Was machen KI-gestützte Musikempfehlungen mit uns?

Nightclub DJ - Artikelbild, schmal Foto: Antoine Julien / Unsplash

So wie zahllose andere Unterhaltungsplattformen im Internet nutzen Musik-Streamingdienste künstliche Intelligenz, um uns zu Songs zu lenken, die uns gefallen werden. Die Funktionsweise dieser Technologie und ihr Einfluss auf unsere Hörgewohnheiten werden die Musik nachhaltig verändern.

André Leslie

Wie der Experte Stephan Baumann erklärt, haben die KI-gestützten Empfehlungswerkzeuge, die heute weltweit zum Einsatz kommen, ihren Ursprung in einer eigentümlichen Technologie namens Grundy, die Ende der siebziger Jahre auftauchte. Dieses Offline-System empfahl Lesern Bücher, nachdem sie eine Reihe von Fragen beantwortet hatten, was es Grundy ermöglichte, sie einem Persönlichkeitstyp zuzuordnen.  

Dieses Werkzeug war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus und kann als Vorläufer von Amazons bekanntem System für Buch- und Produktempfehlungen betrachtet werden. Diese Empfehlungen tauchen unten auf der Webseite auf und werden dem Kunden auch – teilweise unaufgefordert – per E-Mail zugesandt.  

Was bei Büchern (und Filmen) funktioniert, funktioniert auch bei Musik, weshalb es nicht überrascht, dass sich zu Beginn des Jahrtausends Wissenschaftler an zahlreichen Universitäten in aller Welt daranmachten, KI-gestützte Systeme für Musikempfehlungen zu entwickeln, die im Internet eingesetzt werden konnten. 

Nach Aussage von Professor Baumann vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) war die Musikbranche damals „alles andere als erfreut“, als sie von diesen Entwicklungsbemühungen erfuhr. Die Unternehmen befürchteten, solche Systeme würden ihr einträgliches Geschäftsmodell zerstören, das auf der Talentsuche und dem Eigentum an Verwertungsrechten beruhte. Rückblickend hatten sie allen Grund zu Besorgnis.  Spotify zwei Tablets Streaming-Plattformen wie Spotify haben die Art und Weise, wie wir Musik hören, revolutioniert | Foto: Heidi Fin / Unsplash

Streamen statt kaufen

Spulen wir 15 bis 20 Jahre vor: Die beweglichen Teile der globalen Musikindustrie haben sich vollkommen verändert. Einige der größten Musiklabels haben überlebt, aber ihre Einnahmen erzielen sie mittlerweile im Wesentlichen mit dem Streaming über Anbieter wie Spotify und Pandora.  

Rund 40% der Nutzer von Spotify verwenden ihre App mit einer „offenen” Geisteshaltung, was bedeutet, dass sie bereit sind, sich Musik anzuhören, die ihnen auf der Grundlage ihres Konsumverhaltens empfohlen wird. Mit Buttons wie „Entdecken“, „Radio”, „Ähnliche Künstler“ oder „Aktueller Titel“ kann der Hörer empfohlene Inhalte auswählen. Der Streaming-Riese sammelt auch stilistisch ähnliche Songs in seinen beliebten Playlists mit Titeln wie „Monster Dance Hits” oder „Indie Brandneu“. Rund ein Drittel der gesamten Hörzeit auf der Plattform entfällt auf die von Spotify zusammengestellten Playlists. 

Anfangs verwendete Spotify ein relativ einfaches Empfehlungssystem, aber nachdem das Unternehmen im Jahr 2014 die technologische Kompetenz von The Echo Nest – das von einer Gruppe herausragender amerikanischer Forscher betrieben wurde – gekauft hatte, begann es, aktiv KI-Technologie einzusetzen, um seinen Nutzern genau das anzubieten, was sie wollten. Es gibt sogar Berichte darüber, dass das Unternehmen mittlerweile von inexistenten Bands auf Bestellung Songs schreiben lässt, die direkt in seinen Playlists auftauchen; Spotify weist derartige Berichte entschieden zurück. 

Wie dem auch sei, auf dem neuen Musikmarkt wird jede unserer Bewegungen aufgezeichnet, egal welchen Streamingdienst wir nutzen. Es überrascht nicht, dass viele Musiklabels mittlerweile mit Spotify und anderen Musikstreaming-Anbietern zusammenarbeiten, um aktuelle Daten dazu zu sammeln, welche Art von Songs bei den Hörern gut ankommt.  Ein Mann im Anzug hört Musik Haben Sie gestern in der Mittagspause ein Lied shazamt? Es wurde irgendwo in einer Datenbank gespeichert | Foto: Nick Fewings / Unsplash  

Musikgenuss in der (Feedback-) Schleife

Der in Montreal ansässige Musikanalyst Hubert Léveillé Gauvin ist überzeugt, dass die KI-gestützten Musikwerkzeuge in den letzten zwei Jahrzehnten das Verhalten der Hörer verändert haben. Beispielsweise bezeichnet er Apples frühen Playlist-Algorithmus „Genius“ liebevoll als „Westentaschen-Musikexperten“. Aber er ist sich der Tatsache bewusst, dass die mit einem Finger zu bedienende Technologie einen Haken hat. 

„Systemempfehlungen und Algorithmen sind sehr nützliche Werkzeuge“, erklärt er. „Aber sie arbeiten mit unseren bestehenden musikalischen Vorlieben, was zur Entstehung einer Feedback-Schleife führt, in der wir ermutigt werden, uns immer mehr von jener Art von Musik anzuhören, die uns ohnehin schon gefällt.“  

„Das hat Ähnlichkeit mit den Filterblasen der sozialen Medien, die dafür sorgen, dass wir nur noch mit Inhalten versorgt werden, die unserer Weltsicht entsprechen.” 

Professor Jamie Sherrah vom Institut für Informatik der Universität Adelaide ist zudem der Meinung, dass Musikstreamingportale wie Spotify oder Apple Music, die uns innerhalb von Sekunden Zugang zu Millionen Songs geben, die moderne Musik entwerten. 

„Die Stile und Songs sind ungeheuer vielfältig und entwickeln sich stetig weiter, und das kann dazu führen, dass das Talent und die Kreativität, die im einzelnen Kunstwerk stecken, gewöhnlich wirken“, erklärt Sherrah.  

Dazu kommt, dass uns KI-gestützte Werkzeuge nach Einschätzung Sherrahs einerseits in die Lage versetzen, die Musik, die uns am besten gefällt, schneller zu finden – uns andererseits jedoch vom Musikgenuss in Gemeinschaft anderer Menschen abhalten. 

„Angesichts des Übermaßes an künstlerischen Angeboten wenden sich die Leute einer musikalischen Subkultur mit spezifischen Genres, Künstlern und Werten zu, was den Vorteil hat, dass diese spezifische Musik gut konfigurierbar ist.“ 
Scorpions Jamie Sherrah sagt, Musikfans neigen jetzt dazu, sich auf eine bestimmte Subkultur bestimmter Genres zu konzentrieren | Foto: Colourbox
Professor Daniel Shanahan von der Ohio State University glaubt, dass die Musikstücke selbst infolge des Übergangs zu einer „Aufmerksamkeitsökonomie“ markanter und kürzer werden. Diese Theorie besagt, dass angesichts eines wachsenden Überflusses an augenblicklich im Internet zugänglichen Inhalten die Aufmerksamkeit unserem Informationskonsum Grenzen setzt.  

„Unsere ständige Verbindung mit dem Netz verändert unser augenblickliches Verhalten”, erklärt Shanahan.  

Personalisierte Musik  

Stephan Baumann glaubt, dass wir noch in diesem Jahrzehnt so weit sein werden, dass jeder einzelne von uns personalisierte Musik hören wird, die unter Einsatz von KI nur für ihn komponiert wird. Die Technologie, die vorhandene Song-Datenbanken in neue Songs verwandeln kann, existiert bereits; warum sollte es also nicht möglich sein, anhand eines ähnlichen Werkzeugs gestützt auf die Geschichte unseres bisherigen Musikkonsums neue Songs zu erzeugen? Baumann, der selbst Teilzeitmusiker ist, befürchtet deshalb jedoch keine „dystopische Zukunft.“ 

„Für mich ist es einfach ein sehr, sehr fortschrittliches Werkzeug”, sagt er. „Ein Drumcomputer, ein Sampler, AI-generierte Musik. Kein Problem. Ich werde weiterhin Spaß mit meinen Musikmaschinen haben, wenn ich meine eigenen Songs schreibe.” 

Allerdings fragt er sich: „Aber warum? In die Maschine ist ja kein Gespür für Leben oder Tod eingebaut.” 

Auch Hubert Léveillé Gauvin glaubt nicht, dass unsere wachsende Abhängigkeit von KI-gestützten Empfehlungssystemen das Ende unserer musikalischen Eigenständigkeit bringen wird. Er ist der Meinung, dass wir lediglich mehr Zeit brauchen, um zu lernen, diese musikalischen Werkzeuge richtig einzusetzen.  

„Wenn Technologie und Nutzer gemeinsam reifen, bin ich überzeugt, dass es uns gelingen wird, diese technologischen Innovationen zu nutzen, um unseren musikalischen Horizont zu erweitern, anstatt ihn zu begrenzen.“

Stephan BaumannHubert Léveillé Gauvin und Jamie Sherrah geben weitere Stichworte über die Zukunft der kreativen KI auf ihren Netzwerk-Profilen.

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