Libanon

Dez. 2020

Corona-Spezial  4 min Regierung überging Menschen mit Behinderung

Bild eines Posters mit arabischer Schrift sowie einem Rollstuhlsymbol, Braille und Gebärdensprache © Firas Hamiye

Menschen mit Behinderung zählen zu den sozialen Gruppen, die durch Missstände und Katastrophen am stärksten gefährdet sind – so auch im Fall der COVID-19-Pandemie. Dies erfordert von Regierungen, bei ihrer Krisenplanung konkret auf die Bedürfnisse dieser Gruppe einzugehen. Konnte also die libanesische Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus Hoffnungen und Erwartungen beeinträchtigter Menschen erfüllen?

Menschen mit Behinderung wie auch Kinder, Frauen und ältere Menschen zählen zu den sozialen Gruppen, die durch Missstände und Katastrophen am stärksten gefährdet sind, seien es gesellschaftliche Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung, zwischenmenschliche Gewalt in Kriegen und anderen Konflikten oder die Gewalt der Natur – wie bei Epidemien und Pandemien. Um diese Gefährdung zu reduzieren müssen Regierungen Pläne entwickeln, die effektiv auf die Bedürfnisse dieser Gruppen im Allgemeinen und beeinträchtigter Menschen im Besonderen eingehen. Konnte die libanesische Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus Hoffnungen und Erwartungen in dieser Hinsicht erfüllen?

Human Rights Watch kam zu dem Schluss, dass „[d]ie Pläne der libanesischen Regierung zur Bekämpfung des Coronavirus Personen mit Behinderung übergangen haben. Sie hatten keinen gleichwertigen Zugang zu Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Fernunterricht, um durch die Krise zu kommen“.

Auch Silvana al-Qais, Präsidentin der Libanesischen Union für Menschen mit körperlichen Behinderungen, schloss sich im Gespräch mit mir dieser Meinung an. Insbesondere kritisierte sie den mangelnden Zugang zu Informationen über das Virus für Menschen mit Behinderung und die fehlende Rücksichtnahme auf dieses gesellschaftliche Gruppe in den Notfallplänen.

Während „individuelle Initiativen und internationale Organisationen wie UNICEF einige Materialen zur Aufklärung über das Coronavirus für Menschen mit Behinderung entwickelt“ haben, fehlten derart barrierefreie Regierungskampagnen im Fernsehen und in den sozialen Medien gänzlich.

Menschen am Rand der Gesellschaft – und urbaner Zentren

Die geographischen Verteilung von Menschen mit Behinderung innerhalb Libanons hat eine wesentliche Rolle bei der Eskalation ihrer Lage gespielt. Die meisten Leistungen sind auf die Hauptstadt Beirut zentriert, während sie in peripheren Regionen wie Baalbek, der Bekaa-Ebene, in den Grenzregionen zu Syrien oder in abgelegenen Dörfern fehlen oder nicht ausreichen.

Nach der Explosion in Beirut am 4. August verlagerten sich auch diese in der Peripherie vorhandenen Leistungen, vor allem auch die der Nichtregierungsorganisationen, in die Hauptstadt, um die Verletzten und Geschädigten dieses Unglücks zu unterstützen. So vergrößerte sich die Isolation und Hilflosigkeit beeinträchtigter Menschen um ein Vielfaches.

Probleme häuslicher Isolation

Laut Silvana al-Qais machen Menschen mit Behinderung 15 Prozent der Bevölkerung Libanons aus. Während der Pandemie hinderten Ausgangssperren auch diese Personen daran, ihr Haus zu verlassen, um sich mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen oder dringende gesundheitliche Behandlungen und Therapien fortzuführen. Die Polizei begann Strafen an jeden, der die Regierungsmaßnahmen missachtete, zu verhängen, ohne dabei die spezielle Situation von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen waren sie kaum in der Lage, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen und sich aus wirklich wichtigen Gründen von einem Ort zum anderen zu begeben.

Menschen mit Behinderung sind für die Erfüllung ihrer tagtäglichen Grundbedürfnisse oft sehr stark auf soziale Dienstleistungen, die im Libanon die örtliche Gemeinde und Nichtregierungsorganisationen bereitstellen, angewiesen. Notfallmaßnahmen wie Selbstisolation und Quarantäne schürten Ängste, dass diese Leistungen ganz eingestellt werden könnten, was bei Menschen mit Behinderung zu Angstzuständen, Depressionen und Verzweiflung führen kann und dies in einer Zeit, in der Programme für psychische Gesundheit, psychosoziale Unterstützung und finanzielle Hilfen schwinden.

Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt

Libanon ist abhängig von Spenden und Schenkungen von außerhalb, so wie Menschen mit Behinderung abhängig von den Hilfen und Beiträgen der Zivilgesellschaft, bestehend aus lokalen und internationalen Vereinen und Organisationen, sind. Sie stellen medizinische Ausstattung, Medikamente, Heizöl, Bewegungshilfen und andere lebenswichtige Güter bereit.

Im Libanon ist die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung sehr hoch. Doch auch die Arbeitnehmer*innen unter ihnen haben in den meisten Fällen keinen festen Job und kein regelmäßiges Einkommen, sondern verdienen sich als Tagelöhner. Manch andere haben kleine Einkommen als Freiberufliche.

Bereits vor der Corona-Krise ließ der Staat Menschen mit Behinderung im Stich; das heißt, sie wurden politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Aber die traurige Wahrheit ist, dass sie während der Krise zu Opfern einer gravierenden Ungleichheit in Sachen Arbeitsmarktpartizipation, Gehältern und Sozialleistungen geworden sind.

Aber wo finden Menschen mit Behinderung im Libanon eigentlich Arbeit? Manche betreiben kleine Straßenläden für Kaffee („Express“), verkaufen Handy-Ladekarten von zuhause aus oder betreiben einen Mini-Supermarkt. Manche arbeiten auch als Tagelöhner in Einzelhandelsgeschäften oder verrichten andere Arbeiten ohne Garantie auf Stabilität und Sicherheit. Bei dem Umstand, dass Menschen mit Behinderung meist unter dem Mindestlohn bezahlt werden, ist natürlich ein eklatanter Verstoß gegen das libanesische Arbeitsgesetz. Gesetzlich ist ein Mindestlohn für jeden vorgeschrieben und festgelegt und private und staatliche Institutionen sind verpflichtet, diese Menschen zu integrieren.

Das Arbeitsgesetz legt einen Mindestlohn von 675 000 L£ (ca. 364 EUR) fest, was angesichts der exorbitanten Preise im Libanon schockierend niedrig ist. Nicht zu vergessen ist auch der hohe Wechselkurs des amerikanischen Dollars in den letzten zehn Monaten, was die Preise um über 70 Prozent ansteigen ließ. Im Jahr 2000 beschloss Libanon ein Gesetz zur Integration von Personen mit Behinderung in alle Bereiche, doch bis heute, zwanzig Jahre nach Erlass des Gesetzes 220/2000, gibt es keine Durchführungsverordnungen, sodass das Gesetz nie in die Praxis umgesetzt wurde. Statistiken besagen, dass 81 Prozent der Menschen mit Behinderung arbeitslos sind – und das ist der Stand vor COVID-19!

Fernunterricht

In den Schulcurricula wird auf Menschen mit verschiedenen Formen der Beeinträchtigung – wie Hör-, Seh- und Sprachbehinderungen – keine Rücksicht genommen. Es werden auch keine besonderen Hilfsmittel für Lernende mit besonderen Bedürfnissen oder Lernmodi, die stärker auf Praxis, Erfahrung und Teilnahme statt auf Theorie setzen angeboten. Möglicherweise sollte der Lernprozess auch auf gesundheitliche Bedürfnisse wie Physio- und Sprachtherapie (z. B. für Kinder, die stottern), Ergotherapie, kinästhetischen Behandlungen und anderen Rehabilitationsformen eingehen.

Im Gespräch mit Amer Makaram, dem Leiter des Jugendvereins für blinde Menschen, sagt dieser: „Der Unterricht über das Internet, insbesondere die Bilder und Videos, sind meist für Kinder mit Sehbehinderung nicht zugänglich“. Auch macht er auf das Dilemma blinder Menschen aufmerksam, die im täglichen Leben maßgeblich auf Berührungen mit ihren Händen angewiesen seien, was es ihnen unmöglich mache, sich an Abstandsregeln zu halten, und das Risiko auf Virenübertragung erhöhe. Auch für gehörlose Kinder sei das Fernlernen voller Herausforderungen. Theoretisch müsste der Lehrer spezielle Übersetzungsprogramme und die Gebärdensprache verwenden, was aber ebenso mit Schwierigkeiten einhergehe.

Im Rahmen der aktuellen Finanzkrise, die Libanon erlebt, haben sich die Preise für elektronische Geräte wie Telefone, Laptops oder IPods extrem erhöht. Sonia Khoury, Direktorin der Abteilung für ganzheitliches Lernen am Ministerium für Bildung, berichtet mir: „Das Fehlen elektronischer Geräte, besonders in großen Familien mit mehr als einem Schulkind, und die schlechte Infrastruktur für Stromversorgung und Internetanschluss stellen Herausforderungen für das Ministerium für Bildung dar. Es kann nicht alle Probleme des libanesischen Staats allein lösen“.

Gesundheitliche Probleme

Da Kinder mit Behinderung tägliche Aktivitäten und Bewegungsabläufe nicht wie andere normal ausüben können, ist ihr Immunsystem geschwächt. Sie nehmen oft leider nicht an Sport-, Musik- und Kunstaktivitäten, die ihren Blutkreislauf stimulieren könnten, teil. Dies schlägt sich auch in ihrer mentalen Gesundheit nieder, gerade jetzt während der Pandemie, wenn sie ihres normalen Tagesablaufs beraubt sind und die Zeit in Isolation verbringen. So kann es in der häuslichen Enge und angesichts der Unmöglichkeit, das Schulumfeld zu ersetzen, zu ungesunden Verhaltensweisen, Wut und Reizbarkeit kommen.

Je nach Stärke und Art der Behinderung, kann ein geschwächtes Immunsystem gesundheitliche Probleme bei Menschen mit Behinderung verursachen. Silvana al-Qais berichtet von einer großen Anzahl von Anrufen, die bei der Libanesischen Union für Menschen mit körperlichen Behinderungen eingegangen ist, weil die Menschen nicht an wichtige Medikamente oder Hilfsmittel wie Atemgeräte kommen. Sie beklagt außerdem, dass „die Quarantänezentren technisch nicht für Menschen mit Behinderung ausgestattet sind. Auch die Krankenhäuser können keine besonderen Leistungen für stärker gefährdete Menschen mit Behinderung bieten. Und in dem Fall, dass eine beeinträchtigte Person an Corona erkrankt und zuhause bleibt, benötigt sie vielleicht die Pflege von einer oder zwei Personen aus dem Familienkreis, was bedeutet, dass sie die Krankheit auf diese überträgt“.

Ghawa (28 Jahre) ist eine junge kleinwüchsige Frau, die bereits eine Corona-Erkrankung hinter sich hat. Sie erzählt: „Mein Immunsystem ist schwach und meine Lunge klein. Ich habe extreme Vorkehrungsmaßnahmen ergriffen, die an Obsession und Angst grenzten. Und dennoch habe ich mich während meiner Arbeit als Sozialarbeiterin angesteckt“. Sie fügte hinzu: „Es war eine schmerzhafte Erfahrung. Ich war kurz davor zu sterben, weil der Virus so aggressiv war“.

Zwischen Corona und Hunger

„Mein Mann hat eine Anlage zum Verkauf von Kaffee und Tee [„Express“], aber die Behörden zwangen ihn, zu schließen und dadurch verloren wir unsere Lebensgrundlage. Die Behörden verhängten gegen meinen Mann sogar eine Strafe von 500 000 L£ [ca. 270 EUR], weil er sich nicht an die Regeln hielt und den Laden nicht zumachte. Aber für uns gibt es keine alternativen Lösungen. Was sollen wir denn machen? Wir sterben entweder an Corona oder vor Hunger!“ Und Zainab Wahoud (30 Jahre), die eine körperliche Behinderung hat, erzählt: „Die Situation ist schwierig, besonders als Ehefrau und Mutter eines einjährigen Sohns. Auch mein Mann ist motorisch beeinträchtigt, was uns als Familie vor schwierige Herausforderungen stellt“.

Es darf nicht unterschlagen werden, dass das Coronavirus katastrophale Auswirkungen in palästinensischen und syrischen Flüchtlingslagern hat. Dort leben die Menschen auf engstem Raum zusammen und haben keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Flüchtende, die zusätzlich noch eine Behinderung haben, leiden im Libanon unter besonders großen Hürden ihre grundlegendsten Bedürfnisse nach Unterkunft, Wasser, Sanitäranlagen oder medizinische Versorgung zu erfüllen.

Angesichts des aktuellen Preiswahnsinns stecken viele Menschen in einer gefährlichen Sackgasse und können ihre Miete für Haus, Geschäft oder – in den Flüchtlingslagern – Zelt kaum zahlen. Dies wird tausende von Menschen mit Behinderung und deren Familien dem Druck von Vermietern aussetzen. In den meisten Gouvernements und Distrikten Libanons hat es Treffen zwischen Betroffenen, Bürgermeistern und Verantwortlichen der zuständigen Ministerien gegeben, wo die Verteilung von Nahrungsmittelhilfen oder einer Summe von 400 000 L£ (ca. 216 EUR) beschlossen wurde. Aber der derzeitige Bedarf übersteigt das vom Staat Gebotene bei Weitem. Außerdem wurden Familien, die einen oder mehrere Menschen mit Behinderung versorgen, nicht explizit erwähnt. Hier gilt nur eine Ausnahme für beeinträchtigte Menschen anderer Nationalitäten.

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