Diaspora und Exil  4 min Die verlorene Tochter Assyriens

Alfreda sitzt auf einem Dach und blickt auf das Dorf Midin
Blick auf das Dorf Midin im Südosten der Türkei ©Privat

Als eigenständiges Volk mit eigener Sprache und Kultur und seit jeher in dieser Region beheimatet, bewahren die Assyrer trotz Vertreibung und Emigration ihre unverwechselbare Identität. Viele von ihnen haben im fernen Nordamerika und Europa neue Gemeinschaften gegründet, ein nicht unwesentlicher Teil lebt jedoch weiterhin im Land ihrer Vorfahren. Alfreda Eilo berichtet am Beispiel ihrer eindrücklichen Familiengeschichte davon, was es heißt, das eigene Erbe zu bewahren und zugleich einer marginalisierten Gruppe in der Diaspora anzugehören. Dabei verknüpft sie Erinnerungen und Empfindungen verschiedener Generationen aus der Heimat und für die Heimat miteinander.

Ich erinnere mich noch genau daran. An jenem Morgen im November 2023 erwachte ich früh, drehte mich im Bett, um auf meinem Handy die Nachrichten zu checken, jenes tägliche Ritual, das ich leider mit vielen Einwohnern Beiruts teile. Aber dieser Morgen war auf schmerzliche Weise anders. Denn mir blickte ein Gesicht entgegen, das ich nicht in den sozialen Medien oder den Nachrichten erwartet hatte. Verwirrung und Trauer überkamen mich, als ich realisierte, dass dieses vertraute Gesicht meinem ḥōlō (Syrisch für „Großonkel“) gehörte, Gevrieh Ego aus unserem Dorf ʼAnḥel in Tur Abdin im Südosten der Türkei. Er war 94 Jahre alt geworden. Auf diese Weis erfuhr ich über einen Instagram-Post von der Ermordung meines ḥōlō, eines beliebten assyrischen Ältesten in seiner Gemeinde
Instagram-Post Todesanzeige von Gevrieh Ego

Instagram-Post: Todesanzeige von Gevrieh Ego | ©Instagram assyriansolidarity

Es brach mir das Herz, als ich realisierte, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Ernüchtert wurde mir klar, dass das Jahr 1915, das Jahr des Sayfo (Syrisch für „Schwert“, wie der Genozid an unserem Volk durch das Osmanische Reich genannt wird), gegen Assyrer, Armenier und Pontosgriechen, nur den Beginn jenes genozidalen Feldzugs in Anatolien darstellte, in dessen Verlauf es zu ethnischen Säuberungen und Vertreibungen der dort heimischen Gruppierungen kam. Überall auf der Welt bezeichnen Assyrer das Jahr 1915 als den Beginn des Genozids. Traurigerweise aber nennen wir niemals ein Enddatum, da es ein Ende nie gab.

Als Assyrer mussten wir miterleben, wie unsere Gemeinschaft langsam, aber sicher zerstört wurde, und diese Zerstörung dauert bis heute an. Besonders tragisch zeigt es sich in der politisch motivierten Ermordung meines ḥōlō in der Türkei. Auf den unbeschreiblichen Schmerz über die Ermordung eines Verwandten folgte die Erkenntnis, dass mein altes Dorf ʼAnḥel, in dem meine Familie seit Hunderten von Jahren lebte, vollständig von seinen assyrischen Einwohnern entvölkert wurde.
Grabstein von Alfredas Urgroßeltern in Anhil, Türkei

Grabstein von Alfredas Urgroßeltern in Anhel, Türkei | ©Privat

Wegen Zeugenaussage ermordet

ʼAnḥel ist auf keiner Karte verzeichnet. Um das Dorf zu finden, muss man seinen türkischen Namen „Yemişli“ googeln. Ich und meine Familie, indigene Assyrer aus der heutigen Türkei und Syrien, haben eine weiteres Bindeglied zu unserer Heimat verloren. Mein ḥōlō Gevrieh wurde wegen eines Streits um Land zwischen assyrischen Familien und kurdischen Stämmen ermordet. Als Dorfältester war er um seine Aussage vor einem lokalen Gericht gebeten worden. Er sollte dort berichten, was er über die Besitzverhältnisse der umstrittenen Ländereien wusste. Mein ḥōlō Gevrieh lebte 94 Jahre lang in ʼAnḥel und kannte jeden, der unser kleines Dorf ʼAnḥel betreten oder verlassen hat. Benachbarte kurdische Stammesangehörige – wahrscheinlich motiviert durch die Aussage meines Großonkels in dem Konflikt um Land – haben ihn vor seinem Haus ermordet.

Solche Konflikte zwischen Assyrern und ihren kurdischen oder türkischen Nachbarn sind in der Türkei, Syrien und im Irak weit verbreitet und von Menschenrechtsgruppen gut dokumentiert. Ähnlich wie bei der Gewalt von Siedlern im Westjordanland nutzen diese Gruppen die marginalisierte Position der Assyrer aus, die wegen ihrer unterschiedlichen Sprache, Kultur und Religion zur Zielscheibe werden. Konflikte um Land, die aus der illegalen Besetzung und Beschlagnahmung assyrischer Häuser und Dörfer resultieren, sind an der Tagesordnung und bedrohen die Vielfalt und Geschichte dieser Regionen noch mehr. In meiner Trauer wurde mir klar, welche Seltenheit es für Assyrer in der Diaspora geworden ist, ihre Dörfer besuchen zu können. Diejenigen Verwandten, die noch in der Türkei, im Irak oder in Syrien leben, sind entweder geflohen, wurden vertrieben oder getötet. Die Ermittlungen der Polizei leiden unter Unterfinanzierung, werden nachlässig geführt und bleiben ohne Erfolg – ein Beweis dafür, dass die Gleichheit vor dem türkischen Gesetz nach wie vor eine Illusion ist.

Zurück in der ‘athro’ (Heimat)

„Hier sind wir aufgewachsen. Niemals werden wir unsere Heimat und ihren Boden vergessen.“ ©Privat

Zuletzt konnte ich im Jahr 2022 zusammen mit meinen Eltern, meiner Schwester und meiner Großmutter Peyruze Tur Abdin besuchen. Es war eine gemeinsame Familienreise, um wieder mit unserer Heimat in Kontakt zu kommen, unsere Identität (wieder) zu entdecken, entfernte Verwandte zu treffen und etwas gegen Gefühl der Unvollständigkeit zu tun, dass unser Leben in der Schweizer Diaspora begleitet.
Alfredas Großmutter Peyruze mit ihrem älteren Bruder Gevrieh vor ihrem Haus in Anhel

Alfredas Großmutter Peyruze mit ihrem älteren Bruder Gevrieh vor ihrem Haus in Anhel | ©Privat

Auf dieser Reise kam meine Großmutter zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder in ihre Heimat und konnte ihren älteren Bruder wiedersehen, nachdem sie in den späten 1960er-Jahren nach Europa emigriert war. Ich hatte das Glück, als Enkelin neben ihr durch die Dörfer zu laufen und sie zu filmen, während sie Geschichten aus ihrer Kindheit wiedergab. Sie erzählte von den Kämpfen gegen die Unterdrückung und wie sie sich an den Verlust ihrer „Athro” (Heimat) erinnert. Gleichzeitig lobte sie ihr gutes Leben in Europa. Es war eine einmalige Chance, mit meiner Großmutter zu reisen, von Dorf zu Dorf zu fahren, die abgelegensten und ältesten Klöster zu besuchen, die alle Teile des bereits zerfallenden Mosaiks unserer damaligen goldenen Zeit des Mönchtums sind. Ich war wirklich beeindruckt von den Häusern, die aus lokalen Materialien gebaut waren und deren architektonische Details auf die großen Klöster in den Bergen anspielte, was mich an die jahrtausendealte Geschichte dieses kleinen Dorfes erinnerte. Als Assyrerin in der Diaspora fühlte ich mich, als sei diese Verbindung mir geraubt worden. Es fühlt sich traurig und nostalgisch zugleich an, dass meine Großmutter all das hinter sich gelassen hatte, um ein besseres und sichereres Leben in der westlichen Diaspora zu führen. Wir machten diese Reise in die Türkei als Familie, damit meine Großmutter ihren älteren Bruder Gevrieh wiedersehen konnte und ahnten dabei nicht, dass dies die letzte Begegnung der beiden Geschwister sein würde, die fast so alt waren wie die moderne türkische Republik. Auf der Reise machten wir unzählige Fotos und Videos, ohne zu ahnen, dass Gerviehs Tod auf grausame, gewaltsame Weise das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit einer ganzen Familie zu „Anḥel“ zerstören würde. Unsere Reise als Familie in die Heimat war voller Freude und Liebe, wir verbrachten Zeit mit Verwandten in unserer Heimat und aßen das Gemüse und Obst, das auf unserem Boden gewachsen war
Teta Peyruze in der Mor Kyriakos-Kirche in Anhel

Teta Peyruze in der Mor Kyriakos-Kirche in Anhel | ©Privat

Besonders lebendig ist mir von dieser Reise der Besuch der Mor Kyriakos Kirche in ʼAnḥel in Erinnerung geblieben, wo drei Generationen von Frauen aus meiner Familie in einem kleinen steinernen Becken getauft wurden. Ich filmte uns, wie wir hinausgingen, während der Hausmeister das Tor abschloss. Aus Sicherheitsgründen darf das Tor zum Kirchengelände nicht geöffnet bleiben; wir sind in unserer eigenen Heimat nicht willkommen. Meine Großmutter murmelte: „Hier sind wir aufgewachsen. Wir werden unsere Heimat und ihren Boden nicht vergessen.“ Es war eine beiläufige Bemerkung, die sie immer wiederholte, wenn sie mit Ungerechtigkeit konfrontiert war. Die Bedeutung ihrer Worte hallt heute mehr denn je nach.
 
Teta Peyruze spricht während eines Besuchs der Mor-Kyriakos-Kirche in Anhel in ihrer Muttersprache Syrisch. Sie sagt: „Hier sind wir aufgewachsen. Niemals werden wir unsere Heimat und ihren Boden vergessen.“

Eine typische assyrische Tochter in der Diaspora

Ich wurde in der Schweiz geboren, als typische assyrische Tochter in der Diaspora. Ich bin nicht in unserer Heimat aufgewachsen, umgeben von der heiligen und von unseren Vorfahren gepflegten Erde. Stattdessen bin ich wie jedes andere Einwandererkind aufgewachsen, in einem ständigen Tanz um meine Identität. Das Gefühl, immer unvollständig zu sein, entwickelte sich zu einer Rebellion gegen meine Identität und zu einem Widerstand gegen unsere Traditionen und Kultur. Später entstand daraus eine unstillbare Neugier auf meine Existenz, meine Geschichte, mein Erbe und meine hybride Identität sowohl als im Westen aufgewachsene Person als auch als Teil eines alten indigenen Volkes in SWANA. Diese Neugier auf meine Identität führte zu verschiedenen Reisen in unsere Heimatländer Türkei und Syrien, wo ich darauf bestand, sowohl Türkisch als auch Arabisch zu lernen, um mehr über meine eigene Muttersprache, das Syrische, zu erfahren. Schließlich entdeckte ich durch meine Reise mein assyrisches Selbst, was zu meinem abenteuerlichen Umzug nach Beirut im Libanon führte, in eine Stadt, die nah genug an meiner angestammten Heimat liegt, aber für eine junge, unverheiratete assyrische Frau in SWANA weniger angenehm ist. Ich liebe meine Heimat, aber als im Westen sozialisierte Frau, war ich an Freiheiten gewöhnt, die ich dort nicht haben könnte. Daher wäre ein Leben in unseren angestammten Dörfern schwer – so schwer, dass es meine Liebe zu mir selbst und meiner Herkunft trüben könnte
 

Von der Selbstfindung zum Engagement

Meine Reise der Selbstfindung und Anerkennung meiner indigenen Identität dauert an. Inzwischen engagiere ich mich nicht nur für mein eigenes Volk ein, sondern für alle indigenen Gemeinschaften in SWANA und verstehe dadurch besser, was es heißt, in der Diaspora zu leben und wie wichtig Solidarität zwischen verschiedenen Kulturen ist. Momente des transnationalen Aktivismus – vor allem Aufrufe zur Beendigung des Völkermords in Palästina – waren Meilensteine auf meinem Weg und haben mich mit einer Gemeinschaft indigener Aktivisten verbunden, die für kollektive Befreiung kämpfen. Durch mein Engagement für Palästina – ich habe Instagram-Videos gepostet, ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken – stieß ich auf eine Gemeinschaft assyrischer Diaspora-Aktivisten, die eine inklusive und vielfältige Gruppe junger Menschen mit politisch differenzierten Ansichten repräsentiert.

Daraus entstand die Assyrische Bewegung für kollektive Befreiung (Assyrian Movement for Collective Liberation), eine Gruppe von Assyrern, die über die ganze Diaspora verstreut sind, mit Wurzeln in Syrien, Irak, Türkei, Libanon und Iran, die zusammenarbeiten und unsere Forderungen und die anderen indigenen Gemeinschaften nach Gerechtigkeit und Befreiung verstärken.

Als ich kürzlich nach fast einem Jahr Abwesenheit mit meiner Großmutter telefonierte –wegen des israelischen Krieges gegen den Libanon war mir die Rückkehr in die Schweiz verwehrt – sprachen wir über ḥōlō Gevrieh, die Kämpfe unseres Volkes, die Parallelen zum Kampf der Palästinenser gegen Kolonialisierung und Unterdrückung und die zerbrochene Identität in der Diaspora. Überraschenderweise gestand sie ein, dass sie sich trotz ihres guten Lebens in der Schweiz und der Schwierigkeiten, die sie unter der Unterdrückung durch die Türkei aus Tur Abdin vertrieben hatten, immer als Außenseiterin gefühlt hatte. Dieses Gefühl, nicht vollständig zu sein oder nicht ganz zur Diaspora zu gehören, wird sie bis an ihr Lebensende begleiten. Ihre Worte wiederholten das, was sie in Tur Abdin gesagt hatte, und nahmen mich sehr mit. Auch ich werde mich vielleicht immer unvollständig fühlen – ob in der Diaspora oder in der Heimat, für immer fremd. Doch genau diese Abwesenheit treibt mich an, nach Gerechtigkeit zu streben, und erinnert mich daran, dass Identität durch dieses Streben geprägt wird.
 

Über die Assyrer

Die Assyrer sind eine alte aramäischsprachige Volksgruppe, die aus dem antiken Mesopotamien kommt und hauptsächlich in Teilen des Irak, Syriens, der Türkei und des Iran lebt. Sie sehen sich als Nachfahren des alten Assyrischen Reiches und haben ihre eigene Identität durch ihre Sprache (neuaramäische Dialekte), ihren christlichen Glauben (mit verschiedenen Kirchen wie der Assyrischen Kirche des Ostens und der Syrisch-Orthodoxen Kirche) und ihre einzigartigen kulturellen Traditionen bewahrt.

Die assyrische Gemeinschaft hat vor allem in der späten osmanischen Zeit viel Vertreibung und Gewalt erlebt. Die Hamidian-Massaker (1894–1897) und die Adana-Pogrome von 1909, die sich ursprünglich gegen die Armenier richteten, aber auch Assyrer trafen, brachten Flüchtlinge in die USA.

Der Völkermord an den Assyrern (Sayfo, 1915–1916), der parallel zum Völkermord an den Armeniern erfolgte, zerstörte die Gemeinschaft. Etwa 275.000 Assyrer wurden getötet und unzählige weitere mussten fliehen. Der französische Mönch Jacques Rhétor dokumentierte die katastrophalen Verluste: 86 % der chaldäischen Katholiken, 57 % der syrisch-orthodoxen Christen, 48 % der syrischen Protestanten und 18 % der syrischen Katholiken wurden getötet oder verschwanden. Der Völkermord umfasste Massenhinrichtungen, Entführungen, sexuelle Gewalt, Todesmärsche in die syrische Wüste, öffentliche Demütigungen und die Zerstörung des kulturellen und religiösen Erbes, wodurch die Demografie der Region dauerhaft verändert, und die politische und kulturelle Einheit der Assyrer zerstört wurde. Das traumatische Erbe hält bis heute an.