Populismus
Wer benötigt Experten?

Illustration: Wer benötigt Experten?

„Die Menschen in diesem Land haben die Nase voll von Experten“, erklärte Michael Gove, ein Minister in der Regierung von Theresa May im Laufe der Kampagne zum Brexit-Referendum. Diese Aussage des konservativen Politikers sorgte für einige Unruhe und passte ausgezeichnet in die Atmosphäre der Brexit-Debatte. Einer Debatte, die wegen des Skandals um das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica bereits zu einem klassischen Beispiel dafür geworden ist, wie Falschmeldungen, von Geheimdiensten anderer Staaten gesteuerte Desinformationskampagnen und populistische Propaganda die öffentliche Meinung über digitale Medien beeinflussen.

Von Edwin Bendyk, Polityka

Der britische Politiker schlug mit seiner Aussage in dieselbe Kerbe wie Donald Trump, der im Rahmen seiner Präsidentschaftskampagne in den USA die Bedeutung von Experten für die öffentliche Debatte noch stärker infrage gestellt hatte. Er warf ihnen vor, sie seien Teil der korrupten Elite und der Feind des einfachen Volkes. Unabhängig davon, was die beiden Politiker mit ihren Aussagen bezwecken wollten, verwiesen sowohl Trump als auch Gove auf ein Thema, das für das Funktionieren moderner, komplexer und technologisch fortgeschrittener Gesellschaften von zentraler Bedeutung ist. Normalerweise denken wir nicht darüber nach, wie die Infrastruktur funktioniert, die uns Elektrizität, Wasser und öffentlichen Transport garantiert. Wir vertrauen darauf, dass sie sich in den guten Händen von Experten, von Ingenieuren und Sicherheitsspezialisten, befindet. Wir erwarten, dass unsere innere und äußere Sicherheit von qualifizierten Kräften geschützt wird, und wenn wir zum Arzt gehen, gehen wir davon aus, dass er oder sie über das notwendige Fachwissen verfügt.

Rationalität in der modernen Gesellschaft  

Max Weber, der große deutsche Soziologe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, kam bei seiner Untersuchung der zu jener Zeit sich gerade kristallisierenden modernen Gesellschaften zu dem Schluss, dass der grundlegende Mechanismus ihres Funktionierens die Rationalisierung sei: das Treffen von Entscheidungen auf der Grundlage sachlicher Argumente und einer rationalen, auf objektives Wissen verweisenden Analyse. Die Quelle dieses Wissens ist die Wissenschaft und ihr Träger der Staatsapparat und die innerhalb dieses Apparats tätigen, fachlich kompetenten Beamten, die von spezialisierten Institutionen, etwa aus dem Hochschulbereich, unterstützt werden. Die Bürgerinnen und Bürger der modernen Gesellschaften, also wir alle, leben in einem „eisernen Käfig des Rationalen“: Unsere Welt basiert auf der Überzeugung, dass sämtliche im öffentlichen Raum getroffene Entscheidungen bezüglich einzelner Individuen oder der gesamten Gesellschaft ein Ausdruck objektiven Wissens seien, das nicht demokratisch verhandelt wird. Über die Wirksamkeit von Impfungen soll nicht im Parlament, sondern in wissenschaftlichen Institutionen entschieden werden. Und die staatlichen Organe und Institutionen sollen dieses Wissen nutzen, um Entscheidungen über Pflichtimpfungen zu legitimieren.

In modernen Gesellschaften ist das Wissen unmittelbar mit der Macht verbunden, denn es dient der Legitimierung der getroffenen Entscheidungen und der Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz.

In modernen Gesellschaften ist das Wissen unmittelbar mit der Macht verbunden, denn es dient der Legitimierung der getroffenen Entscheidungen und der Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz. Experten haben in dieser Welt einen besonderen Status: Sie verfügen zwar über keine politische Macht im eigentlichen Sinne, üben jedoch – aufgrund der Tatsache, dass sie über spezialisiertes, objektiviertes Wissen verfügen – einen immensen Einfluss auf die Entwicklung von Machtstrukturen aus. Aus diesem Grund ist das gesellschaftliche Vertrauen in Experten für die modernen demokratischen Gesellschaften von zentraler Bedeutung, denn es ermöglicht ihnen ein kontinuierliches Funktionieren über Legislaturperioden hinweg.

Als Michael Gove erklärte, die Menschen hätten die Nase voll von Experten, wies die britische Tageszeitung The Guardian ihn darauf hin, wie sehr er sich irrte. Eine Umfrage ergab, dass 57 Prozent der Briten in Fragen zum Referendum der Meinung von Akademikern vertrauten, und nur 11 Prozent den Aussagen von Politikern. Und eine andere Umfrage zeigte, dass Wirtschaftswissenschaftler sogar das Vertrauen von 63 Prozent der Bevölkerung genossen. Das geringe Vertrauen in Politiker ist heutzutage kennzeichnend für die meisten demokratischen Gesellschaften – und doch funktionieren die demokratischen Systeme weiterhin, weil das Vertrauen in Experten nach wie vor groß ist und die Menschen der Überzeugung sind, dass der „eiserne Käfig des Rationalen“ weitgehend störungsfrei funktioniert, unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist.

Woher kommen Experten?

Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Denn woher kommen Experten? Politiker kommen in demokratischen Systemen durch Wahlen an die Macht. Doch die Anerkennung des Expertenstatus ist wesentlich komplizierter und verweist auf eine langjährige Tradition der Herausbildung von spezialisierten Institutionen, wissenschaftlichen Bewertungsverfahren, Berufsverbänden und Zertifikaten. Wir gehen davon aus, dass ein Arzt, der sich auf Nephrologie spezialisiert hat, die bestmögliche Diagnose im Falle eines Nierenleidens stellt, wir würden jedoch kaum auf die Idee kommen, ihn zu fragen, wie ein Reaktor in einem Atomkraftwerk funktioniert.
 
Das Aufkommen des Internets hat die bisherigen Mechanismen der Anerkennung des Expertenstatus ins Wanken gebracht. Bereits zu Beginn der Geschichte des neuen Mediums stellte der finnische Informatiker Linus Torvalds das Prinzip der Herstellung von Software durch Experten infrage. 1991 lud er andere Programmierer zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung seines Betriebssystems Linux ein, ohne sie nach formalen Nachweisen ihrer Kompetenzen zu fragen. Auf diese Weise entstand die Freie-Software-Bewegung, deren Mitglieder – Zehntausende von Programmierern aus aller Welt – zweifellos Experten sind. Niemand fragt sie nach irgendwelchen Zertifikaten oder Diplomen.

Die Linux-Gemeinschaft erfand eine neue Methode zur Anerkennung des Expertenstatus: die Überprüfung von Kompetenzen durch die Praxis, durch die aktive Mitarbeit an der Erstellung einer funktionierenden Software.

Die Linux-Gemeinschaft erfand eine neue Methode zur Anerkennung des Expertenstatus: die Überprüfung von Kompetenzen durch die Praxis, durch die aktive Mitarbeit an der Erstellung einer funktionierenden Software. Auf diese Weise entwickelte sie eine auf Selbstorganisation basierende Alternative zu den Software-Ökosystemen der großen Technologiekonzerne. Dieser spektakuläre Erfolg hatte jedoch unerwartete Nebeneffekte: Er untergrub das Vertrauen in die bisherigen Methoden der Anerkennung des Expertenstatus. Die Überzeugung, dass jeder ein Programmierer sein kann, setzte sich infolge weiterer mit dem Internet verbundener Innovationen auch in anderen Bereichen fort. 2000 erklärte der koreanische Journalist Oh Yeon-ho, jeder Bürger sei ein Reporter, und gründete das Bürgerjournalismus-Projekt OhmyNews. Ein Jahr später gründete Jimmy Wales die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia, deren Inhalte von den Benutzern mitgestaltet werden – schließlich kann auch jeder ein Enzyklopädiker sein.

Jeder kann Experte werden? 

All diese Entwicklungen förderten bereits lange vor dem Aufkommen sozialer Netzwerke die Überzeugung, dass in den heutigen Gesellschaften, die aus gebildeten Individuen mit einem nahezu unbegrenzten Zugang zu Wissen bestehen, jeder ein Experte sein kann. Diese Überzeugung schwächte die Position der traditionellen Institutionen und Methoden zur Anerkennung des Expertenstatus. Hinzu kamen interne Unregelmäßigkeiten: Forschungsskandale, Fälle von Korruption und politischer Einflussnahme und schließlich die gezielte Desinformation durch bestimmte Industriezweige, etwa die Tabak- und die Automobilindustrie, zur Durchsetzung ihrer Interessen. 
 
Die sozialen Netzwerke haben das Vertrauen in Experten und die mit ihnen verbundenen Institutionen endgültig schwinden lassen. Die Ergebnisse des Edelman Trust Barometer 2017 belegten, dass 60 Prozent der Befragten „Personen wie du und ich“ genauso viel Vertrauen entgegenbringen wie akademischen Experten. Nur 27 Prozent der Befragten vertrauten Journalisten. Kein Wunder also, dass die Verfasser dieser Studie von einer „Implosion des Vertrauens“ sprachen. 2018 sahen die Ergebnisse bereits ein wenig anders aus. Das Vertrauen in „Personen wie du und ich“ ging auf 54 Prozent zurück, dafür stieg das Vertrauen in technische und akademische Experten auf 63 bzw. 61 Prozent und das Vertrauen in Journalisten auf 39 Prozent. In den meisten untersuchten Ländern sank das Vertrauen in soziale Netzwerke. Diese Umfrage wurde bereits nach dem Bekanntwerden des Skandals um die Rolle von Facebook und Twitter bei der Verbreitung von Fake News während des Brexit-Referendums und der US-Präsidentschaftswahlen durchgeführt.
 
Aus dieser Entwicklung lassen sich einige wichtige Schlüsse ziehen. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass Experten eine wichtige Bedeutung zukommt. Das Aufkommen der digitalen Medien hat uns neue, zuvor unbekannte Möglichkeiten des Zugangs zu Informationen und ihrer Verarbeitung und Verbreitung eröffnet. Gleichzeitig hat diese Entwicklung auch den Kontext verändert, in dem Expertinnen und Experten ihren Status erlangen – sie hat zu der Überzeugung geführt, dass jeder ein Experte sein kann. Neueste Untersuchungen zeigen jedoch, dass diese optimistische Annahme allmählich ins Wanken gerät und dass das Vertrauen in Experten mit einer starken institutionellen (z. B. akademischen) Legitimation erneut steigt. Dies ist ein gutes Omen für die Wiederherstellung der rationalen Debatte im öffentlichen Raum. Eine weitere wichtige Voraussetzung hierzu ist die Rekonstruktion des wichtigsten Elements des öffentlichen Lebens – starker institutioneller Medien. Denn trotz des allmählich wieder wachsenden Vertrauens in Journalisten und den Journalismus verschlechtert sich der Zustand der Medien in den meisten demokratischen Staaten nach wie vor systematisch.

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