Als eigenständiges Volk mit eigener Sprache und Kultur und seit jeher in dieser Region beheimatet, bewahren die Assyrer trotz Vertreibung und Emigration ihre unverwechselbare Identität. Viele von ihnen haben im fernen Nordamerika und Europa neue Gemeinschaften gegründet, ein nicht unwesentlicher Teil lebt jedoch weiterhin im Land ihrer Vorfahren. Alfreda Eilo berichtet am Beispiel ihrer eindrücklichen Familiengeschichte davon, was es heißt, das eigene Erbe zu bewahren und zugleich einer marginalisierten Gruppe in der Diaspora anzugehören. Dabei verknüpft sie Erinnerungen und Empfindungen verschiedener Generationen aus der Heimat und für die Heimat miteinander.
Ich erinnere mich noch genau daran. An jenem Morgen im November 2023 erwachte ich früh, drehte mich im Bett, um auf meinem Handy die Nachrichten zu checken, jenes tägliche Ritual, das ich leider mit vielen Einwohnern Beiruts teile. Aber dieser Morgen war auf schmerzliche Weise anders. Denn mir blickte ein Gesicht entgegen, das ich nicht in den sozialen Medien oder den Nachrichten erwartet hatte. Verwirrung und Trauer überkamen mich, als ich realisierte, dass dieses vertraute Gesicht meinem ḥōlō (Syrisch für „Großonkel“) gehörte, Gevrieh Ego aus unserem Dorf ʼAnḥel in Tur Abdin im Südosten der Türkei. Er war 94 Jahre alt geworden. Auf diese Weis erfuhr ich über einen Instagram-Post von der Ermordung meines ḥōlō, eines beliebten assyrischen Ältesten in seiner Gemeinde
Instagram-Post: Todesanzeige von Gevrieh Ego | ©Instagram assyriansolidarity
Als Assyrer mussten wir miterleben, wie unsere Gemeinschaft langsam, aber sicher zerstört wurde, und diese Zerstörung dauert bis heute an. Besonders tragisch zeigt es sich in der politisch motivierten Ermordung meines ḥōlō in der Türkei. Auf den unbeschreiblichen Schmerz über die Ermordung eines Verwandten folgte die Erkenntnis, dass mein altes Dorf ʼAnḥel, in dem meine Familie seit Hunderten von Jahren lebte, vollständig von seinen assyrischen Einwohnern entvölkert wurde.
Grabstein von Alfredas Urgroßeltern in Anhel, Türkei | ©Privat
Wegen Zeugenaussage ermordet
ʼAnḥel ist auf keiner Karte verzeichnet. Um das Dorf zu finden, muss man seinen türkischen Namen „Yemişli“ googeln. Ich und meine Familie, indigene Assyrer aus der heutigen Türkei und Syrien, haben eine weiteres Bindeglied zu unserer Heimat verloren. Mein ḥōlō Gevrieh wurde wegen eines Streits um Land zwischen assyrischen Familien und kurdischen Stämmen ermordet. Als Dorfältester war er um seine Aussage vor einem lokalen Gericht gebeten worden. Er sollte dort berichten, was er über die Besitzverhältnisse der umstrittenen Ländereien wusste. Mein ḥōlō Gevrieh lebte 94 Jahre lang in ʼAnḥel und kannte jeden, der unser kleines Dorf ʼAnḥel betreten oder verlassen hat. Benachbarte kurdische Stammesangehörige – wahrscheinlich motiviert durch die Aussage meines Großonkels in dem Konflikt um Land – haben ihn vor seinem Haus ermordet.Solche Konflikte zwischen Assyrern und ihren kurdischen oder türkischen Nachbarn sind in der Türkei, Syrien und im Irak weit verbreitet und von Menschenrechtsgruppen gut dokumentiert. Ähnlich wie bei der Gewalt von Siedlern im Westjordanland nutzen diese Gruppen die marginalisierte Position der Assyrer aus, die wegen ihrer unterschiedlichen Sprache, Kultur und Religion zur Zielscheibe werden. Konflikte um Land, die aus der illegalen Besetzung und Beschlagnahmung assyrischer Häuser und Dörfer resultieren, sind an der Tagesordnung und bedrohen die Vielfalt und Geschichte dieser Regionen noch mehr.
Zurück in der ‘athro’ (Heimat)
Alfredas Großmutter Peyruze mit ihrem älteren Bruder Gevrieh vor ihrem Haus in Anhel | ©Privat
Teta Peyruze in der Mor Kyriakos-Kirche in Anhel | ©Privat
Eine typische assyrische Tochter in der Diaspora
Ich wurde in der Schweiz geboren, als typische assyrische Tochter in der Diaspora. Ich bin nicht in unserer Heimat aufgewachsen, umgeben von der heiligen und von unseren Vorfahren gepflegten Erde. Stattdessen bin ich wie jedes andere Einwandererkind aufgewachsen, in einem ständigen Tanz um meine Identität. Das Gefühl, immer unvollständig zu sein, entwickelte sich zu einer Rebellion gegen meine Identität und zu einem Widerstand gegen unsere Traditionen und Kultur. Später entstand daraus eine unstillbare Neugier auf meine Existenz, meine Geschichte, mein Erbe und meine hybride Identität sowohl als im Westen aufgewachsene Person als auch als Teil eines alten indigenen Volkes in SWANA. Diese Neugier auf meine Identität führte zu verschiedenen Reisen in unsere Heimatländer Türkei und Syrien, wo ich darauf bestand, sowohl Türkisch als auch Arabisch zu lernen, um mehr über meine eigene Muttersprache, das Syrische, zu erfahren. Schließlich entdeckte ich durch meine Reise mein assyrisches Selbst, was zu meinem abenteuerlichen Umzug nach Beirut im Libanon führte, in eine Stadt, die nah genug an meiner angestammten Heimat liegt, aber für eine junge, unverheiratete assyrische Frau in SWANA weniger angenehm ist. Ich liebe meine Heimat, aber als im Westen sozialisierte Frau, war ich an Freiheiten gewöhnt, die ich dort nicht haben könnte. Daher wäre ein Leben in unseren angestammten Dörfern schwer – so schwer, dass es meine Liebe zu mir selbst und meiner Herkunft trüben könnteVon der Selbstfindung zum Engagement
Meine Reise der Selbstfindung und Anerkennung meiner indigenen Identität dauert an. Inzwischen engagiere ich mich nicht nur für mein eigenes Volk ein, sondern für alle indigenen Gemeinschaften in SWANA und verstehe dadurch besser, was es heißt, in der Diaspora zu leben und wie wichtig Solidarität zwischen verschiedenen Kulturen ist. Momente des transnationalen Aktivismus – vor allem Aufrufe zur Beendigung des Völkermords in Palästina – waren Meilensteine auf meinem Weg und haben mich mit einer Gemeinschaft indigener Aktivisten verbunden, die für kollektive Befreiung kämpfen. Durch mein Engagement für Palästina – ich habe Instagram-Videos gepostet, ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken – stieß ich auf eine Gemeinschaft assyrischer Diaspora-Aktivisten, die eine inklusive und vielfältige Gruppe junger Menschen mit politisch differenzierten Ansichten repräsentiert.Daraus entstand die Assyrische Bewegung für kollektive Befreiung (Assyrian Movement for Collective Liberation), eine Gruppe von Assyrern, die über die ganze Diaspora verstreut sind, mit Wurzeln in Syrien, Irak, Türkei, Libanon und Iran, die zusammenarbeiten und unsere Forderungen und die anderen indigenen Gemeinschaften nach Gerechtigkeit und Befreiung verstärken.
Als ich kürzlich nach fast einem Jahr Abwesenheit mit meiner Großmutter telefonierte –wegen des israelischen Krieges gegen den Libanon war mir die Rückkehr in die Schweiz verwehrt – sprachen wir über ḥōlō Gevrieh, die Kämpfe unseres Volkes, die Parallelen zum Kampf der Palästinenser gegen Kolonialisierung und Unterdrückung und die zerbrochene Identität in der Diaspora. Überraschenderweise gestand sie ein, dass sie sich trotz ihres guten Lebens in der Schweiz und der Schwierigkeiten, die sie unter der Unterdrückung durch die Türkei aus Tur Abdin vertrieben hatten, immer als Außenseiterin gefühlt hatte. Dieses Gefühl, nicht vollständig zu sein oder nicht ganz zur Diaspora zu gehören, wird sie bis an ihr Lebensende begleiten. Ihre Worte wiederholten das, was sie in Tur Abdin gesagt hatte, und nahmen mich sehr mit. Auch ich werde mich vielleicht immer unvollständig fühlen – ob in der Diaspora oder in der Heimat, für immer fremd. Doch genau diese Abwesenheit treibt mich an, nach Gerechtigkeit zu streben, und erinnert mich daran, dass Identität durch dieses Streben geprägt wird.
Über die Assyrer
Die assyrische Gemeinschaft hat vor allem in der späten osmanischen Zeit viel Vertreibung und Gewalt erlebt. Die Hamidian-Massaker (1894–1897) und die Adana-Pogrome von 1909, die sich ursprünglich gegen die Armenier richteten, aber auch Assyrer trafen, brachten Flüchtlinge in die USA.
Der Völkermord an den Assyrern (Sayfo, 1915–1916), der parallel zum Völkermord an den Armeniern erfolgte, zerstörte die Gemeinschaft. Etwa 275.000 Assyrer wurden getötet und unzählige weitere mussten fliehen. Der französische Mönch Jacques Rhétor dokumentierte die katastrophalen Verluste: 86 % der chaldäischen Katholiken, 57 % der syrisch-orthodoxen Christen, 48 % der syrischen Protestanten und 18 % der syrischen Katholiken wurden getötet oder verschwanden. Der Völkermord umfasste Massenhinrichtungen, Entführungen, sexuelle Gewalt, Todesmärsche in die syrische Wüste, öffentliche Demütigungen und die Zerstörung des kulturellen und religiösen Erbes, wodurch die Demografie der Region dauerhaft verändert, und die politische und kulturelle Einheit der Assyrer zerstört wurde. Das traumatische Erbe hält bis heute an.
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August 2025