Was bedeutet es in zweiter Generation Palästinenser*in in der Diaspora zu sein? Zwei Jahre nach Beginn des Krieges in Gaza, erinnert sich Deutsch-Palästinenserin Niveen Issa (Pseudonym) in einer sehr persönlichen Geschichte an den Verlust ihres Vaters und an alles, was er repräsentierte: Sicherheit, Heimat und die Wurzeln, in denen sie nie aufwachsen konnte.
TRIGGERWARNUNG: BEITRAG ENTHÄLT TRAUER UND BERICHTE VON OPFERN VON GEWALT„Ich bin von dort.
Ich bin von hier.
Ich bin nicht dort und ich bin nicht hier.
Ich habe zwei Namen, die sich treffen und trennen,
und ich habe zwei Sprachen.
Ich vergesse, in welcher ich träume.“
Mahmoud Darwish
Als mein Vater starb, habe ich dieses Gedicht von Mahmoud Darwish herausgesucht.
In Deutschland ist es Tradition, dass Freunde und Bekannte eine Karte schreiben, um ihr Beileid zu bekunden, wenn jemand stirbt. Das Gedicht war Teil meiner Antwortkarten auf die Beileidsbekundungen. Teile des Gedichts waren auch Teil des Nachrufs für meinen Vater in der Zeitung.
Ich hatte das Gefühl, dass die Worte Darwishs auf das Leben meines Vaters treffend beschreiben.
Geboren 1946 in Palästina, als Kleinkind 1948 die Flucht nach Gaza, in der Diaspora in Deutschland geblieben.
Heimat verloren, gesucht und gefunden?
Mein lieber Vater.
Ich musste stark sein, als ich ihn auf der Intensivstation liegen sah. Ich war es, die es allen sagen musste.
Ich musste stark sein, als ich meine Geschwister die Nachricht überbrachte, dass unser Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte und nun auf der Intensivstation lag.
Ich musste stark sein als ich Freunde, um Hilfe bat und ihnen sagen musste, dass ich die Nacht nicht zu Hause bleiben wollte, während mein Vater auf der Intensivstation lag und ich die einzige Ansprechpartnerin für das Krankenhaus war.
Ich musste stark sein, als die Polizistin mir sagte, dass er am Morgen in der Stadt zusammengebrochen war, wiederbelebt wurde und nun in einem Krankenhaus liegt.
Wir sind nicht schwach.
Mein lieber Vater.
Nach zwei Tagen im künstlichen Koma ist mein Vater aufgewacht.
Da waren alle schon da. Meine Mutter war wieder da, meine Brüder, meine Schwester und Freunde.
Doch nach 10 Tagen hat sein Herz ganz aufgegeben.
Alle sagten, sein Herz sei gebrochen als er gesehen hat,
was in Gaza passiert ist. Immer wenn jemand das gesagt hat,
war ich sauer. Nein, mein Vater hat kein schwaches Herz. Er ist nicht schwach.
Wir haben kein schwaches Herz. Wir sind nicht schwach.
Aber irgendwann habe ich es akzeptiert.
Die blonde Puppe.
Mein lieber Vater. Ich erinnere mich noch, wie in den Sommerferien wir nur mit meiner Mutter nach Gaza gereist sind. Es muss Ende der 1980er Jahre gewesen sein. Vielleicht war ich 4 oder 5 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, was dieser Krieg bedeutete. Ich kannte keine politischen Hintergründe.Ich stand im Wohnzimmer meines Onkels in Gaza als ich mit meinem Vater telefonierte. Er blieb oft in Jordanien und reiste nicht mit uns. Es beunruhigte mich, dass wir ihn alleine ließen und uns gleichzeitig in einer militärischen Zone aufhielten.
Heimat.
Meine Schwester hat meinem Vater einmal ein Fragebogen mit 100 Fragen zugeschickt, den er beantworten sollte.Eine Frage war:
„Von welchem Traum hast du dich schon verabschiedet?“
Die Antwort meines Vaters war:
„Heimat“
Kann das sein, dachte ich.
Wirklich?
Haben wir diesen Traum aufgegeben?
Tränen.
Die letzten Wochen seines Lebens waren schwierig. Er befürchtete nichts Gutes für seine Familie in Gaza. Meine Mutter brach zusammen. Mein Vater war schon alt und schwach und wusste, dass er ihr nicht helfen konnte. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich sie beide nicht schützen konnte. Weder vor dem Zusammenbruch meiner Mutter noch vor dem Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit meines Vaters. Dabei war er doch sein ganzes Leben lang ein Macher, ein Helfer und ganz und gar kein Hilfloser gewesen.Ich kann mich an den Tag erinnern, an dem in der Tagesschau ein Bericht über Gaza lief. Es war wahrscheinlich im Oktober 2023, und es war einer der ersten Berichte, die die Zerstörung thematisierte. Es fiel mir sehr schwer, ihn vor diesen Nachrichten nicht schützen zu können. Aber ich beschränkte mich darauf, auf meine Kinder zu achten und sie aus dem Raum zu nehmen. Ich war überfordert. In einem kurzen Moment dachte ich, dass es vielleicht besser ist, wenn meine Mutter bei ihrem Bruder in Kairo ist. Er war dort gestrandet, weil er nicht zurück nach Gaza konnte, als der Krieg ausbrach. Ich sagte zu meinem Vater: „Wir buchen einfach einen Flug für Mama.” Dann ist sie bei ihrem Bruder. Zunächst sagte er nichts, doch als ich ein paar Tage später allein mit meinem Vater war, brach er in Tränen aus. Er tat mir so leid, und ich sagte: „Dir ist alles zu viel geworden. Ich weiß.“ Daraufhin sagte er: „Buche einen Flug für deine Mutter. Vielleicht wird es besser, wenn sie bei ihm in Kairo ist.“
Immer wieder musste ich an diesen Moment denken.
Die Tränen meines Vaters haben mich unendlich traurig gemacht.
Und die Tränen meiner Mutter?
Sie begleiten mich mein ganzes Leben lang.
Meine Tränen? Ich habe sie nicht mehr versteckt. Sie waren immer da. Vor der Arbeit, bei der Arbeit, nach der Arbeit. Morgens und abends. Mal weinte ich allein, mal mit Freunden, mal mit meiner Mutter, mal vor der Schule vor anderen Eltern. Alle kannten meine Tränen.
Weglaufen.
Ich buchte den Flug für meine Mutter. Vielleicht wird es dann besser, dachte ich. Obwohl es sich weiterhin komisch anfühlte. Ich lief vor dem Tod davon. Ich schaute nicht mehr in die sozialen Medien. So ist es besser, dachte ich. Sollte jemand aus meiner Familie sterben, musste nicht ich meinen Eltern die Nachricht überbringen. Als meine Mutter nicht mehr vor Ort war, dachte ich, es sei besser so.Doch so sehr ich auch vor dem Tod davongelaufen bin, so holte er mich ein.
„Ihr Vater ist heute Morgen in der Innenstadt zusammengebrochen. Er wurde von Passanten reanimiert und ist jetzt im Krankenhaus. Wenn Sie möchten, können wir jetzt zusammen dort anrufen.“ Sie rief im Krankenhaus an und teilte mir die Station mit, auf der er lag. Am Ende sagte sie: „Wenn ich etwas für Sie tun kann, sagen Sie mir Bescheid.“
Wie ein Film vergingen die nächsten Tage, Wochen, Monate und nun Jahre. Ein Film, der schon längst vorher angefangen hat, als unsere Freunde anriefen und uns von ihren Verlusten erzählten, als die Nachrichten immer wieder die Zahlen 7 und 10 wiederholten. Gaza. Immer wieder, jeden Morgen: im Radio, auf dem Handy, im Fernsehen. Am Telefon und in den Gesprächen. Freunde, dessen Cousinen, Onkels, Brüder starben, Menschen, die Ganzkörperverbrennungen überlebten. Junge Mütter, die ihre Kinder verloren, schwangere Frauen, die mit dem Embryo im Bauch starben. Meine Großmutter, die zum zweiten Mal in ihrem Leben auf der Flucht war. Das ist ein wirklich schlimmer Film, denke ich immer wieder. Wer zieht den Stecker endlich raus. Wann ist all das endlich vorbei.
Mein lieber Vater.
Hättest Du das ertragen?
Oktober 2025