Christen in der Corona-Krise  Daniel Pastirčák: „Die erzwungene Isolierung stärkt unsere Verbindung zueinander“

„Jesus ist eine Schutzmaske, ein Impfstoff und ein wirksames Medikament für manche Gläubige“, sagt Daniel Pastirčák. Eine solche magische Form des Glaubens ist für ihn ein verstörendes Phänomen.
„Jesus ist eine Schutzmaske, ein Impfstoff und ein wirksames Medikament für manche Gläubige“, sagt Daniel Pastirčák. Eine solche magische Form des Glaubens ist für ihn ein verstörendes Phänomen. Foto: © Tomáš Vyskočil

Wie hat sich das Coronavirus auf dich als Prediger der Brüderkirche ausgewirkt?

Für einen geistlichen Führer ist eine innere Verbindung mit anderen Menschen in Gott wesentlich. Diese Verbindung habe ich auch bisher in der Einsamkeit des Gebets hergestellt, bei den Morgenmeditationen auf meinem Balkon in Bratislava-Petržalka. Die erzwungene soziale Isolierung kommt mir paradoxerweise wie eine Situation allgemeiner Offenheit vor. Die Pandemie hat uns ganz wesentlich mit der Realität unserer globalen Vernetzung konfrontiert. Denn gerade wegen dieser gegenseitigen Vernetzung bleiben wir isoliert, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.

Während der Pandemie verlagerte sich die gegenseitige Verbindung ins Internet. Ich halte Videopredigten aus unserem Wohnzimmer und Meditationen zum Morgenkaffee. In der Privatsphäre meines Wohnzimmers werde ich somit zu einem Teil des öffentlichen Raumes. Ich suche nach Worten, die unterschiedslos alle Menschen ansprechen, nicht nur die Gemeinschaft in der Kapelle, sondern auch Menschen ohne Glauben.

Zu Menschen über das Internet zu sprechen, kann eine recht einsame Tätigkeit sein. Spürst du dabei noch die menschliche Nähe?

Es ist seltsam, aber jetzt teile ich die Worte des Evangeliums mit vielen, die noch nie in unserer Kapelle waren. Ein Video hat sogar schon eine niederländische Synchronisation. Diese Videos sind in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Künstler tragen Kunstmeditationen bei, Musiker die Musik, jemand muss das schneiden und das Ganze zusammenstellen. Die Isolierung hat die Verbindung zueinander auch auf andere Weise gestärkt. Obwohl persönliche Gespräche, die einen wesentlichen Teil meines Dienstes bilden, unmöglich sind, stehe ich heute intensiver als je zuvor telefonisch mit Menschen in Kontakt. Ich rufe jeden Tag an, damit sie wissen, dass ich an sie denke, und wir ermutigen uns gegenseitig.

Nach der Pandemie wird es eine Wirtschaftskrise geben, wie wir sie zuvor noch nie erlebt haben. Das wird eine noch größere Herausforderung für uns sein. Die Worte von Papst Franziskus über die Kirche als verwundetes und schmutziges Feldlazarett werden vor diesem Hintergrund noch eindringlicher.

Was hältst du von Christen, die gegen die Regierungsverordnungen rebellieren, das Versammlungsverbot nicht einhalten und sich ausschließlich auf Gott als Beschützer verlassen?

In meinem Umfeld begegne ich solchen Einstellungen bei Gläubigen nicht. Glaube ist für sie Verantwortung und das Bewusstsein, mit anderen Menschen verbunden zu sein. Aber Ablehnung gegenüber den Maßnahmen erlebte ich bei einigen weltlichen Freunden. Mit ihrer Auflehnung wollen sie ihre persönliche Freiheit betonen. Sie hegen die Vermutung, dass die restriktiven Maßnahmen der Regierung zu einer Diktatur führen.

Ähnliche Motive könnte man vielleicht bei denjenigen finden, die Maßnahmen im Namen des Glaubens ablehnen. Das Gottesdienstverbot ließ sie vermuten, dass im Namen der Pandemie eine Art geheimer Kampf gegen die Kirche stattfindet. Die Diktatur des Säkularismus etabliert sich. Ein gewisser amerikanischer Pastor verlautbarte, dass seine Gläubigen nicht aufhören würden, sich zu Gottesdiensten zu treffen. Wenn sie sich anstecken, seien sie auch bereit, für Christus zu sterben. Der Pastor rechnete also nicht wirklich mit einem Wunder. Er versteht die Rebellion gegen Beschränkungen als eine Form des Martyriums.

Ist die Erwartung eines Wunders, in diesem Fall eines wundersamen Schutzes vor Krankheiten, nicht etwas Natürliches für einen Gläubigen?

Unter Christen finden wir natürlich auch die magische Form des Glaubens. Jesus ist eine Schutzmaske, ein Impfstoff und ein wirksames Medikament für sie. Religion ist eine gewisse Art von Magie für einen solchen Glauben. Man bezieht göttliche Kräfte in seine irdischen Angelegenheiten ein: „Nimm unseren Glauben an und du wirst gesund, reich, glücklich und erfolgreich sein.“ Hier bedeutet es, dass der Gläubige eine privilegierte Position beim göttlichen Lenker der Geschichte einnimmt. Ein solcher Glaube nimmt die Realität der Infektion nicht ernst. Die Welt ist für sie zweigeteilt: Diejenigen, die nicht glauben, sind der bösen Realität auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, die Gläubigen aber leben in einem Reich, in dem Gott permanent Wunder bewirkt.

Im Evangelium wurden zahlreiche Geschichten von Wundern gesammelt. Sind nicht gerade sie für einen solchen Glauben verantwortlich? In den Geschichten der Evangelien ist ein Wunder immer ein Wunder – das ist ja genau das, was sie so außergewöhnlich macht. Nur dort, wo wir zuerst die Realität der unveränderlichen Naturgesetze akzeptieren, hat es Sinn, über Wunder zu reden. Nur dort, wo eine Regel gilt, kann man von einer Ausnahme als von einem Wunder sprechen. Diese Ausnahme hat die Bedeutung eines Zeichens, das darauf hinweist, dass Gott sich über die konkrete Realität der Welt hinwegsetzt.

Gott ist jedoch kein launenhafter Puppenspieler, der mit der Welt spielt und sie mit einem irrationalen Ausbruch von Wundern verwaltet. Er schuf die Welt nach geltenden Prinzipien. Nur in einer solchen Welt kann ein Mensch frei sein, nur eine solche Welt kann durch Vernunft erkannt, gestaltet und in ihr verantwortungsbewusst gehandelt werden. Nur in einer solchen Welt kann der Mensch zum Menschen werden. Glaube, der mit Wundern rechnet wie mit einer alltäglichen Realität, ist kein Glaube an das Evangelium.

Sprichst du dem Glauben also das Recht, ein Wunder zu erwarten, vollkommen ab?

Im Evangelium gibt es eine Figur, die Jesus einen solchen Glauben als Versuchung präsentiert: der Teufel in der Wüste. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl diesem Stein hier, er soll zu Brot werden. Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich vom Tempel hinab, denn es steht geschrieben, Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einem Stein stößt.“ „Nein, nein, nein!“, entgegnet Jesus dem Teufel. Jesus versteht Glauben ganz anders. Es geht nicht darum, dass der Glaube die äußeren Umstände verändert, sondern dass die Persönlichkeit des Gläubigen inmitten dieser Umstände verändert wird. Der Glaube verändert die Welt von innen heraus. Indem er mich verändert, verändert er letztendlich die Umgebung, in der ich lebe.

„Gott ist Geist“, sagt Jesus der Frau aus Samaria, „und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Der Glaube sucht nicht nach materieller, sondern nach spiritueller Veränderung. Er möchte aus mir einen wahrhaftigeren, freieren, liebevolleren Menschen machen. Jesus verband Glauben untrennbar mit der Wahrheit. „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Zu Pilatus sagt er: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“

Der christliche Glaube kann die durch Vernunft erkannte Wahrheit nicht außen vor lassen. Dies würde Christus verraten. Ob ich also dem Glauben das Recht abspreche, ein Wunder zu erwarten? Die Offenheit für Wunder gehört natürlich zum Glauben. Das, was menschlich nicht möglich ist, bleibt für den Glauben stets eine offene Möglichkeit, denn in Gott ist alles möglich. Wunder sind jedoch Wunder, gerade weil sie selten sind. Der Glaube an einen Gott der Wunder hat vielen den Mut gegeben, sich in extreme Gefahr zu begeben. Einige erlebten dabei ein Wunder, andere nicht.

Kann die magische Form des Glaubens irgendwie schädlich sein?

Die magische Form des Glaubens ist ein verstörendes Phänomen. Sie verhärtet das Herz gegenüber denjenigen, die nicht dazugehören. Ein solcher Gläubiger ist in gewissem Sinne ein schlechterer Mensch als er es wäre, wenn er nicht glauben würde. Anstatt ihn frei von Egoismus zu machen und in Liebe mit anderen zu verbinden, isoliert ihn der Glaube in religiöser Überlegenheit.

Die Quarantänemaßnahmen sind eine Herausforderung für die Verantwortung gegenüber anderen. Jeder von uns kann Träger des Virus sein. Ich beschütze dich mit meiner Verantwortung, meine Verantwortungslosigkeit aber bedroht dich. In einer Welt des magischen Glaubens wird eine solche Verantwortung abgeschafft: Christus wird mich besser beschützen, als eine Gesichtsmaske, und da du Christus nicht hast, wird dir auch die Maske nicht helfen. Hier kommen wir zur dunkelsten Seite dieses Phänomens. Ein derart gelebter Glaube verkündet implizit das Urteil. Einige dieser Urteile werden auch laut ausgesprochen. Die Pandemie ist Gottes Strafe für die Verdorbenheit der liberalen Zivilisation. Die Homosexuellen sind schuld. Nichts ist weiter von Jesu Gottesverständnis entfernt, als derartige Aussagen. Seine Jünger sind besorgt über den Anblick eines Mannes, der blind geboren wurde. Wer ist daran schuld? Sie fragen Jesus. Haben er oder seine Eltern gesündigt? Doch Jesus spielt dieses grausame kindliche Verurteilungsspiel nicht mit. Er weigert sich, den Sinn für das Leiden des Blinden in dessen Herkunft zu suchen, er findet ihn in der gegenwärtigen Situation: „Das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“

Wie sollten Christen also mit der aktuellen Situation umgehen? Denn nicht nur Gläubige neigen dazu, irgendeinen Sinn in den Lebensumständen zu suchen. Welche Stellung nehmen die Gläubigen in dieser Pandemie ein?

Viktor Frankl sprach über den „Willen zum Sinn“. Ihm zufolge wird einer Lebenssituation der Sinn nicht von außen, sondern von innen gegeben. Er basiert auf der Freiheit, mit der eine Person an die gegenwärtige Situation herangeht. Der Sinn muss nicht erklärt werden – es ist notwendig, sich unter den von der Realität vorgegebenen Bedingungen dafür zu entscheiden. Schon die bloße Begegnung eines Blinden mit einem Menschen, der bereit ist, sich in die fremde Welt seiner Dunkelheit zu begeben, seinen Schmerz in sich selbst zu fühlen und diesen mit Liebe zu umarmen, ist ein Akt Gottes.

Auch wenn unsere Möglichkeiten es uns nicht erlauben, dem Leidenden Heilung zu bringen, wirken wir durch unsere liebevolle Fürsorge – indem wir in seine Welt eintreten und sie mit Nähe füllen – eine Tat Gottes. Wie viel Schönheit habe ich schon gerade in solchen geduldigen, hilflosen Liebeshandlungen gesehen. Auf diese Art und Weise liest der Glaube des Evangeliums die Zeichen der Zeit. Auf diese Art und Weise sollte sich der christliche Glaube der gegenwärtigen Pandemie nähern.
 

Daniel Pastirčák ist Prediger der Brüderkirche in Bratislava. Der kulturellen Öffentlichkeit in der Slowakei ist er jedoch auch als bildender Künstler, Lyriker, Prosaist und Essayist bekannt.

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