Viele Libanes*innen sind aufgrund wirtschaftlicher und politischer Umstände ausgewandert. Sie waren gezwungen, einen sicheren Hafen fernab von anhaltenden Konflikten und der drohenden Armut zu suchen. Einige träumen von einer Rückkehr, doch die Mehrheit weiß, dass diese Option aufgrund der aktuellen Krisen im Land derzeit nur schwer umsetzbar ist. Gibt es etwas, das Libanes*innen mit ihrer Heimat effektiv verbindet? Hanan Hamdan beleuchtet die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei der Verbindung libanesischer Auswander*innen mit ihrer Heimat.
Im Laufe seiner Geschichte erlebte der Libanon mehrere Wellen der Migration. zwar existieren keine offiziellen Angaben zu den Migrantenzahlen, aber allein im Zeitraum zwischen 2016 und 2024 kehrten laut dem unabhängigen libanesischen Statistikanbieter „Daten International“ ca. 640.000 Libanesen ihrem Heimatland den Rücken zu. Die Bevölkerungszahl des Libanons wird auf ca. 5 Millionen Einwohner geschätzt.Viele Libanesen sind zu verschiedenen Zeiten aus dem Libanon emigriert. Einige träumen von der Rückkehr, die meisten aber wissen, dass das aufgrund der aktuellen Krisen im Land derzeit kaum realistisch ist.
Die 22-jährige Josiane Abi Tayi aus Zahle (im Osten des Libanon) gehört zu denen, die ausgewandert sind. Im Jahr 2004 ging sie nach Frankreich: „Ich liebte das Leben im Libanon“, sagt sie, „aber das Schicksal hat mich nun hierher verschlagen. Ich bekam damals ein Jobangebot und wollte diese Erfahrung machen“.
Von Zahle nach Frankreich: Sehnsucht nach der Heimat
Im Alter von vier Jahren verlor Josiane während des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) ihren Vater. Sie wuchs in einer fünfköpfigen Familie in ihrer Heimatstadt Zahle auf und zog dann für das Studium in die Hauptstadt Beirut. Nach ihrem Abschluss ging sie nach Frankreich gegangen, um dort zu leben und zu arbeiten.
Josiane denkt oft an den Libanon zurück, die „erste Heimat“, wie die Auswanderer sie nennen. Sie sagt: „Ich vermisse die Wärme der Familie, die Traditionen der Stadt und das einzigartige Lebensgefühl von Zahle.“ Eine Rückkehr nach Frankreich kommt für sie derzeit nicht in Frage: „Ich will meinen Kindern ein stabiles und sicheres Umfeld bieten. Das ist im Libanon derzeit nicht möglich, aber wir arbeiten daran“.
Die Verbindung der Auswanderer zu ihrer Heimat war in der libanesischen Gesellschaft schon immer da, aber durch die vielen Krisen ist sie noch viel stärker geworden. Früher war zeigte sich die Verbundenheit vorwiegend in Form von Hilfseinsätzen, humanitären und sozialen Diensten. Inzwischen haben Auswanderer aber auch Vereine und Gruppierungen gegründet haben, die sich in in der libanesischen Politik engagieren.
Genau aus diesem Grund gründete Abi Tayi in Frankreich den „Verein Zahle“, als Plattform zur Vernetzung unter den in Frankreich lebenden und aus Zahle stammenden Auswandern, und zur Stärkung der Bindung an ihre Heimatstadt: „Durch den Verein konnten wir die Traditionen unserer Stadt wiederbeleben und als sich die Krisen im Libanon verschärften wurde aus dem Verein ein Unterstützungsnetzwerk, zum Beispiel im Rahmen von humanitären Aktionen wie die Lieferung von Heizöl an hundert Familien im Winter.
Weil sie wie viele Libanesen eng mit ihrer Heimat verbunden ist, kehrt Josiane zweimal jährlich ins Land zurück, zusammen mit ihren Kindern, die den Libanon als festen Bestandteil ihrer Identität betrachten.
Aufeinanderfolgende Krisen und Migration
Seit Ende 2019 erlebten die Libanesen die Folgen der schlimmsten Wirtschaft- und Währungskrise in der Geschichte des Landes. Die einheimische Währung brach zusammen, die Löhne sanken und die Bankersparnisse gingen verloren. Dadurch stieg auch die Zahl der Auswanderer an, insbesondere unter der jüngeren Generation. Es folgten die Corona-Pandemie, die Explosion im Hafen von Beirut am 04.08.2020 und schließlich der israelische Krieg geben den Libanon (23.09. bis 27.11.2024).All diese aufeinanderfolgenden Krisen führten zu einer noch stärkeren Unterstützung des Libanons durch die Auslandslibanesen. Oft spielten dabei die Nichtregierungsorganisationen eine zentrale Rolle.
„ZAHA“ kümmert sich um Ausgewanderte aus Zahle
Eine dieser Organisationen ist die „Zahle Hometown Association“ (ZAHA), eine im Jahr 2018 gegründete NGO. Sie geht auf die Initiative des früheren Bürgermeisters von Zahle, Asaad Zaghib, zurück.„Wir wollten die verstreuten Mitglieder der Gemeinschaft wieder zusammenbringen und haben versucht, diese Beziehung zu festigen und ihr durch die Vereinigung ZAHA eine institutionelle Grundlage zu geben“, erläutert Amin Issa, der Vorsitzende der Vereinigung, und ergänzt: „Seit der Gründung haben wir die Auswanderer dazu gebracht, den Kontakt zu halten. So sind wir zur Brücke zwischen den Auswanderern und den vor Ort in Zahle lebenden Menschen geworden, zwischen Einzelpersonen und Vereinen. Das zeigte sich insbesondere bei der humanitären Hilfe für die bedürftigsten Einwohner nach der Krise von 2019.“
Amin Issa | ©Private
Der Verein arbeitet gemeinsam mit im Ausland lebenden Menschen aus der Stadt daran, finanzielle Unterstützung und Sachspenden wie darunter Lebensmittel und Medikamente für verschiedene Bevölkerungsgruppen vor Ort zu organisieren. Zudem engagieren sich die Mitglieder im Ausland kulturell, sozial und wirtschaftlich: Auf Initiative von ZAHA unterstützten sie die Restaurierung mehrerer Altbauten nach Standards, die das architektonische Erbe der Stadt bewahren, sowie die Einrichtung eines Spiel- und Freizeitbereichs für Kinder in den öffentlichen Parkanlagen.
Die Stadt Zahle liegt in der Bekaa-Ebene und wird auch „Braut von Bekaa“ bekannt. Die Zahl der Auswanderer aus Zahle wird auf mehrere Zehntausend geschätzt.
Über die unmittelbare Verbesserung der Lebensverhältnisse hinaus ermutigt ZAHA im Ausland lebende Menschen aus Zahle, in ihrer Heimatstadt zu investieren und Unternehmen im Bereich Produktion und Tourismus zu entwickeln, um so der Abwanderung junger Menschen entgegenzuwirken. Zur Stärkung des Austauschs innerhalb der Diaspora organisierte der Verein drei Diaspora-Konferenzen, die Einzelpersonen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen in Zahle mit Diasporavertretern zusammenbrachten. Ziel war es, sie mit der Lage und den Nöten der Stadt vertraut zu machen und zu zeigen, wie Zahle durch das Zusammenspiel seiner beiden „Flügel“, der Daheimgebliebenen und der Ausgewanderten, widerstandsfähig bleibt.
NGO „Kuluna Irada“ („wir alle wollen“)
Es gibt im Libanon ein weiteres Beispiel für die Verbindung und Interaktion von Auslandslibanesen mit dem Libanon, wie „Kuluna Irada“ zeigt, eine im Jahr 1918 gegründete NGO, die sich für soziale, ökonomische und politische Reformen im Land einsetzt.
Sie fährt fort: „Wir machen allgemeine Politik und erarbeiten Lösungen, die gut für den Libanon sind. Wir möchten das Bewusstsein für viele rechtliche Anliegen schärfen, z. B. für das Wahlrecht für Auswanderer, für finanzielle und wirtschaftliche Reformen im Land, für die syrischen Flüchtlinge, sowie für die Ausweitung der Staatshoheit, Dezentralisierung und Wiederaufbau im Libanon.“
Das neue Wahlrecht
Bei allen Unterschieden in ihren Anliegen engagierten sich die meisten NGO und Hilfsorganisationen für das Wahlgesetz Nr. 44 aus dem Jahr 2017, das in der ein Wahlrecht für Auslandslibanesen vorsieht, so auch für die für 2026 geplanten Parlamentswahlen. Das Gesetz sieht vor, dass sechs Parlamentssitze für Angehörige der Diaspora vergeben werden, die an die sechs Hauptkonfessionen verteilt werden: Sunniten, Schiiten, Drusen, Maroniten, Katholiken, Orthodoxe, die über die ganze Welt verstreut leben.
Die Kampagne „Monasarah“
Die von den Exilvereinigungen und -gruppen gestartete Kampagne fordert das Recht der Auswanderer, alle Parlamentssitze mit zu wählen. In diesem Zusammenhang haben die Auslandsgruppen einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der von mehr als 65 Abgeordneten des libanesischen Parlaments unterstützt wird. Er zielt darauf ab, „die Verbindung der libanesischen Emigranten zu ihrem Heimatland zu festigen und ihre Beteiligung an nationalen Entscheidungen zu stärken, um die Interessen des Libanon zu wahren und die Einheit der Libanesen innerhalb und außerhalb des Landes zu festigen“.Die Wahlbeteiligung der Auslandslibanesen lag 2022 bei etwa 63 Prozent von rund 225.000 registrierten Wählern, das sind etwa 7 Prozent der Gesamtwählerschaft. Damit sind sie eine wichtige Gruppe, die die Wahlergebnisse beeinflussen kann, zumal die Zahl der Auswanderer in den letzten Jahren aufgrund der zahlreichen Krisen im Libanon gestiegen ist.
Die Rücküberweisungen der Auslandslibanesen an ihre Angehörigen im Libanon belaufen sich auf rund 6 Milliarden Dollar pro Jahr. Daran zeigt sich das Ausmaß ihres Einflusses auf die Verbesserung der Situation von Individuen und Gesellschaft vor Ort und es belegt, dass sie ein wesentlicher Bestandteil dieser Gesellschaft sind.
Diaspora-Gruppen in den USA
Inmitten der Initiativen im Volk, die am 17. Oktober 2019 begannen, wurde die „Lebanese Emigrant Movement“ (LEM) gegründet, wie Abbas al-Haj Ahmad, ein libanesischer Uni-Professor und Journalist, der gerade in Dearborn, Michigan, lebt, erläutert: „Die Bewegung wurde gegründet, um die Arbeit der libanesischen Diaspora zu organisieren und ihr zu helfen, ihre politische und soziale Vision zu entwickeln, zumal vor dem Hintergrund der vielen Ereignisse, die der Libanon durchgemacht hat.“ Al-Haj Ahmad ist einer der Gründer dieser Bewegung. Er fügt hinzu: „Wir haben die desolate intellektuelle und kulturelle Situation im Libanon satt, deshalb entstand diese Bewegung.“
Abbas Al Haj Ahmad | © privat
Die Libanesen in der Diaspora sind auch in der politischen und sozialen Bewegung in den USA aktiv, zum Beispiel bei Wahlen auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene. Sie arbeiten bei Themen, die die Diasporagemeinschaft betreffen, mit der Weltweiten Libanesischen Kulturvereinigung (WLCU) und der Vereinigung libanesischer Studenten (LSA) in den USA zusammen. Außerdem reisen immer wieder Intellektuelle, Studenten und viele andere Personen aus dieser Bewegung zu Besuchen in den Libanon.
Die Staatsangehörigkeit bleibt verwehrt
Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft in der Diaspora lebende Personen, deren libanesische Mütter mit Ausländern verheiratet sind. Sie haben sich für die Auswanderung entschieden, da der Mutter das Recht verwehrt bleibt, ihren Kindern die libanesische Staatsbürgerschaft zu weiterzugeben. In den vergangenen Jahren waren die Libanesen in Befürworter und Gegner der Staatsangehörigkeit für Kinder von Libanesinnen gespalten. Viele Libanesen kämpften für die Anpassung des libanesischen Staatsangehörigkeitsgesetzes aus dem Jahr 1925 und für das Recht der Mutter, ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben. Die Kampagne „Meine Staatsangehörigkeit ist ein Recht für mich und meine Familie“ spielte in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine wichtige Rolle dabei, diesem Thema Aufmerksamkeit zu verschaffen.Die Leiterin der Kampagne Karima Shabou sagt: „Unser Ziel ist es, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen weiblichen und männlichen Staatsangehörigen zu schaffen, nicht mehr und nicht weniger.“ Das aktuelle Gesetz sei „diskriminierend und stehe im Widerspruch zu internationalen Abkommen und Konventionen, wie der Internationalen Menschenrechtserklärung, aber auch zur libanesischen Verfassung, die ausdrücklich betont, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ohne Unterschied und Bevorzugung gleich sind“.
Der Grundsatz der „Blutsverwandtschaft“ hält im Libanon die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern dahingehend aufrecht, das die Staatsangehörigkeit nur über die Väter an die Kinder weitergegeben wird. Article 1 des genannten Gesetzes besagt: „Jeder, der als Kind eines libanesischen Vaters geboren wird, gilt als Libanese.“ Shabo ist gegenteiliger Meinung: „Die Blutsverwandtschaft besteht in einem Erbe, das jedes Kind durch seine Gene bekommt, und zwar von Mutter und Vater gleichermaßen und nicht allein vom Vater. Daher steht das Recht auf Weitergabe der Staatsangehörigkeit an die Nachkommen sowohl der Mutter als auch dem Vater zu und die Blutsverwandtschaft kann kein Argument dafür sein, zu verhindern, dass die Mutter ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weitergibt. Vielmehr ist sie der beste Beweis dafür, dass die Staatsangehörigkeit weitergegeben werden kann“, sagt Shabo abschließend.
„Meine Mutter ist Libanesin und mein Vater ist Ausländer.“
Fawzi (28), der seinen vollen Namen nicht nennen will, hat eine libanesische Mutter und fühlt sich fremd, weil er nicht die vollen Bürgerrechte besitzt: „Ich bin im Libanon geboren und aufgewachsen, habe dort Erinnerungen und mein ganzes Leben verbracht. In meinen 18 Lebensjahren habe ich nie ein anderes Land kennengelernt.“Fawzi ist Libanese, seine Mutter ist Libanesin, sein Vater Türke. Vor etwa neun Jahren kam er über ein Stipendium zum Studium nach Italien, wo er seither lebt. Er hat Chemieingenieurwesen studiert und arbeitet jetzt in einem dortigen Unternehmen.
Seine Gefühle zum Libanon, besonders angesichts der jüngsten Ereignisse, beschreibt er so: „Ehrlich gesagt, fühle ich mich meinem Heimatland Libanon sehr verbunden, und dieses Gefühl verstärkt sich mit der Zeit, trotz der Entfernung. Heute fühle ich mich noch mehr mit diesem Land verbunden und würde gerne zurückkehren. Die schlimmen Ereignisse, die Libanon in letzter Zeit erlebt hat, machen mich traurig. Ich verfolge die Nachrichten und fühle mich hilflos, weil ich nichts ändern kann.“
Er ergänzt: „Wenn ich die libanesische Staatsbürgerschaft hätte, würde ich ohne zu zögern an allen Rechten teilhaben, z. B. an den Parlamentswahlen teilnehmen, um zum Wandel beizutragen. Das Wahlrecht für Auswanderer und die politische Teilhabe sind enorm wichtig, aber leider werden wir immer noch ausgegrenzt. Ich weiß nicht, worauf sie warten, bis sie uns die libanesische Staatsbürgerschaft geben. Es ist das natürliche Recht unserer Mütter, und ich denke, das ist die unfairste Art der Benachteiligung, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder.“
Letztendlich gab es viele Gründe, die die Libanesen zu unterschiedlichen Zeiten zur Auswanderung veranlassten. Auch wenn sie den Kontakt zu ihren Landsleuten über NGO, Exilgemeinschaften oder im Rahmen individueller Kontakte aufrechterhalten wollten, bleibt der Traum bestehen, dass das von politischen, ökonomischen und sozialen Krisen gebeutelte Land wieder auf die Beine kommt und zu einem sicheren Ort für alle wird, für die Daheimgebliebenen wie für die Auswanderer, falls diese sie sich eines Tages entscheiden, zurückzukommen und dort Zuflucht zu suchen.
August 2025