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Rosinenpicker
Erzählte weibliche Räume und Körper

Katharina Mevissen erzählt eine ganz und gar ungewöhnliche Muttergeschichte.

Von Holger Moos

Mevissen: Mutters Stimmbruch © Verlag Klaus Wagenbach Bereits 2019 erhielt die 1991 geborene Katharina Mevissen den vom Deutschen Literaturfonds vergebenen Kranichsteiner Literaturförderpreis für den Text Mutters Stimmbruch, der nun im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. Mevissens Debütroman Ich kann dich hören war bereits im Februar 2019 herausgekommen. Die Literaturkritik lobte die Autorin für ihre leise, facettenreiche und rhythmische Sprache.

„Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr“, so beginnt Mevissens neuer, schmaler Roman. Gemeint sind nicht nur die vier Sprachen, die sie spricht, sondern auch die Körpersprache, die Haussprache, die Gartensprache und die Kindersprache. Als Letztes kam die Muttersprache. Eng verbunden mit dem Thema Sprache ist das Thema Zähne. Durch den Verlust der Milchzähne fand Mutter ihre Sprachen. Doch nun ist sie alt, hat Zahnschmerzen und verliert vielleicht bald wieder ihre Zähne, dann aber für immer.

Der Verlust von Zähnen – und sei er nur imaginiert – kann bekanntermaßen allerlei bedeuten, etwa unerfüllte sexuelle Wünsche oder bei Männern Kastrationsangst: Freud lässt grüßen. Bei Mevissen drängt es sich auf, Zähne als Leitmotiv für Ver- und Entwurzelung, aber auch als Zeichen für körperliche Transformationen zu deuten. Immer wieder tauchen Zähne auf, auch in den sieben Illustrationen von Katharina Greeven, die in ihrer Einfachheit an Felsmalereien erinnern.

Mutter wird sich zum Rätsel

Mutters Stimmbruch ist ein im besten Sinne merkwürdiges Buch. Die Hauptfigur, über die erzählt wird, hat keinen Namen. Sie wird immer nur Mutter genannt: „Mutter dreht das Wasser auf… Mutter ist in die Jahre gekommen… Mutter wohnt auf hundertsiebzig Quadratmeter“ usw. Diese literarische Mutterfigur bleibt im Ungefähren, ihre Identität ist uneindeutig: „Mutter hat junge Beine und grobe Hände. Sie hat große Zähne, alte Brüste und feste Waden. Ihr Körper ist ungleich gealtert: An manchen Stellen ist er schon verwitwet, an anderen noch jugendlich, hier alleinstehend, da in den Wechseljahren, dort zeitlos. Mutter wird sich zum Rätsel.“

In ihrem Haus mit Garten lebt sie alleine. Erst ist ihr Mann gegangen, dann sind die Kinder ausgezogen. Und auch das „Haus sagt nichts. Es schweigt aus allen Zimmern und Schränken. Mutter schweigt zurück und schlurft in den Garten. Dort führen die Bäume ein angeregtes Gespräch. Mutter beteiligt sich nicht daran und schneidet die vertrockneten Blütenköpfe aus den Hortensien.“ Zu allem hat diese Mutter eine Distanz, sie erscheint fast unbeteiligt am eigenen Leben. Ihre Kinder, die sich nur noch an den obligatorischen drei Tagen (Muttertag, Weihnachten, Geburtstag) telefonisch bei ihr melden, „verwechselt sie manchmal, so ähnlich klingen sie“.

Doch dann lässt das Haus sie im Stich, kurz vor Winterbeginn fällt die Heizung aus, das Dach ist undicht, ein Wasserrohr platzt. Erst versucht sie auszuharren, verbringt manchen Abend mit einer Wärmeflasche im Heizungskeller, befriedigt sich selbst zum Klang einer Frauenstimme, die im Radio Börsenkurse verliest. Als sie stürzt und sich zwei Schneidezähne ausschlägt, geht sie zum Zahnarzt und lässt sich alle Zähne ziehen. Sie kehrt anschließend nicht mehr in ihr Haus zurück, sondern mietet eine Zweizimmerwohnung in der Stadt. Ein Zimmer ist voller Pflanzen, das andere nahezu leer – gerade richtig für Mutters undefiniertes Platzbedürfnis.

Telefonsex und Frühlingsgefühle

Ihr Leben wird in der Folge immer somnambuler, das Geschehen immer surrealer. Sie streift durch die Stadt, hat in einer Telefonzelle befriedigenden Telefonsex. Sie geht ins Schwimmbad, streift ihren Badeanzug über die Schultern, um sich freier zu fühlen („Ihre Brüste schwimmen davon“), und verschwindet anschließend in die Männerdusche. Im Supermarkt hat sie einen weiteren filmreifen Auftritt, Frühlingsgefühle inklusive.

Mit der Zahnprothese verändert sich auch ihre Stimme. Tiefer und kraftvoller ist sie, ein zusätzlicher Grund, sie bei weiteren Gesprächen mit Unbekannten in der Telefonzelle auszuprobieren. Auch das Dreimetterbrett im Schwimmbad wird ihr zur Bühne, um eine Ballade anzustimmen: „Ihre Stimme erfüllt den ganzen Luftraum, solang sie singt, gehört er zu ihr. Mutter hat sich noch nie so groß gefühlt“.

Mutter ist ihr eigener Mittelpunkt

Mutters Stimmbruch ist ein bizarrer Roman über das Altern, aber auch über Selbstermächtigung. Mevissens Stil ist ungewöhnlich, sie erzählt die schon oft gehörte Geschichte über das Unsichtbarwerden von alternden Frauen abseits ausgetretener Pfade, nüchtern und doch poetisch, in kurzen, einfachen Sätzen und gleichzeitig rätselhaft. Es gibt kein Gejammer, kein Selbstmitleid, sondern am Ende steht ein selbstbewusstes Beharren auf der eigenen Sonderbarkeit. Wenn niemand sie sieht, ist sie unabhängig vom Urteil anderer und kann sich selbst ins Zentrum rücken: „Mutter ist ihr eigener Mittelpunkt. Und die Zähne im Bad sind die Peripherie.“

Mevissen ist auch Literaturwissenschaftlerin und promoviert gerade an der FU Berlin zu Literarischer Mündlichkeit und den Formen und Archiven gesprochener Literatur. Ihre Masterarbeit schrieb sie zu „Erzählte weibliche Räume und Körper. Eine transnationale feministische Erzähltextanalyse der Geschlechts- und Raumdarstellung in Virginia Woolfs A Room of One’s Own und Assia Djebars Vaste est la prison“. Der Titel der Masterarbeit ist eine überaus passende Überschrift für eine Besprechung von Mevissens aktuellem Roman.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Katharina Mevissen: Mutters Stimmbruch
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2023. 128 S.
ISBN: 978-3-8031-3355-7
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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