Tamara Tenenbaum  Ein Vokal gegen die männliche Verallgemeinerung

© Marina Camargo, 2019. © Marina Camargo, 2019.

Die argentinische Autorin betrachtet verschiedene Varianten für eine inklusive Sprache und die Kraft des „e“.

Es wäre keine leichte Aufgabe, eine Genealogie der inklusiven Sprache auf Spanisch zu schreiben – obwohl ich hoffe, dass es trotzdem jemand tut. Die Endung „-x“, die in den Vereinigten Staaten so beliebt ist (ich bin es gewohnt, im US-amerikanischen Kontext „a Latinx writer“ zu sein), und auch das „@“ werden in Argentinien in akademischen Kreisen und in der feministischen und LGTTBI-Bewegung seit zehn oder fünfzehn Jahren verwendet. Die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández war eine der ersten politischen Persönlichkeiten, die regelmäßig den Ausdruck „Argentinier und Argentinierinnen“ verwendete, bis es sich zu einer Art Stilmarke entwickelt hatte.

Ich bin mir nicht sicher, wann das „e“ am Ende eines Wortes erfunden wurde, um ein Wort genderneutral auszudrücken. Viele meiner Freundinnen feierten in diesem August den „día de le niñe“ statt den traditionellen „día del niño“ (dt.: Kindertag; Anm. der Redaktion: auf Spanisch gibt es keine geschlechterneutrale Form für das Wort "Kind", man unterscheidet niña = Mädchen und niño = Junge; die männliche Form wird für "Kinder" im Plural verwendet). Aber ich habe eine Hypothese, warum diese Endung so einen durchschlagenden Erfolg hat im Vergleich zu den vorherigen Formen: das „x“ und das „@“ kann man zwar schreiben, aber auf Spanisch kann man sie nicht aussprechen. Diese zwei funktionieren nur dort, wo die Kommunikation schriftlich ist: in den Universitäten und im Journalismus, aber sie sind unpassend für die Masse der Millennials, die nicht nur anders schreiben sondern auch anders sprechen wollen. Auch wenn einige Aktivistinnen der alten Schule weiterhin das „x“ benutzen (oder die feminine Verallgemeinerung, die im englischen Sprachraum so häufig ist, sich aber auf Spanisch nie durchgesetzt hat), gehört die Endung auf „e“ heute zum neuen inklusiven Kanon in der Alltagssprache und Jugendsprache, vor allem unter Kunstschaffenden und sogar in einigen Schulen und Universitäten.

Ich erinnere mich nicht, wann ich diese Formen das erste Mal bewusst hörte oder las, aber ich erinnere mich sehr genau an die vielen Momente, als ich noch sehr jung war, und mich über die männliche Verallgemeinerungsform ärgerte. Die Situation war immer dieselbe: Im Tanz- oder Musikunterricht reichte ein einziger männlicher Mitschüler aus, um uns alle zu „chicos“ (Jungs) zu machen. Es kam mir seltsam vor, dass Männlichkeit so übergreifend, so ansteckend sein sollte: Es war wie ein winziger Tropfen Tinte, der, wenn er sich in einem Wassertank auflöste, ihn ganz blau verfärbte. Manchmal kam es vor, dass die Lehrerin – fast immer waren es Frauen – während sie zu uns sprach, auf den ersten Blick den einizigen Jungen in der Gruppe nicht bemerkte und uns „chicas“ (Mädchen) nannte, um sich dann mit einem Lächlen selbst zu korrigieren: „Entschuldigung, chicos“ (Jungs). Und alles an dieser Entschuldigung störte mich. In einem gewissen Sinne entschuldigte sie sich bei dem Jungen, weil sie ihn nicht gesehen und persönlich angesprochen hatte: Eine Entschuldigung, um die weder ich noch eine andere weibliche Person jemals gebeten wurden, wenn wir per se als „chicos“ (Jungs) oder „Schüler“ bezeichnet worden sind. In einem anderen Sinne entschuldigte sie sich dafür, ihn mit einem Mädchen verwechselt zu haben. War das so schlimm, mit einem Mädchen verwechselt zu werden? Ein Mädchen zu sein? Wie eins auszusehen?

Ich bin noch nicht so gewohnt im Umgang mit dem „e“ wie meine Studentinnen und Studenten an der Uni, viel zu oft rutschen mir noch Sätze raus wie: „chiques, no sean vagos“ (dt.: Chiques, seid doch nicht so faul. Anm. d. Red.: Hier wird erst das genderneutrale „-e“ verwendet und im Adjektiv "vago" doch wieder die maskuline Form). Ich traue mich auch nicht, es in jedem Kontext zu verwenden: Meistens ist es mir lieber, die männliche und die weibliche Form zu benutzen und mir den Spott von Personen zu ersparen, die sich aus so offen- wie unersichtlichen Gründen so verhalten, als wäre das „e“ ein persönlicher Angriff gegen sie. Aber ich benutze das „e“ so oft ich kann, denn dieser Widerstand, der mich so erschöpft, zeigt auch an, dass es nicht völlig nutzlos ist, dass das „e“ doch nicht so harmlos ist; denn wenn es so wäre, würde es niemanden aufregen. Es verweist und auf das Unbehagen vor der Veränderung, vor unseren eigenen Vorurteilen, und diese sind es wert, angeschaut zu werden. Es spricht von der Wut, die – auch heute noch – diese Mädchen und alle nicht-binären Personen hervorrufen, wenn sie sich weigern, sich als Teil der vermeintlich „männlichen Allgemeingültigkeit“ zu sehen, nämlich bei Leuten, die sich gar keine Mühe geben wollen, diese Ausdrucksweise zu verstehen.

 

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