten, die LGBT-Gemeinschaft und Frauen auf der ganzen Welt erleben in ihrem Alltag Hass und Hetze. Eine Demo für Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union und an deren Grenzen ist daher von enormer Bedeutung. Gerade besteht die Gefahr, dass wir ein Heldenbild auf die EU projizieren, und dabei die Gewalt, die von der EU ausgeht, nicht mehr sehen.
Dabei sind die Setzungen durch den Staat noch immer die stärksten politischen Statements der Kultur einer Gesellschaft. Diesen Widerspruch kann man an Gerhard Richters vier Gemälden Birkenau deutlich machen, die heute im Reichstag gegenüber seinen monochromen Farbtafeln in den Farben der deutschen Bundesflagge hängen. Für seinen Zyklus Birkenau fertigte Richter malerische Reproduktionen von Fotografien an, die ein Häftling heimlich von einem Sonderkommando in Auschwitz gemacht hatte. Richter überdeckte sie dann wieder mit der für ihn typischen abstrakten Malerei.
Die Bildende Kunst wird die Polarisierung der Gesellschaft als Schutzraum und Labor weiter begleiten und beobachten.
Trotzdem wird auch weiterhin die bildende Kunst die Polarisierung der Gesellschaft als Schutzraum und Labor, als Instrument und Modell weiter begleiten und beobachten, wenn man sie in Ruhe lässt.
Neulich hat ein Kritiker meiner Show Make Futurism Great Again („Macht den Futurismus wieder groß“) in der Estorick Collection in London meine Antwort auf die „Absurditäten des Kapitalismus“ als „enttäuschend“ bezeichnet, da „Proteste an sich ja inzwischen allesamt in Form eines Kunstprojekts daherkommen“.
Wir müssen einen Schritt weitergehen und eine Zukunftsvision anbieten, die Hoffnung macht.
Dazu sind zwei Dinge von Nöten: Mitgefühl und Ideologie. Mitgefühl, um dem Hass der populistischen Rhetorik etwas entgegenzusetzen und Ideologie, um Antworten auf die dringlichen Fragen unserer Zeit zu geben. Wir sehen gerade, wie sich der Faschismus wieder in Europa ausbreitet, und da reicht es nicht, wenn Künstler einfach den Status quo kritisch betrachten.
Mir gefällt in diesem Zusammenhang sehr die Arbeit der Künstlergruppe Keep it Complex. Diese widerspricht mit vehementer Stimme der Tendenz, komplizierte Dinge zu stark zu vereinfachen, wie es die Alt-right-Bewegung gerne tut. Meiner Meinung nach ist es die Pflicht eines jeden Künstlers, die Themen der Zeit zu „komplexifizieren“, um den Menschen dabei zu helfen, zu verstehen, welche Kernursachen den drängenden Themen unserer Zeit eigentlich zugrunde liegen.
Diese neue Solidarität konnte man unter anderem vergangenes Wochenende in Berlin bei der Demonstration #unteilbar beobachten, bei der fast 250.000 Menschen für Solidarität, das Recht auf Asyl, Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gingen.
Die Erwartungshaltung an die Kunst, politisch zu sein, scheint heute stärker zu sein denn je.
„Wenn die Kunst keine Politik macht, wer sonst?“, fragte im Sommer 2017 Documenta-14-Kurator Dieter Roelstraete seine Kunststudenten. Im heutigen Europa: Wie politisch kann und soll Kunst sein? Wie kann Kunst dazu beitragen, aus der zunehmenden Polarisierung in unserer Gesellschaft auszubrechen?
Es debattieren
belit sağ | Foto: belit sağ belit sağ, Videokünstlerin und visuelle Künstlerin, lebt in Amsterdam. In Ankara studierte sie Mathematik, in Amsterdam audiovisuelle Kunst. belit sağ war Mitglied einer türkischen Videoaktivisten-Gruppe und Mit-Initiatorin von bak.ma, ein audiovisuelles Online-Archiv sozialer Bewegungen in der Türkei. Ihre Arbeiten wurden bereits bei der Documenta14 und internationalen Filmfestivals gezeigt.
Foto: Joseph Young Joseph Young ist Klangkünstler aus Großbritannien. Er ist Gründer der Twitter-Kampagne @artsforeu, die sich dafür einsetzt, dass Großbritannien in der EU bleibt. Joseph Youngs Arbeiten wurden unter anderem im Tate Modern und im Seoul Museum of Art gezeigt. Young arbeitet mit Klanginstallationen und Performances in Gallerien und im öffentlichen Raum.
Foto: Rainer Gollmer Via Lewandowksy, geboren in Dresden, ist Bildender Künstler. Er arbeitet mit wechselnden Medien und ist vor allem für seine skulptural-installativen Arbeiten und seine Ausstellungsszenografien mit architektonischen Einflüssen bekannt. Seine Arbeiten im öffentlichen Raum und seine Performances haben nicht nur einen politischen Aspekt, sondern überlagern bewusst verschiedene Verständnisebenen.