Schätzungen des libanesischen Bildungsministeriums und des UN-Flüchtlingskommisariats (UNHCR) zufolge haben zehn Prozent der syrischen Schüler*innen im Libanon im vergangenen Jahr die Schule frühzeitig verlassen. Die Rückkehr der Kinder in die Klassen zeigt jedoch, dass diese Quote weitaus höher liegen könnte.
Mit dem Ausbruch des Coronavirus im Libanon wuchsen auch die Sorgen syrischer Schüler*innen im Land. Viele neue Kosten kamen auf die Familien zu, vor allem um zuhause die richtigen Bedingungen für den Fernunterricht zu schaffen. Einen neuen Computer, ein Smartphone oder eine Internetverbindung konnten sich viele Familien nicht leisten. Dazu kamen die Stromkosten, die in dieser Zeit aufgrund steigender Benzinpreise und daraus resultierender Engpässe Rekordhöhen erreichten.Zu den vielen syrischen Kindern, die in der Coronazeit unter diesen Schwierigkeiten litten, ist Walid (12) aus Homs. Wenn er nicht gerade die Schulbank drückt, hilft der Junge seinem Vater bei der Arbeit als Straßenverkäufer. Walid teilt sich zu Hause einen Computer mit seinen zwei Schwestern, Nada (9) und Manal (11). Obwohl die Kinder ihre Zeit vor dem Bildschirm gut organisieren, haben Stromausfälle ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Walid hat dadurch viele Schulstunden verpasst. Nun ist auch er in die Schule zurückgekehrt. Die Maskenpflicht halten dort nur wenige ein. Von den Abstandsregeln habe er „schon einmal im Fernsehen gehört“, aber sowas in der Schule durchzusetzen sei unmöglich, weil sie einfach viel zu viele Kinder seien.
Humanitäre Organisationen schätzen, dass mehr als eine Million syrische Kinder nicht zu ihren Schulbänken zurückkehren, laut Save the Children sogar 1,2 Millionen. Hier hört das Problem jedoch nicht auf: Eine Studie derselben Organisation hat gezeigt, dass libanesische Kinder im letzten Corona-Jahr nur etwa elf Wochen Schulunterricht hatten; dieser Durchschnitt lag für syrische Geflüchtete noch niedriger. Diese Probleme bestanden bereits vor der Pandemie und es wird erwartet, dass sich die Lage auch in Zukunft eher verschlechtert. Den Quellen des libanesischen Bildungsministeriums ist zu entnehmen, dass die Zahl syrischer Schüler*innen im Libanon etwa 150 000 beträgt. Ihre Bildung kostet den Staat im Jahr zwischen 80 und 95 Millionen US-Dollar. Der Libanon erhält Unterstützung vonseiten mehrerer Länder, die den Großteil (etwa 83 Millionen US-Dollar) tragen, vor allem durch die Europäische Union. Aufgrund der schweren wirtschaftlichen Krise kann der libanesische Staat jedoch auch diesen Restbetrag, mag er im Vergleich auch noch so klein erscheinen, kaum stemmen, wie die Quellen zeigen.
Ungleichheiten in der Bildung
Mit der Rückkehr der Kinder in die Schulen hat sich nichts im Vergleich zur vorpandemischen Situation gebessert: Im Libanon gehen die Kinder nicht zur denselben Zeiten in die Schule und, wie im Rest der Welt, erhalten sie auch nicht dieselbe Bildung, ob im Klassenraum oder Fernunterricht. Auch im Libanon gibt es zwei parallele Systeme öffentlicher und privater Schulen. Durch die Wirtschaftskrise, die zeitgleich mit der Coronapandemie eintrat, haben sich die Unterschiede in der Bildungsqualität weiter verschärft. Geflüchtete Kinder werden im Land ganz grundsätzlich diskriminiert: Im öffentlichen Bildungssystem dürfen sie zum Beispiel nicht am Vormittagsunterricht gemeinsam mit den anderen Kindern teilnehmen – dies ist nur an Privatschulen möglich, wo sie die hohen Studiengebühren selbst tragen müssen. In einer Vereinbarung zwischen Libanon und der Europäischen Union werden die Kosten dafür, ein syrisches Kind im Nachmittagsunterricht anzumelden, mit 600 US-Dollar angelegt. Dieser Betrag sinkt auf 363 US-Dollar, wenn die Kinder zur normalen Zeit, also am Vormittag, gemeinsam mit libanesischen Kindern den Unterricht besuchen – und doch gehen die meisten syrischen Schüler*innen am Nachmittag in die Schule. Zu Beginn gaben die Behörden dafür logistische Gründe an und verwiesen auf die Unmöglichkeit, eine so große Anzahl zusätzlicher Kinder in die bereits vollen Klassen zu integrieren. Aber auch andere Gründe spielen hier eine Rolle, wie die unterschiedlichen Lehrpläne beider Gruppen. Viele Pädagog*innen kritisieren die derzeitige Lösung jedoch als reine Diskriminierung gegenüber syrischen Schüler*innen.Die Impfkluft wächst
Generell ist ohne handfeste wissenschaftliche Studien kaum einschätzbar, wie sich der Fernunterricht für die meisten Kinder während der Coronapandemie gestaltet hat. Sicher ist jedoch, dass Geflüchtete aufgrund ihrer schwierigen Finanzen diese Zeit nur schwer überstanden haben. Ihr Zugang zu qualitativen Bildungsangeboten wurde weiter beschränkt und bleibt auch jetzt erschwert. Zurück in der Schule warten viele Probleme auf die Flüchtlingskinder, allen voran die Gefahren durch das Virus selbst. Weder das Gesundheitsministerium noch die humanitären Organisationen konnten uns Auskunft über die Zahl der geimpften Kinder geben. Das Ministerium gibt an, dass ein gewisser Prozentsatz der Erwachsenen die Pfizer- und AstraZeneca-Impfstoffe erhalten hat, aber genaue Angaben über Impfstoffempfänger*innen liegen nicht vor.Der Vorsitzende des Nationalkomitees für die Verabreichung von Corona-Impfstoffen, Abdul Rahman Bizri, wies in einem Interview darauf hin, dass sich nur etwa 5 Prozent der syrischen Geflüchteten bei den offiziellen Impfkampagnen registriert hätten. Die Quote sei unter Palästinenser*innen besser, da „palästinensische Geflüchtete im Libanon klare politische und behördliche Bezugspunkte haben, im Gegensatz zu syrischen Geflüchteten, die kämen und nach Syrien zurückehrten, ohne sich im Libanon geordnet niederzulassen“. Einige Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, die hier anonym bleiben wollen, bestätigten, dass die Impfquote bei Libanes*innen sehr viel höher liege als bei Geflüchteten. Für Kinder zwischen 12 und 16 Jahren hat das Nationale Wissenschaftskomitee zur Coronapandemie im Libanon erst vor einem Monat die Erlaubnis zur Impfung erteilt. Auch hat es angeordnet, die Zulassung des chinesischen Impfstoffs Sinopharm um sechs Monate zu verlängern, damit Kinder genug Zeit hätten, sich auf der offiziellen Plattform zu registrieren und einen Termin zu machen. Die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten wartet jedoch weiterhin darauf, an die Reihe zu kommen.
Syrische Schulkinder werden auch in einer anderen, entscheidenden Phase ihrer Schullaufbahn diskriminiert: bei der Zulassung zu Prüfungen. Im Libanon müssen Schulkinder an zwei offiziellen Prüfungen teilnehmen, im neunten Schuljahr (das französische Brevet nach libanesischem Lehrplan) und im dritten und somit letzten Jahr der Oberstufe (das französische Baccalauréat nach libanesischem Lehrplan). Ohne diese zu bestehen, können sie ihre Bildung nicht fortsetzen. An Prüfungstagen verlassen die Kinder ihre Schulgebäude, um die Prüfungen unter der alleinigen Aufsicht des Bildungsministeriums abzulegen; auch die Korrekturen werden ausschließlich von einem speziellen Komitee vorgenommen. Der gesamte Prozess ist umstritten. Flüchtlingskindern, besonders denen syrischer Familien, ist seit langer Zeit eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme an den Prüfungen auferlegt: eine gültige Aufenthaltsgenehmigung im Libanon. Dies ist eine Bedingung, die die meisten Geflüchteten nicht erfüllen können – besonders aufgrund ihres Status: Der Libanon klassifiziert sich selbst nicht als Flüchtlingsland und erkennt den Flüchtlingsstatus von Syrer*innen nicht an; sie gelten stattdessen als Zwangsvertriebene („displaced persons“). Syrische Kinder zahlen einen hohen Preis für diese politische Ungerechtigkeit. Hoffnung gibt es nur dann, wenn das Bildungsministerium die Bedingung erlässt, zum Beispiel aus humanitären Gründen und weil es unmöglich ist, den Status eines Kindes unter Ausschluss seiner Familie zu legalisieren. Kinder wie Jannan (14) müssen weiter bangen. Ihre Mutter betont, dass Jannan ohne die Aufhebung der Aufenthaltsvoraussetzung nicht an den Prüfungen teilnehmen werden könne. So würde sie mindestens ein Jahr ihres Lebens, vielleicht sogar mehrere, verlieren.
Nach der Pandemie ist (nicht) vor der Pandemie
Obwohl sich die Lage auch mit anhaltender Pandemie langsam normalisiert, ist Mohammed (9), der seit vier Jahren im Libanon wohnt, nicht zurück in der Schule. Auch wenn er sich für den Nachmittagsunterricht anmelden könnte, kann sich die Familie das nötige Schulzeug wie Bücher und Stifte, ganz zu schweigen von den teuren Transportkosten, für Mohammed und seine sechs Geschwister nicht leisten. Seitdem der Preis für einen Kanister Benzin 213 000 libanesische Lira (etwa 12 US-Dollar) erreicht hat, ist das Auto keine Option mehr. Für ein Jahresticket nehmen Busfahrer pro Schüler*in zwischen einer und anderthalb Millionen Lira (etwa 80 USD) – wodurch sich die Kosten für die gesamte Familie für die Busfahrt allein auf 6 bis 9 Millionen libanesische Lira belaufen würden. Mohammeds Vater beschreibt diese Summe als „unmöglich, im wahrsten Sinne des Wortes“. Mit den Hilfen, die die Familie von der UN erhält, kann sie kaum die Miete für das Haus, Essen und Trinken bezahlen. Obwohl dem Vater die tiefe Unzufriedenheit über die Situation seiner Familie anzusehen ist, scherzt er: „Die Corona-Zeit war sozusagen leichter für uns“. In Armut und Leid sind die Geflüchteten mit vielen ihrer libanesischen Nachbarn vereint.Januar 2022