Autor*innen von PEN Ukraine besuchen regelmäßig kriegsversehrte Dörfer in Grenzregionen und nahe den Frontlinien. Sie bringen Bücher und Hoffnung – und eine Botschaft: In einem Krieg um Erinnerung und Identität wird Literatur zur Waffe.
Iwaniwka, Oblast Tschernihiw, Ukraine — Die Bibliothekarin wartet bereits, als der weiße Minibus neben einer wettergegerbten Holzhütte hält. Die Besucher*innen bedeuten ihr alles – ebenso wie der Ort, den sie zeigen will.Drinnen gibt es keine Heizung, kaum Möbel, nur ein paar Regale mit verstreuten Büchern. Und doch ist dieser Raum für Oksana Kopysh heiliger Boden: die wiedergeborene Bibliothek von Iwaniwka.
Die ursprüngliche Bücherei wurde 2022 in den ersten Wochen der großangelegten russischen Invasion zerstört – mitsamt dem Kulturhaus des Dorfs. Mit 14.000 Büchern verschwand ein kollektives Gedächtnis. Monatelang hielt Kopysh den Wiederaufbau für sinnlos. „Wenn es keine Schule mehr gibt, wer braucht dann Bücher?“ Dann übergab ihr die Dorfvorsteherin den Schlüssel zu einer Hütte – und damit eine neue Aufgabe. Kopysh bat online um Hilfe. Bücher kamen. Und mit ihnen die Menschen.
Die Dichterin Svitlana Povalyaeva geht auf das alte Haus der Kultur in Iwaniwka zu. Die Russen bombardierten es und ließen es niederbrennen. Die 14.000 Bücher von der Bibliothek von Iwaniwka verbrannten. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Kopysh packt die gespendeten Bücher aus, als wären es Familienschätze. „Es bedeutet alles“, sagt sie. Ihre Augen glänzen, als Kinderbuchautorin Kateryna Yehorushkina ein Exemplar von Der Urlaub, den ich machen musste (Мої вимушені канікули) signiert – inspiriert von der Flucht ihrer eigenen Kinder. „Bücher sind nicht tot“, sagt sie. „Sie fangen gerade erst an zu leben.“
Kultur ist kein Luxus. Sie ist das Skelett des Überlebens.“
Der „Write to Exist“-Bus im Norden der Ukraine
Die Initiative begann 2022 hier, in der Region Tschernihiw, wo russische Truppen Schulen, Häuser und Bibliotheken zerstörten. Als eine 500-Kilo-Bombe in Tschernihiw die Regionalbibliothek für Jugendliche traf, war klar: Der Krieg gilt nicht nur dem Land, sondern auch der Identität.Fast 800 Bibliotheken wurden seither beschädigt, Hunderte im Kulturbereich Tätige getötet. Doch die Blitzkriegstrategie im Norden scheiterte. Im April 2022 zog sich die russische Armee zurück – hinterließ verminte Felder, verbrannte Schulen, zerschossene Bücherregale.
Im Juni baten Bibliothekarinnen PEN Ukraine um Hilfe. Daraus entstand der „Write to Exist“-Bus. Heute besuchen Autor*innen monatlich Bibliotheken von Odesa über die Front im Süden der Ukraine bei Cherson bis in die frontnahen Gebiete im Norden und Osten des Landes. Über 200 Orte, Zehntausende gespendete Bücher.
„Kultur ist kein Luxus“, sagt PEN Ukraine-Präsident Wolodymyr Jermolenko. „Sie ist das Skelett des Überlebens.“ Seit Beginn des Krieges 2014, besonders aber seit der russischen Großinvasion 2022, sei die ukrainische Literatur roher, dokumentarischer geworden – getragen vom Willen, zu erinnern, zu bezeugen, mitzufühlen.
Für den Philosophen Jermolenko geht es heute nicht um Fantasie, sondern um Realität. Das Schreiben sei „ein Dialog mit der Wirklichkeit. Ein Versuch, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie darzustellen, sie herauszufordern.“ Diese Wirklichkeit sei allgegenwärtig – „wie ein Vater, eine Mutter, ein Kind, ein Gegner, ein Feind.“
„In der Ukraine bedeutet Literatur derzeit vor allem, Erfahrungen miteinander zu verknüpfen – denn im Krieg geht es um Verbindung, und Verbindung ist zu einem unserer zentralen Werte geworden,“ sagt er. „Es geht darum, Städte, Regionen und Zeiträume – auch historische – miteinander in Beziehung zu setzen. Und natürlich darum, Brücken zu den besetzten Gebieten zu schlagen – nicht nur zur Krim, sondern zu allen okkupierten Territorien.“
„Es ist eine Literatur des Lebens trotz des Todes“, sagt Jermolenko. „Ein Ringen mit dem Unmöglichen. Über die Kraft von Liebe, Zärtlichkeit und Freiheit in Momenten, in denen all das unmöglich scheint.“
Das Rathaus von Semeniwka ist halb zerstört. Die Stadt liegt nur fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Bewohner*innen leben in ständiger Gefahr; viele sind bereits geflohen. Die Bibliothek bleibt jedoch geöffnet, und ihre drei festangestellten Bibliothekarinnen weigern sich, die Stadt zu verlassen. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Die Route: So nah an Russland, dass nicht einmal das Rote Kreuz kommt
Und PEN Ukraine bringt diese Stimme der ukrainischen Literatur zurück in die Grenzregion Tschernihiw, wo russische Truppen erstmals ukrainischen Boden betraten. Die Route: Iwaniwka, Slawutytsch, Ripky, Korjukiwka, Nowhorod-Siwerskyj, Korop, Bachmatsch, Semeniwka – letzterer Ort fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt, so nah an Russland, dass nicht einmal das Rote Kreuz kommt. Wälder, bunte Holzhäuser, zerschossene Dächer säumen den Weg.Neben der Kinderbuchautorin Kateryna Yehorushkina reisen die Lyrikerinnen Kateryna Kalytko und Svitlana Povalyaeva mit, dazu zwei Kulturarbeiter und PEN-Geschäftsführer Maksym Sytnikov, der die Route ausgewählt hat. Sie lesen, teilen Texte, schenken Nähe. Jeder Ort, jede Begegnung hinterlässt Spuren.
„Dieser Krieg hat uns einander endlich sehen lassen“, sagt sie. Die Lyrikerin spricht über die seit 2014 besetzten Regionen. „Jahrelang war der Donbas für viele nur ein ferner Ort.“ Jetzt sei das Land zusammengerückt. Sie liest Zeilen aus Poems for Roman, einem Band, den sie ihrem Sohn gewidmet hat. Der Raum wird still. Dann bittet sie um eine Schweigeminute – für alle, die nicht zurückkehrten.
Eine dieser Stimmen war Wolodymyr Wakulenko, Kinderbuchautor, erschossen in Isjum, nachdem er sein Tagebuch vergraben hatte. Auch die Essayistin Viktoria Amelina, die half, es zu bergen, wurde 2023 getötet.
Wir sind müde. Aber nicht gebrochen. Wir bewegen uns. Gemeinsam.“
Korjukiwka: Das lange Schweigen
Korjukiwka, eine Kleinstadt im Norden der Oblast Tschernihiw, trägt ein lang verdrängtes Trauma: Im März 1943 ermordeten deutsche und ungarische Truppen über 6.700 Zivilisten, fast die ganze Stadt – eines der größten Massaker des Zweiten Weltkriegs, international fast vergessen. Also 2022 marschierten russische Truppen erneut ein. Doch die Einheimischen blieben nicht still. Sie protestierten – unbewaffnet, aber entschlossen.
Emotionale Lesung im Jugendclub von Korjukiwka. Im März 1943 verwüsteten deutsche und ungarische Truppen die Stadt als Vergeltung für den Partisanenwiderstand. Die russische Invasion hat alte Traumata geweckt. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Sie stellt State of War vor, eine PEN-Anthologie ukrainischer Stimmen über den Verteidigungskampf: Roh, persönlich, Gegenwartsliteratur.
„Wir schauen einander in die Augen. Wir sprechen und so überlebt Erinnerung“, sagt sie. „Wir sind müde. Aber nicht gebrochen. Wir bewegen uns. Gemeinsam.“
Korop: Ein kleines Wunder
Korop, eine Kleinstadt mit 4.500 Einwohnern nahe der Grenze zu Belarus. An diesem Tag ist die Bibliothek voll mit Kindern. Kateryna Yehorushkina liest aus Unser Kosmos unter dem Bett (Наш підліжковий космос). Küchen werden zu Konzertsälen, Löffel zu Sternen. Die Kinder lachen. Ulia Produn wischt sich eine Träne aus dem Gesicht – ihre Tochter lacht zum ersten Mal, seit der Vater an der Front kämpft.
Die Kinderbuchautorin Kateryna Yehorushkina spricht mit Kindern in Korop über ihr Buch „Unser Kosmos unter dem Bett“. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Anfangs sprach die Großmutter kaum darüber. Erst mit der Zeit, in langen Gesprächen über viele Jahre, erfuhr Kateryna die Wahrheit. Ihre Großmutter war eine ukrainische Kosakin, die sich aus Angst vor Repression gezwungen sah, ihre Sprache und Herkunft zu verleugnen.
Kateryna selbst liebte bereits in der Schule die Fächer Ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte. Und doch sprach sie im Alltag Russisch – bis sie sich als Jugendliche zu fragen begann: Warum eigentlich?
Als Studentin wechselte sie die Sprache – erst im Privaten, dann konsequent. Der endgültige Bruch kam 2012, als die Regierung Janukowytsch versuchte, Russisch zur zweiten Amtssprache zu machen. Kateryna schloss sich den Protesten an, der sogenannten „Sprach-Maidan“-Bewegung. „Uns wurde klar: Wenn Russisch zur Staatssprache wird, verschwindet das Ukrainische aus dem öffentlichen Raum.“ Sie beschloss, fortan nur noch Ukrainisch zu sprechen – und zu schreiben.
Mit dem Krieg wurde alles dringlicher. Ihre beiden Kinder, geboren im seit 2014 andauernden Krieg, prägen jedes Buch mit. „Literatur heilt, weil sie die Wahrheit sagt“, sagt Yehorushkina. „Und weil sie den Kindern zeigt: Auch ihr gehört dazu.“
Die Leiterin der Bibliothek in Korop, Irina Evtushenko, erhält ein Geschenk vom Team von PEN Ukraine: eine Kiste mit Büchern, die von der britischen Organisation Book Aid International gespendet wurden. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Rückfahrt nach Kyjiw
Im Bus ist es still. Kateryna Yehorushkina denkt an Bibliotheken, in denen Bücher per Fahrrad verteilt werden. An Mahlzeiten, für sie gekocht von Frauen mit symbolischen Gehältern. An Kinder, die fragen, ob es Drachen gibt.Kateryna Kalytko erinnert sich an den Protest in Korjukiwka. „Zum ersten Mal habe ich die Kraft gewöhnlicher Menschen wirklich verstanden“.
Svitlana Povalyaeva blickt lange aus dem Fenster. Schreiben fällt ihr momentan schwer. „Aber vielleicht ist das hier mein bedeutendstes Werk“.
Und sie machen weiter.
PEN-Ukraine-Lesung in der Bibliothek von Korop – von links nach rechts: PEN-Geschäftsführer Maksym Sytnykiv, Volodymyr Sheiko (Generaldirektor des Ukrainian Institute, einer staatlichen Einrichtung zur Förderung ukrainischer Kultur im Ausland), die Lyrikerinnen Kateryna Kalytko und Svitlana Povalyaeva, die im Krieg ihre beiden Söhne verloren hat. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Charkiw: Literatur in Trümmern
Kaum zwei Wochen nach der literarischen Reise in die Oblast Tschernihiw steht Svitlana Povalyaeva in Charkiw – gemeinsam mit drei anderen Lyrikerinnen liest sie in einem neu eröffneten Café-Buchladen aus ihren Gedichten. Das Thema des Abends: Frauen und Krieg.Kurz zuvor, am 6. April, hatte es einen massiven Luftangriff gegeben, bei dem mehrere Zivilist*innen ums Leben kamen. Die Stadt ist zerbombt, zerschlagen – aber nicht gebrochen. Viele flohen 2022 unter Beschuss. Viele kehren nun zurück. Mit Kunst, mit Büchern, mit Trotz, und sie bleiben – trotz neuer Angriffe.
Der Ort selbst, genannt „Bücher-Schutzraum“ (КнигоУкриття – Bookshelter) ist hochsymbolisch: gegründet von Oleksandr Savtchuk, einem kleinen, unabhängigen Verleger aus Charkiw, der sich seit Jahren mit ukrainischer Kunst, Geschichte und Literatur beschäftigt – Themen, für die es in Charkiw lange kaum Publikum gab. Doch nach der russischen Vollinvasion suchten plötzlich viele Charkiwer*innen Zuflucht in seinem provisorischen „Bücher-Schutzraum“, den er unterirdisch in einem alten Lager eingerichtet hatte.
Die Nähe Charkiws zur russischen Grenze – nur wenige Dutzend Kilometer – und die historische Verbundenheit mit Russland machten die Angriffe besonders schwer fassbar. Die Menschen kamen zu dem Verleger und fragten: „Geben Sie uns etwas zu lesen – was geschieht hier?“
Vor wenigen Wochen wagte Savtchuk einen mutigen Schritt: Er verlagerte seinen Bücher-Schutzraum nach oben – in ein neues Ladenlokal direkt an der Straße, obwohl täglich Drohnen über der Stadt kreisen. Der neue Raum ist ein hybrider Ort: Buchhandlung, Café, Veranstaltungsraum und Co-Working-Space zugleich. Inzwischen ist er zu einem kulturellen Herzstück Charkiws geworden. Möglich wurde das nur durch die Solidarität seiner Community – Freund*innen in Kyjiw übernehmen monatlich Miete und Nebenkosten.
„Die Eröffnung war ein Risiko“, sagt Savtchuk. „Aber dieser Laden ist mehr als ein Geschäft. Er ist Therapie. Widerstand. Der Beweis, dass wir noch leben.“
Das Wort ist im Krieg eine Waffe. Wir brauchen Poesie, um unsere Kultur, unsere Sprache, unsere Identität zu erneuern.“
Cherson: Bibliotheken an der Front
Ende April fährt der „Write to Exist“-Bus weiter, dieses Mal nach Cherson – eine Stadt unter Dauerbeschuss, PEN Ukraine fühlt sich Cherson tief verbunden: 2023 wurde die größte Bibliothek der Stadt, die Oles-Hontschar-Regionale Wissenschaftliche Bibliothek, gleich dreimal bombardiert. Vor den Angriffen zählte sie rund eine Million Bücher in 45 Sprachen, darunter 23.000 seltene Ausgaben. Ein Teil von ihnen konnte gerettet werden. Doch Hunderte, vielleicht Tausende seltene Bücher gingen für immer verloren.Angesichts der Zerstörung zögerte man bei PEN Ukraine zunächst, nach Cherson zu fahren. Doch dann kam ein Anruf – von Jugendlichen. Sie baten nicht um Hilfe, nicht um Essen oder Medikamente. Nur um eines: „Könnt ihr Bücher bringen?“
Als das PEN-Team am 10. März 2023 in Cherson ankam, führten die Jugendlichen es zu einem halbzerstörten Hochhaus. Im Keller wartete bereits eine Menge Menschen. „Wir hatten mit Trümmern gerechnet, mit Angst“, erinnert sich Autorin Kateryna Kalytko. „Aber was wir sahen, war Licht in den Augen. Da wussten wir: Das ist es, was zählt.“
Zwei Jahre später ist sie wieder hier – gemeinsam mit Kolleg*innen aus dem PEN-Team. Und der Hunger nach Geschichten ist geblieben. Bei Kindern. Bei Soldat*innen. Bei Minenräumer*innen. Vielleicht ist er sogar noch größer geworden.
Die Stadt Bachmatsch ist die letzte Station der viertägigen „Write to Exist“-Reise von PEN Ukraine durch die nordukrainische Oblast Tschernihiw. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Worte sind Waffen – und Literatur hält die Stellung.
„Das Wort ist im Krieg eine Waffe. Wir brauchen Poesie, um unsere Kultur, unsere Sprache, unsere Identität zu erneuern.“ So hatte es Pawlo Schymko, der Bürgermeister von Bachmatsch, Oblast Tschernihiw, während der Veranstaltung von PEN Ukraine formuliert.Literatur, so Schymko, berühre Bereiche, „die wir selbst längst vergessen haben“. In ihrer Vielschichtigkeit sei sie unverzichtbar – als Dokumentation, als Ausdruck, als Mahnung „für kommende Generationen, damit wir nicht vergessen, und begreifen: Unser Nachbar wird – so bitter es ist – wohl auf lange Sicht ein Aggressor bleiben.“
PEN Ukraine hält dagegen – mit Lesungen, Gesprächen, Büchern. Die Autor*innen schreiben weiter. Sie archivieren. Sie reisen. Denn in Slawutytsch, Semeniwka, Charkiw oder Cherson wird nicht nur mit Waffen gekämpft. Es ist ein Kampf um Erinnerung, um Sprache, um Deutungshoheit. Jedes Gedicht im Luftschutzkeller. Jedes Buch, das aus Trümmern gerettet wird. Jede Geschichte, die erzählt wird – ist Teil dieses Widerstands.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Juli 2025