Diaspora und Exil  3 min Wenn Grenzen verschwinden, wie sähe Ihr Morgen aus?

Irgendwie geistert die Angst immer noch in mir herum, aber sie beschränkt sich nicht mehr auf Kleinigkeiten.
Irgendwie geistert die Angst immer noch in mir herum, aber sie beschränkt sich nicht mehr auf Kleinigkeiten. © Hind Sourig

Was bleibt einem in Erinnerung, wenn man seine Heimat verlässt? Das Viertel, in dem man geboren wurde, der vertraute Lärm der Straßen, an den man sich gewöhnt hatte? In einem persönlichen Bericht über den Abschied von der Heimat im Sudan erzählt Hind Sourig eine Geschichte über eine Familie, die darum kämpft, den Schmerz des Abschieds zu lindern, an der Hoffnung auf Rückkehr festzuhalten und neue Erinnerungen zu schaffen.

Ich überquere Grenzen, von denen wir dachten, sie seien nichts als staubiger Boden.

Ich gehe weg, schweren Herzens, finde nicht mal die passenden Worte, um zu beschreiben, was ich fühle.

Ich gehe weg, mit denen, die noch von meiner Familie übrig sind, außer meinem sturen Vater.

Ich träume nicht in klaren Bildern. Oder besser gesagt: Meine Träume ergeben keinen Sinn. Aus irgendeinem Grund fällt mir ein Traum aus den letzten Jahren ein. In diesem Traum sah ich mich selbst in meiner Wohnung im Süden von Khartum umherlaufen, sah mich durch das Eingangstor gehen, den Vorgarten durchqueren und jenes große Wohnzimmer betreten, das Schauplatz all unserer heißen Debatten, all unserer geselligen Abende, all unserer ausgelassenen Freude, all unserer Betrübtheit über traurige Nachrichten, all der Glückwunschbekundungen meiner Eltern an meine Geschwister bei bestandenen Abschlussprüfungen, eigentlich unseres gesamten Lebens während der letzten zehn Jahre gewesen ist.

Und dort steht auch jenes Sofa, auf dem meine Mutter jeden Tag gesessen und gewartet hat, wenn wir später nach Hause kamen. Ich verlasse den Raum, und plötzlich tut sich ein merkwürdiger Anblick auf, der überhaupt nicht zu den restlichen Einzelheiten des Traums passt. Ich befinde mich im Eingangsbereich einer anderen Wohnung, auch dies ein mir bekannter Ort.

 

Ja, es sind dieselben Mauern im Stadtteil Al-Sahafa, wo ich aufgewachsen bin, vor dem Umzug in den Süden von Khartum. Es ist dasselbe Zimmer, das ich mit meiner Schwester geteilt habe. Und derselbe purpurrote Anstrich, den die Wände letztmalig vor dem Umzug erhalten haben. Und natürlich wache ich auf, bevor der Traum zu einem sinnvollen Ende kommt, das man in irgendeiner Weise deuten könnte. Keine Ahnung, was mir dieser Traum sagen will. Haben Träume überhaupt eine Botschaft oder einen tieferen Sinn? Oder will mich das Unbewusste einfach nur daran erinnern, was ich einst hatte? Oder ist es bloß ein weiterer Hinweis darauf, dass es möglich ist, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, selbst wenn man unfreiwillig dort gelandet ist?

Wieder und wieder habe ich die morgendlichen Stunden vor Augen, in denen ich meine Freunde antreffe, nur ein paar Gehminuten, nicht Tausende von Kilometern und etliche Zeitzonen entfernt.

Ich träume mit offenen Augen, stelle mir vor, wie ich ganze Gespräche mit meiner Freundin am anderen Ende des Planeten führe, wir spinnen Gesprächsfäden bei einer Tasse Tee mit Milch und Spritzgebäck, das wir Nashader nennen und das von meiner Mutter gebacken wurde. Es sind nicht enden wollende herzliche Gespräche, ohne die unweigerliche Unterbrechung, weil die Arbeit ruft oder der Schlaf uns übermannt. Und ohne die leidigen Fragen: Wie überwindet man Grenzen, Kriege, Längen- und Breitengrade?

Diese Wachträume dauern ziemlich lange an und ähneln schwer erfüllbaren, ja nahezu unerfüllbaren Wünschen. In einer Parallelwelt waren solche Begegnungen möglich. Es wurde immer viel gelacht, jeden Donnerstag auf der Nilpromenade in Khartum. Es waren spontane Treffen, angefüllt mit Träumen und Erwartungen, und immer wurde reichlich über dies und jenes in unserem Land gemotzt und über all die Ungereimtheiten dort. Wir hatten jede Menge Pläne, wir wussten, was wir wollten, und wir werden wohl nie die Unmengen an Milchtee vergessen, die bei diesen Treffen flossen.

Ausweichorte

Ich erinnere mich an die wöchentlichen Treffen, die ohne vorherige Verabredung stattfanden. Und ich erinnere mich an alle Einzelheiten meines letzten Abends auf der Nilpromenade in Khartum. So als hielten sich diese Einzelheiten in der Erinnerung verborgen, damit ich dem bevorstehenden Verlust etwas entgegenzusetzen habe.

Aus irgendeinem Grund komme ich immer wieder auf Seif El-Din El-Desoukys Meisterwerk über den Nil zurück. So als richte er seine Formulierungen unmittelbar an mich, denn sie beschreiben exakt, wie meine alte und immer noch vorhandene Beziehung zum Nil aussieht. Es scheint eine Prophezeiung über die Gefühlswelt derjenigen zu sein, die sich von einem bestimmten Ort entfernt haben, ob nun willentlich oder nicht. Das kam mir sofort in den Sinn, als ich das letzte Mal am Nil war, noch innerhalb des Landes, aber weit weg von Khartum. Ich sah dort, wie man mutig versucht hatte, ähnliche Flächen zu schaffen, analog zu den vertrauten „Modernismen“ in den Straßen von Khartum. Vielleicht mutete dieser Versuch anfangs eher seltsam an, nicht nur für die alteingesessenen Bewohner, sondern auch für uns, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann allen klar werden würde, dass die Bürde, die wir alle auf den Schultern, und die Sehnsucht, die wir alle im Herzen tragen, tatsächlich am Nilufer eine Antwort finden könnten.

Als wir den Fastenmonat Ramadan zum ersten Mal nach Kriegsausbruch begingen und nachdem wir ausführlich erörtert hatten, wie viele Gebetseinheiten der Imam wohl beten werde, ertappten wir uns dabei, dass wir unabsichtlich heraufzubeschwören versuchten, was wir von unserer alten Moschee in Khartum her kannten und was die Bewohner des Viertels all die Jahre über gewohnt waren. Im Eifer der Debatte war uns allerdings zunächst gar nicht aufgefallen, dass die meisten der Anwesenden gar keine Ortsansässigen waren, sondern Flüchtlinge aus Khartum.

  Doch in dem Moment, in dem wir Betenden in dieser Ramadan-Nacht in der Ecke einer kleinen Moschee am Rand einer nordsudanesischen Stadt entdeckten, dass wir keineswegs Fremde waren, entstand eine überaus innige Verbindung zwischen uns. Und plötzlich wurde das gemeinsame Gebet zu einer günstigen Gelegenheit, sich kennenzulernen und Neuigkeiten über die Gebiete auszutauschen, in denen der Krieg wütete, und über die geplünderten Häuser der Leute und vor allem über ihre Ängste und ihre Hoffnung, der Wahnsinn möge irgendwann ein Ende haben. Ich konnte mitverfolgen, wie sich die Atmosphäre und die Inhalte der Gespräche nach und nach veränderten. Zuerst war es ein vorsichtiges Abtasten, es herrschte Unsicherheit, man versuchte, die Distanz zu wahren. Das änderte sich jedoch schlagartig, als plötzlich eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl entstand, als in einem Augenblick der Stille ein Wandel stattfand und eine tiefe Vertrautheit spürbar wurde. Wir waren keine Fremden mehr. Und das schien unsere tiefe Trauer erträglicher zu machen, weil wir sie jetzt teilen konnten.

Ich hatte diesem Ramadan in der Fremde mit gemischten Gefühlen entgegengeblickt, und meine Stimmung wurde immer dunkler, je näher das Ende der Fastenzeit und der erste Jahrestag des Kriegsausbruchs rückten. Was bleibt mir anderes übrig, als mir nach Kräften die vergangenen Jahre in Erinnerung zu rufen, um von ihnen zu zehren und endlose Vergleiche anzustellen, zwischen dem, was war, und der neuen Umgebung, mit der ich mich abfinden muss, so fremd sie mir auch vorkommen und so heftig das Verlustgefühl auch sein mag?

Kleine Details und stilles Ordnen

Die räumliche Distanz bleibt in all Ihrer Paradoxität befremdlich, und es sind Kleinigkeiten, die aus all den Gegensätzen einen Zusammenhang entstehen lassen. Angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten legen die Frauen überall Hand an, um uns mit kleinen Dingen das Leben zu verschönern. Was wäre das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan ohne eben diese hennaverzierten Hände, die Teig für alle möglichen Arten von Keksen kneten, bis sich im ganzen Haus ein Geruch verbreitet, der zumindest ein wenig Gelassenheit zurückbringt, allen Widrigkeiten zum Trotz?

Wenn man bedenkt, was ich die letzten zwei Jahre erlebt habe, dann dürften mich diese kleinen Momente davor bewahrt haben, an dem, was passiert ist und immer noch passiert, zu zerbrechen. Jede Kleinigkeit, die von den Frauen um mich herum verrichtet wurde, hat still und leise meine innere Ordnung wiederhergestellt, vor allem als immer mehr Schreckensmeldungen eintrafen.

Dadurch hatte ich die Gelegenheit, meine Sicht auf die Dinge zu ändern und diese Frauen nicht mehr bloß als Musterbeispiel für ein endloses Maß an Geduld und Selbstaufopferung zu sehen, buchstäblich als Heldinnen. Jetzt konnte ich erleben, wie sie es schafften, selbst inmitten des Chaos unglaublich strukturiert zu handeln. Was ist das nur für eine magische Fähigkeit? Wie ist es möglich, dass simple Verrichtungen wie Brotbacken und Teekochen die allgemeine Stimmung derart anheben und einem das Gefühl geben können, noch da zu sein?

Es ist eine hauchdünne Linie, die uns vom totalen Chaos trennt, ein Gefühl, ab und zu noch so etwas wie Kontrolle zu haben, ungeachtet der banalen Grabesstimmung des Krieges, ein Gefühl, das uns immer daran erinnert, dass diese kleinen Verrichtungen manchmal eben nicht dazu dienen, sich der Realität zu entziehen, sondern sich gegen die Realität zur Wehr zu setzen.

Innere Stimmen

Die Widersprüche zwischen meinen Träumen und meiner Realität haben eine Licht- und eine Schattenseite. Und ich höre widerstreitende innere Stimmen. Das mag auf den ersten Blick albern erscheinen: ,,Widerstreitende innere Stimmen“, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen und alle versuchen, in der Grauzone zwischen Licht und Schatten Fuß zu fassen. Ein paar von den mutigeren Stimmen positionieren sich eher auf der Lichtseite und rufen mir deutlich hörbar meine Wunschvorstellungen ins Gedächtnis oder vielleicht auch nur das, was ich lange für meine Wunschvorstellungen gehalten habe. Sie erinnern mich an ein Wertesystem, aber auch an all die Erwartungen, die mich geformt haben und die es nach wie vor zu erfüllen gilt. Doch daneben werden noch andere Stimmen laut, beängstigend weit auf der Schattenseite, auch sie verteidigen ihren Standpunkt, indem sie mich an die Düsternis der Welt erinnern und an all das, was geschehen ist und immer noch geschieht. Sie erinnern mich an Niederlagen und Verluste und an alles, wovor ich mich im Traum oder bei vollem Bewusstsein fürchte.

Ich glaube nicht, dass die Liste mit meinen Ängsten heute noch so aussieht wie früher. Sie hat sich stark verändert, seit einige Punkte auf dieser Liste reale Tatsachen geworden sind.

Manchmal fühle ich mich schuldig, wenn ich so etwas sage, und sei es nur im stillen Kämmerlein zu mir selbst. Aber was haben zum Beispiel Sorgen über den Klimawandel oder ähnliche Dinge für einen Wert, wenn man sich all die Gräueltaten ansieht, die tagtäglich in aller Welt wirklich und wahrhaftig verübt werden?

Ein andermal muss ich über mich selbst lachen, wenn ich daran denke, welche Sorgen mir einst der Gedanke daran bereitete, ich könnte meine kleine Bibliothek verlieren oder all die bunten Tassen, die ich über all die Jahre gesammelt habe. Das hat nichts mit schwarzem Humor zu tun. Doch jedes Mal, wenn ich die Duftkerze mit Kaffeearoma sehe, die stumm in der Ecke steht, muss ich ziemlich lachen. Immer, wenn ich ins Zimmer komme, habe ich das Gefühl, die Kerze sieht mich mit einem spöttischen Blick an und stellt mir, nicht ohne Hohn, die Frage: „Du als Flüchtling, dem Kriegsgeschehen in Khartum entronnen… Wieso denn nur, unter all den Dingen, die man mitnehmen könnte, ausgerechnet eine Duftkerze?“

Nach dem Traum

Irgendwie bin ich immer noch unruhig. Aber mittlerweile beschäftigen mich nicht mehr nur die kleinen Dinge, sondern auch die großen Fragen nach unserer Zukunft, die im Dunkeln liegt und sich rasch wandelt. Und die Sorge, dass wir auf längere Sicht bloß Zahlen und Akten sein werden und dass sich unser Schicksal bloß auf Worthülsen reduziert: „größte Flüchtlingstragödie der jüngeren Geschichte“, „unglaubliche Verbrechen und Gräueltaten“ usw., Floskeln, die mit gleichbleibender Gemächlichkeit die Taten in Worte fassen, meist ohne viele Worte über die Täter zu verlieren, sodass Leid und Gewalt sich immer banaler ausnehmen, ohne je auch nur ansatzweise hinterfragt zu werden oder echte Taten nach sich zu ziehen, die etwas an den Zuständen ändern könnten. Alles nur Gerede, das die geballte Wut derjenigen, die von der „größten Flüchtlingstragödie der jüngeren Geschichte“ betroffen sind, nicht in Betracht zu ziehen scheint und ihnen weder zugesteht, selbst zu schildern, was tatsächlich passiert, noch eine intensive Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zulässt oder mit ihren Ansinnen und mit ihren Ansichten über das, was idealerweise werden soll, angesichts einer geopolitischen Lage, die gerade konsequent mit Gewalt verändert wird Denk einfach daran, wenn du jeden Morgen hin- und herschweifst zwischen deiner Realität und deinem vergeblichen Versuch, dich an die Einzelheiten deiner Traumfetzen zu erinnern:

Denk fest daran, wer diese Grenzen gezogen
und diese Realität entworfen hat.

Denk daran, wer diese Gespaltenheit so will.

Und denke immer daran:
Die Wut, die du verspürst, ist kein Luxus,
sondern dein gutes Recht.