Rosinenpicker | Literatur
Heimatsuche in einem kalten Land
Das Leben eines jungen geflüchteten Menschen kann erschütternd und brutal sein. Behzad Karim Khanis aktueller Roman spielt in einer deutschen Plattenbausiedlung der 1990er-Jahre. Er beleuchtet diese Lebenswelt mit eindringlicher Präzision und in poetischer Sprache.
Von Florina Evers
In den 1990er-Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, ordnet sich die Welt gerade neu. In Deutschland ist 1989 die Berliner gefallen. Anderes signalisiert Beständigkeit: Seit 1982 hat Helmut Kohl das Amt des Bundeskanzlers inne. In deutschen Wohnzimmern läuft samstagabends Wetten, dass? und sonntags Tatort. Aus den Radios tönen Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Die Ärzte. Die „Cool Kids“ jedoch hören längst amerikanischen Hip-Hop und Rap auf ihren Walkmans, später Discmans. Man träumt von Stabilität und Wohlstand, von europäischer Integration und von einer Zukunft ohne Krieg.
Es ist diese Ära, in die uns der deutsch-iranische Autor Behzad Karim Khani in seinem zweiten Roman Als wir Schwäne waren waren zurückführt. Bereits von den ersten Seiten an, die an den Sohn des Ich-Erzählers gerichtet sind, spürt man, dass dieser Roman noch persönlicher und poetischer geraten ist als sein preisgekröntes Debüt Hund, Wolf, Schakal (2022) – weil er viel näher an Khanis eigener Biografie angelehnt ist. Khani spricht darüber, wie seine eigene Vergangenheit zu einem „menschenfeindlichen Planeten“ wird, wenn er schreibt. Wie sieht es also auf diesem Planeten aus? Was passiert dort?
Kein Entgegenkommen, keine Verbundenheit
Nach der Flucht aus dem Iran zieht Reza mit seinen Eltern in einen Wohnblock im Ruhrgebiet. Wenn seine Mutter abends kocht, riecht die Wohnung nach Zimt und Datteln. Der Duft lockt die anderen Kinder aus der Siedlung an. Sie kommen zum Abendessen vorbei, geben Rezas Mutter eine Mark und bitten um Ketchup für den Reis. Reza fühlt sich gedemütigt, als wäre seine Mutter die Angestellte seiner frechen Schulkameraden. Sein Vater schaut hilflos zu. Ein möglicher Grund, warum dieses Abendritual sich ohne Einwände wiederholt, liegt in ihrer Herkunft:Aber wir (…) sind Perser. Man klopft nicht an unsere Haustür, fragt nach Essen und hört ein ‚Nein‘. Wir kennen kein ‚Kann ja jeder kommen‘, kein ‚Ich klopf ja auch nicht nachts an Türen‘, kein ‚Ich darf doch bitten‘. Unsere Sätze fangen nicht mit ‚Ich‘ an.
Noch nie hat es an der Schule Gewalt von dieser Qualität gegeben. Der Junge kommt fünf, sechs Wochen lang täglich in einer anderen Farbe zur Schule. Violett. Grün. Blau. Gelb. Rot. Orange. Danach bin ich King.
Gewalt ist kein Ausweg
Reza versucht, seinen Platz auf diesem „düsteren Planeten“ zu finden. Seine Mutter, die Psychologie studiert hat, blickt pragmatisch in die Zukunft und hofft auf bessere Zeiten für ihren Sohn. Sein Vater, der Dichter, ist in der Vergangenheit gefangen, geprägt vom Anblick seines kriegsgebeutelten Heimatlandes. Weder der Blick nach vorne noch der Blick zurück sind es, die Reza am Ende dabei helfen, durch die Gegenwart zu navigieren: Erst ist es die Gewalt, seine Rücksichtslosigkeit, die ihm Respekt im Viertel einbringt. Dann versteht er, dass er sich mit Gewalt zwar behaupten kann, dass sie ihm jedoch keinen Ausweg bietet – sie ist kein Raumschiff, die ihn auf einen anderen, lebenswerteren Planeten bringen kann. Diese Einsicht unterscheidet ihn von den anderen Jungs im Viertel. Die sitzen eine Haftstrafe nach der anderen ab, werden immer kruder und brutaler – auch weil sie nichts außer Gewalt vorgelebt bekommen haben. So zum Beispiel Seda, ein stiller, gleichzeitig hinterhältiger Junge aus der Siedlung, der zuhause der häuslichen Gewalt seines Vaters ausgesetzt ist:Die Wunden, die auf seinem Rücken kreuz und quer sein T-Shirt durchnässen, sind linienförmig. Sein Vater hat ihn mit dem Gürtel durchgepeitscht, als wollte er ihn durchstreichen.
Das Zitat ist ein gutes Beispiel für Khanis Sprache, die so körperlich ist, dass man die Gürtelhiebe fast am eigenen Körper spürt. Und andererseits ist da die Schönheit dieser Sprache, die selbst in der Brutalität Metaphern findet.
Mehr als immer dieselbe Antwort
Am Tiefpunkt entgeht Reza knapp der Gefängnisstrafe, lernt aus seinen Fehlern und durchbricht die Spirale der Gewalt, die er sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner Community erfährt.Seit den Jahren, die Khani in seinem Roman schildert, hat sich Deutschland verändert. So haben sich seit 2015 flüchtlingsfeindliche und rassistische Angriffe mit jedem Jahr vervielfacht. Dennoch ist allein die Existenz dieses schönen, traurigen, brutalen und erschütternden Romans Grund für Hoffnung. In den letzten Zeilen des Briefes an seinen Sohn schreibt der Ich-Erzähler:
Ich will etwas Anderes für dich. Etwas Anderes von dir. Ich will, dass du wählen kannst. Dass in dir mehr steckt als in mir. Mehr als immer dieselbe Antwort. Deshalb schreibe ich dir dieses Buch.
Berlin: Hanser Berlin, 2024. 192 S.
ISBN: 978-3-446-28142-4
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