Aus dem chinesischen Internet  Chinas mittellose Mittelschicht

3 Quadratmeter - Ein junger Mann in seinem Zimmer in Peking
Ein junger Mann in seinem Zimmer in Peking. Foto (Ausschnitt): 3 Quadratmeter © Visual China

Lange Zeit wusste man, wieviel Geld man hat und was man sich davon leisten kann oder nicht. Die Miete konnte man einplanen. Auch wenn man sich keine Wohnung kaufen konnte, man kam gut über die Runden. Aber die Zukunft ist nicht mehr so sicher, machen wir uns nichts vor. 2018 hat sich ziemlich viel verändert, die Wohnungsmieten sind in die Höhe geschossen und beschweren unseren Alltag mit Sorgen und Nöten, die man als Mieter vorher eigentlich nicht kannte.

Unverhandelbar

Als Hu Jinghui (胡景晖), der Vizedirektor der Immobilienfirma I Love My Home (我爱我家) zurücktrat und als Whistleblower mit Insider-Informationen über unlautere Praktiken der chinesischen Immobilienbranche auf sich aufmerksam machte, war das nur die Spitze des Eisbergs. Hu Jinghui enthüllte nur einige wenige Details eines gigantischen Mietmarktes, der sich langsam aber sicher für viele in eine Miethölle verwandelt. Liu Miao (刘渺) verhandelte zu dem Zeitpunkt gerade mit seinem Vermieter und erinnert sich, wie um ihn herum plötzlich alles aus den Fugen zu geraten schien.

"1000 RMB mehr, unverhandelbar." Die Haltung des Vermieters war klar, es gab nicht den geringsten Verhandlungsspielraum. Die Wohnung lag in Guanzhuang (管庄) außerhalb des 5. Rings, 2 Zimmer, 60 Quadratmeter. Liu Miao rechnete mit 4.000 RMB, aber schon beim ersten Treffen wollte der Vermieter 4.200 RMB haben. Drei Tage später waren es dann plötzlich nochmal 1.000 RMB mehr. Liu Miaos erste Reaktion war, die Wohnung nicht zu mieten. Er fragte in Guanzhuang herum und erfuhr, dass vergleichbare Wohnungen locker 5.200 RMB kosten. Die Wohnung über ihm koste bereits 5.300 RMB, köderte ihn der Vermieter. Was blieb Liu Miao übrig, er hatte eine Familie zu ernähren und willigte schließlich ein.

Lange Zeit war das Leben in Peking relativ stabil, man konnte hier Geld verdienen und davon leben. Lange Zeit wusste man, wieviel Geld man hat und was man sich leisten kann. Die Miete war ein fester Teil davon. Auch wenn man sich keine Wohnung kaufen konnte, man kam über die Runden. Aber die Zukunft ist nicht mehr so sicher, machen wir uns nichts vor.

Akademiker Vor einigen Tagen wurde publik, dass der Akademiker und Mitglied der Yanjing-Gesellschaft an der Harvard-Universität Huang Wancheng 19.000 RMB Miete bezahlt. Nun will der Vermieter 5.000 RMB mehr haben. | © Visual China Peking hat immer kreative Köpfe, Akademiker und Unternehmer angezogen. In dieser Stadt mit über 1.000 Jahren Geschichte gab es Platz für jeden, ob für Unternehmer oder rastlose Zugezogene auf der Suche nach dem Glück. Die Stadt mit ihrem besonderen Lebensgefühl zehrte von dem anhaltenden Wirtschaftsboom. Wir sind stolz auf die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte, die Menschen sind selbstbewusst und rational, haben immer an die vielen Möglichkeiten in der Stadt und an ihre Träume geblaubt.

Nie hätten wir gedacht, dass sich das so plötzlich ändern könnte – selbst wenn sich der wissenschaftlich-technische Aufschwung verlangsamt, neue Türen würden sich schon öffnen. Man war bereit für alles, das Dach über dem Kopf gab einem ein Gefühl von Sicherheit.

Doch im Moment scheint alles anders zu sein.

In Peking hat die Mietpreisspirale die nächste Runde erreicht. Die Daten zeigen, dass die Juli-Mieten im Vergleich zum Vormonat um 22 Prozent gestiegen sind. Durchschnittlich stieg die Monatsmiete auf 4.902 RMB pro Wohnung – und das nicht nur in Peking. Die steigenden Mieten haben das ganze Land erfasst. Am höchsten ist die Mietpreissteigerung mit 31 Prozent in Chengdu.

Mieten Mietentwicklung in Peking (RMB pro Quadratmeter pro Monat). | © Yunfang Data Wer jetzt beabsichtigt eine Wohnung zu mieten, bekommt das zu spüren: Eine Mieterhöhung um 1.000 RMB ist das Mindestmaß und ganz normal, das zeigt der ständig steigende Mietspiegel. Doch auch eine Erhöhung um 10.000 RMB ist möglich. Viele haben genug von diesen Extremen. Einer hat letztens Bilder gepostet: Im November 2017 hat er weit draußen am östlichen 6. Ring eine 150 Quadratmeter große 3-Zimmer-Wohnung für 8.700 RMB gemietet. Heute kostet sie 14.000 RMB. Das ist in nicht mal einem Jahr eine Mieterhöhung von 60 Prozent – und das ist keine Seltenheit.

Li Di (李迪) hat im September 2017 über das Immobilienportal Ziroom eine 2-Zimmer-Wohnung mit 80 Quadratmetern in Guanzhuang gemietet. Die Wohnung hat damals 4.790 RMB gekostet. Jetzt will sie den Vertrag verlängern, laut Hausverwalter beträgt die Miete nun 5.670 RMB. Als sie auf Ziroom recherchierte, fand sie heraus, dass alle Wohnungen unter 6.000 RMB bereits vorgemerkt waren, in bessseren Gegenden sogar bis 7.000 RMB, mit noch weniger Wohnfläche.

"Ich entschied damals ohne zu zögern den Vertrag nicht zu verlängern." Eine Suche entlang der Batong-Linie (Zubringer-Linie der Pekinger U-Bahn im Osten) ergab aber, dass die Mieten überall gestiegen waren. "Ich muss vor Monatsende eine Wohnung finden, wenn nicht, muss ich unter einer Brücke schlafen." Li Di hat zum ersten Mal Angst, seit sie in Peking lebt. Für einen akzeptablen Preis musste sie noch weiter raus. Vier U-Bahnstationen weiter östlich hat sie mittlerweile etwas gefunden, aber für den täglichen Weg zur Arbeit nach Guomao muss sie auf die Autobahn. Wenn sie in ihrer Wohnung ist, schaltet ihr Handy auf Roaming-Betrieb für Hebei, die an Peking angrenzende Provinz.

Die Situation im Norden Pekings ist ganz ähnlich. Ding Xiaoqiang (丁小强) arbeitet bei einer bekannten Internetfirma und wohnt in Huilongguan (回龙观). Vor vier Jahren war hier nichts, selbst die Straßen waren noch unbefestigt. Vergangenen Monat wurde ihm die Mieterhöhung von 1.000 RMB mitgeteilt, so viel wie alle Mieterhöhungen der letzten drei Jahre zusammengerechnet. "Wenn du zahlst, kannst du bleiben, wenn nicht, musst du gehen", meinte der Vermieter. Wenn in den vergangenen Jahren die Miete gestiegen ist, ließ der Vermieter meist mit sich reden. Das war diesmal anders, es gab eine klare Ansage. "Ich weiß, du bist ehrlich und wohnst schon lange hier...", sagte der Vermieter, fügte dann aber hinzu, dass die Wohnungen in der Umgebung nicht unter 6.000 RMB zu haben seien. Ding Xiaoqiang blieb nichts weiter übrig, als zähneknirschend zuzustimmen.

In besseren Gegenden sind die Steigerungen noch größer. Xiao Yu (小鱼) bewohnt in Taiyanggong (太阳宫) mehr als 100 Quadratmeter für 11.000 RMB. Bei Verlängerung des Mietvertrags soll die Wohnung 15.000 RMB kosten. "Als ich das gehört hab, bin ich ausgeflippt", sagt sie.

Wohnungsjagd

Zhao Lin (赵林) macht in Peking ein Praktikum und spürt die angespannte Situation auch. Er hat ein 8 Quadratmeter großes Zimmer für 2.500 RMB zur Nachmiete ins Netz gestellt. Freunde hatten ihn vorher gewarnt: Die Suche nach einem Nachmieter könne dauern, dann müsse man oft selbst weiter zahlen.
 

Li Di hat zum ersten Mal Angst, seit sie in Peking lebt.

Aber es kam anders: Sein Handy hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Um 10.48 Uhr ging seine Anzeige online, um 11.27 Uhr kam der erste Anruf und das ging den ganzen Tag so weiter. Vier Interessenten wollten das Zimmer ohne es zu sehen sofort nehmen und bezahlen, als sie von anderen Interessenten erfuhren.

Laut Ziroom sind in der Gegend um die Huixinxijie (惠新西街) viele 1-Zimmer-Wohnungen 1.000 RMB teurer geworden, woanders in der Stadt ebenso. Zwar werden zum Semester- oder auch Jahresende meist viele Wohnungen und Kellerwohnungen frei, aber sie sind dann schnell wieder weg. Einerseits steigen die Mieten rasant, andererseits gibt es eine sehr große Nachfrage und das treibt die Preise in die Höhe. Statistiken zeigen, dass die Zahl der ausgeschriebenen Mietwohnungen seit August 2017 Monat für Monat zurückgegangen ist und im Februar 2018 den Tiefststand erreicht hat – halb so viele wie im August 2017.

Darüber hinaus findet Medienberichten zufolge eine künstliche Aufblähung der Mieten statt, Spekulanten warten mit erhöhten Mietpreisen einfach auf den Zuschlag und die Mieter ziehen den Kürzeren. Hu Jinghui wollte mit seiner Whistleblower-Aktion, dass damit Schluss ist. Aber das allein genügt nicht, eine Veränderung der Gesamtsituation wäre nötig.

Laut Daten des chinesischen Statistikamts aus dem Jahr 2017 liegt das durchschnittliche Gehalt eines Beamten in Peking bei 10.975 RMB. Die Miete sollte ein Drittel des Gehalts nicht übersteigen, das heißt also, wer sich in Peking leisten kann mehr als 5.000 RMB Miete zu zahlen, muss schon zu den Besserverdienenden gehören. Und selbst die merken angesichts der rasant steigenden Mieten, dass ein grundlegendes Recht auf Wohnraum nicht mehr garantiert ist.

Ein gerade promovierter Maschinenbauer teilte in einem Forum seine Erfahrungen: Im vorigen Jahr habe er 5.300 RMB bezahlt, heute bereits 7.100 RMB, bei einem Einkommen von 10.000 RMB. "Samstag bis Sonntagvormittag arbeite ich noch zusätzlich für ein Luftfahrtunternehmen. Es ist zum Verrücktwerden. Ich strenge mich wirklich an, aber andere strengen sich an mir das Leben schwer zu machen."

Abstieg

Liu Miao lebt seit 18 Jahren in Peking, er kommt aus einer Designer-Familie und arbeitet im Moment in einer bekannten Kommunikationsfirma. In diesen 18 Jahren ist das BIP um 785 Prozent gestiegen, doch Liu Miao findet nicht, dass sich sein Lebensstandard verbessert hat, ganz im Gegenteil. Als er im Jahr 2000 nach Peking kam, wohnte er in einer 2-Zimmer-Wohnung mit 55 Quadratmetern für 1.500 RMB. Damals war die Wohnung nicht renoviert, der Boden aus Beton und trotz alter elektrischer Leitungen gab es einen großen schweren Fernseher und eine Waschmaschine mit Schleuder. Der Schleudergang hat zwar an ein Erdbeben erinnert, aber wenigstens war alles vorhanden.

Programmierer Der Programmierer Zhou Wei verdient monatlich 12.000 RMB und zahlt 1.400 RMB für seine Wohnung. | © Visual China Seit 18 Jahren hat Liu Miao jede Mietsteigerung mitgemacht. Von 2000 bis 2012 stieg die Miete auf 2.500 RMB, das sind 1.000 RMB in 12 Jahren, bis 2017 dann in nur 5 Jahren um noch einmal 1.000 RMB. Er hätte nicht gedacht, dass die dritte Mieterhöhung um 1.000 RMB noch weniger Zeit brauchen würde, nur ein Jahr.

Die Miete stieg, die Wohnbedingungen verbesserten sich aber nur wenig. Das Viertel sieht aus wie damals, mit den gleichen alten Häusern, wenn auch die Fassaden einen neuen Anstrich bekamen und die Wege gepflastert wurden. Erneuert wurde nichts, die Elektrik könnte nicht billiger sein. Und das Schlimmste ist, dass auch die Nebenkosten steigen. Die Miete macht bereits die Hälfte seines Einkommens aus. "Früher konnte ich noch etwas sparen, heute geht das nicht mehr."

Sein Lebensstil wird zunehmend asketisch. Wenn er aus dem Haus geht, ruft er sich kein Taxi, zu teuer. Normalerweise geht er nach Feierabend sofort nach Hause, ist günstiger so. Meist kocht er auch zu Hause, sauber und billig. Einmal im Monat geht er mit seinem Kind was essen.

Aber seine Situation ist nicht repräsentativ für alle Zugezogenen, meint er. Er ist schon über zehn Jahre hier und hat auch einige Chancen verpasst. Liu Miao hat früher bei einer Immobilienzeitschrift gearbeitet. Wer sprach früher nicht davon, eine Wohnung zu kaufen. Die niedrigen Wohnungspreise hielten bis 2015 an, in Guanzhuang stiegen sie langsam auf 20.000 RMB pro Quadratmeter. Aber Liu Miao wollte damals nicht kaufen. Niemand hätte geglaubt, dass sich der Preis bis 2016 plötzlich mehr als verdoppeln würde. Nun kann er nicht mehr kaufen. Er kennt jemanden, der früher von der Hand in den Mund gelebt hat, dann aber langsam in Immobilien investiert hat und mittlerweile Immobilienmillionär mit sieben Wohnungen ist. Damals haben ihn alle ausgelacht, heute lacht er über die anderen.

Auch Besserverdiener sind betroffen. Als Li Meng (李猛) mit einem Jahreseinkommen von 400.000 RMB seinen Mietvertrag verlängerte, musste er auch 1.000 RMB mehr zahlen. Das kann er sich zwar leisten, trotzdem beunruhigt ihn die Entwicklung. Denn auch die anderen Kosten steigen. Er kauft gerne Bücher, doch ein Buch, das vor zwei Jahren 40 RMB gekostet hat, kostet heute schon 140 RMB.  "Mein Einkommen ist doch eigentlich gar nicht so gering", wundert er sich. "Warum zögere ich beim Bücherkauf?"

Noch vor einem Jahr war Mittelschicht ein äußerst beliebtes Wort. Ziel jeder Branche war es, den Konsum eben jener Mittelschicht anzufachen. 2018 nun stellt Li Meng fest, dass seine eigene Lebensqualität nicht höher ist als früher, sondern im Gegenteil, langsam wieder abnimmt. Die Lebenshaltungskosten steigen. Früher kaufte er einfach alles, jetzt ist er nicht mehr so frei, das verunsichert ihn.
 
Praktikantin Die Praktikantin Xiao Di in ihrer 4.000 RMB teuren Wohnung ohne Heizung. | © Visual China Li Da (李达), die bei einer Behörde arbeitet und nicht so viel verdient, traf es noch härter: Die letzten zwei Jahre wohnte sie in der Nähe des Pekinger Westbahnhofs in einem 15 Quadratmeter großen Zimmer und teilte Bett und Miete mit einer anderen jungen Frau. Die Miete stieg von 2.150 RMB auf 2.500 RMB und dieses Jahr läuft der Vertrag aus. Sie suchte etwas Neues und bezog schließlich eine nicht mal 5 Quadratmeter große Abstellkammer, in die nicht viel mehr als ihre Matratze passt.

In den letzten vier Jahren wurden die Wohnungen der Zugezogenen immer kleiner. Fast jeder, der mit uns sprach, denkt darüber nach wieder wegzugehen. Als Ding Xiaoqiang (丁小强) nach Peking kam, setzte er sich ein Limit: Ich bleibe mindestens fünf Jahre und schaue mal. Er dachte, mit der Zeit könnte es ihm hier gefallen, doch auch ihm hat die harte Realität des Pekinger Alltags einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Als der Wohnungswechsel sich so schwierig gestaltete, zogen auch Li Di und ihr Freund in Betracht nach Hangzhou zu gehen. Sie hatten vorher nie einen Gedanken daran verschwendet wegzuziehen. Sie verdient zwar mehr als 10.000 RMB monatlich, muss dafür aber täglich Überstunden machen und in letzter Zeit war sie öfter krank. "Peking gibt den Menschen Hoffnung, auf der anderen Seite saugt die Stadt einen aus", seufzt sie.

Auch der bereits 18 Jahre in Peking lebende Liu Miao kann nicht mehr: Eine Wohnung kaufen kann er nicht, an eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung kommt er nicht, sein Kind darf deshalb hier nicht die Schule besuchen, und ein Ende der Schwierigkeiten ist nicht in Sicht. Nicht nur Kaufen fällt aus, auch die Miete kann er sich nicht mehr leisten. Und wenn er wieder in den Nordosten zurückgehen würde, gäbe es dort vermutlich keine Arbeit für ihn.
 
"Was denkst du, zu welcher Schicht in Peking du gehörst?" "Ich bewege mich oberhalb der Armutsgrenze", sagt Liu Miao mit einem monatlichen Einkommen von mehr als 10.000 RMB.

Der Artikel erschien auf WeChat unter der ID guyulab (谷雨实验室) und war im Sommer 2018 einer der meistgelesenen und meistkommentierten Artikel in China.
 

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