Manifest  Wie kommt das Neue in die Welt?

Siegfried Zielinski
Siegfried Zielinski Foto (Ausschnitt): Siegfried Zielinski © MONO KROM

Zum Stand der Dinge und ihrer Bewegungsmöglichkeiten in die Zukunft hinein

1.

Das Neue denke ich nicht als ontologisches Ereignis, angesichts dessen wir entweder heftig erschrecken oder jubilieren müssen. Das Neue ist für mich die Schnittstelle zwischen den vergangenen Gegenwarten archivierter Kultur und dem noch nicht Aufbewahrten, noch nicht historisches Erbe Gewordenen und als solches Verwalteten. In diesem in beide Richtungen offenen Interface, dazwischen befinden sich die Sensationen der Künste, des Wissens und des Medialen, die mich im Kern interessieren. 

2.

Über das Neue in einer möglichen Zukunft nachzudenken, begreife ich als eine Einladung zum intellektuellen Experiment. Zukunft gestalten heißt für mich als AnArchäologe und Variantologe der Künste und Medien, auf der Suche nach (alternativen) tiefenzeitlichen Beziehungen in Kunst, Wissenschaft und Technik, die Herkünfte derjenigen Phänomene, die mich brennend interessieren, immer wieder neu zu durchdenken und ihnen überraschende Varianten abzugewinnen. Die Vorhut im Feld der Künste, des Wissens und der Medien wie ihrer Wechselwirkungen hat die Welt nie aus dem Nichts und schon gar nicht aus dem Stand heraus neu erfunden. Vielmehr vollzieht die Avantgarde eine Bewegung durch die vergangenen Gegenwarten hindurch in mögliche künftige Gegenwarten. Voraussetzung dafür ist eine Haltung, die mit einer spezifischen Neugier verbunden ist. Es geht darum, im Alten Neues entdecken zu wollen und nicht immer wieder im Neuen das Alte bestätigt zu sehen. 

3.

Spätestens seit dem großen Situationisten Guy Debord, dem Experten für urbane Unübersichtlichkeiten, wissen wir, dass Kommunikation, zumal telematisch verfasste, nicht nur verbindet; sie kann auch trennen. Das liegt in der Natur einer auf das Spektakel, den hemmungslosen Austausch und Transparenz aufgebauten Sozialität. Etymologisch bedeutet Kommunikation einen Akt des Gemeinschaftlichmachens. Verknüpft mit dem unbedingten Willen zur Disziplin oder Unterordnung (das klassische Subjekt) kann Kommunikation destruktiv wirken. Der Homo artefactus, der uns gegenwärtig überall in Form von üppig ausgerüsteten menschlichen Maschinen im Befehlsnotstand begegnet, ist ein deterministisch programmierter Apparat, der ohne zu fragen exekutiert, die Inkarnation des Funktionärs. „Zwei Menschenautomaten können mit sich selbst nur wenig anfangen“, schrieb Hermann Kasack, Autor des Romans „Das große Netz“, vor mehr als einem halben Jahrhundert (1952). „Haben Sie also einen Auftrag für mich?“ 

4.

Jedes neue Medium wird zum alten Medium werden, und jedes alte Medium ist einst ein neues Medium gewesen. Der universelle Musikautomat, den eine Bande von drei jungen Wissenschaftlern und Erfindern im Bagdader Haus der Weisheit um das Jahr 850 entwickelt haben, war zu seiner Zeit eine schier unglaubliche Innovation. Für ein ganzes Jahrtausend wurde das mechanische und informatorische Prinzip, das ihn kennzeichnete, zur Grundlage schreibender, musizierender, malender oder spielender Automaten. Wenn ich es schaffe, den komplexen Raum, in dem solche Sensationen entstehen konnten, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren, ermögliche ich das Leben in einer aufregenden und anregenden Zeitmaschine. Die Reisen, die ich darin unternehmen kann, verbinden Vergangenheit und Zukunft als Möglichkeitsräume, als potential spaces

5.

Projekte, auch solche, die in die Zukunft gerichtet sind, haben einen Anfang und ein Ende; andernfalls wären sie nicht in operative Praxis umsetzbar. Sie können immer nur Passagen, Entr’actes, Zwischenspiele in der Geschichte sein. Der freie Wille, auch der künstlerische, entwickelt sich aus der Einsicht und dem Gefühl, dass die erfahrbare Welt beschränkt ist und voller Unzulänglichkeiten, Brüche und Dissonanzen. Es ist eines der Privilegien von Künstlerinnen und Künstlern, das Leiden daran im Prozess des Gestaltens produktiv transformieren zu können. Künstlerische Energie bedeutet die Fähigkeit zur Transgredierung der Beschränkteit unserer Existenz in ein offeneres Pluriversum hinein. Kunst – inklusive der Poesie, der Musik, des Tanzes – ist ein eigenwilliger Dialog mit Gott - oder wie immer wir das, was größer ist als wir selbst, fassen wollen. „Organizzar il trasumanar“ [die Grenzüberschreitung organisieren] – mit diesem schönen Paradoxon umschrieb Pier-Paolo Pasolini eine wesentliche Dimension seiner Tätigkeit als Poet, Maler und Filmemacher. 

6.

Bei der für uns alltäglich erfahrbaren Spannung einerseits zwischen einem definierten Rahmen, der uns für das Denken und Handeln gesetzt ist und den man in psychischer Hinsicht auch als Bewusstsein bezeichnen kann, und andererseits dem Gestaltungsspielraum des einzelnen Akteurs handelt es sich nicht um einen unauflöslichen Widerspruch. Vielmehr geht es um eine spannungsreiche Komplementarität in Gegensätzen. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Die Freiheit des einzelnen Willens verträgt sich nicht nur mit der Idee einer gefügten Welt, sondern sie wohnt ihr inne. Freiheit ist in erster Linie ein Begriff der Erfahrung. Der freie Wille – besonders der Wille, der durch die Phantasie in ästhetisches Handeln eingeht - realisiert sich nur, indem ich tätig werde, indem ich denke, urteile, schaffe, gestalte, kämpfe, liebe. In zugespitzter und kürzester Form lässt sich in einem Satz aufschreiben, was in dieser Perspektive die Kunst der Gestaltung von Zukunft wesentlich ausmacht. Sie ist das Können, das auszuwählen, was mein Wille wirklich will – im Dialog mit dem Willen des anderen. Der freie Wille, die Welt zu verändern, ist das Medium, durch das hindurch der Unterworfene (das Subjekt) sich am intensivsten als Entwerfer realisiert. Kreative Menschen sind Projektoren. Was sie entwerfen sind in den besten Fällen projizierte Welten, also andere als diejenige, in der wir leben. 

7.

Moderne Wissenschaft, Technik und Kunst verausgaben sich erfolgreich seit Jahrhunderten darin, das nicht Sichtbare sichtbar, das nicht Wahrnehmbare endlich der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Dieser Prozess ist durch die umfassende Verdatung der Natur und dadurch, dass die sozialen Beziehungen bis in filigrane Windungen hinein systemisch geworden sind, weit voran geschritten. Je mehr die technische Welt dafür programmiert wird, das Unmögliche möglicher, d.h. funktionstüchtig und effektiv zu machen, lohnt sich der Versuch, das Mögliche mit seinen eigenen Unmöglichkeiten zu konfrontieren. Das wäre ein offenes Programm als Alternative zur Durchsetzung der Kybernetik als dominanter Kultur- und Sozialtechnik. Solange wir es bei den fortgeschrittenen vernetzten Technologien noch mit uns gegenüber stehenden denkenden Maschinen, also mit künstlichen Extelligenzen und noch nicht mit uns inkorporierten synthetischen Intelligenzen zu tun haben, lässt sich ein solches Programm verwirklichen. - Mögliche Welten zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass wir sie denken, entwerfen und erreichen können, sondern dass wir sie mögen, dass wir sie wünschen, unter Umständen sogar begehren, dass wir zusammen mit ihnen für die Zukunft ein Wagnis eingehen können – mit Zuversicht. Einst nannte man so etwas utopisches Denken. 

8.

In den entwickelten technisch basierten Ökonomien und Kulturen leben wir wie in einem permanenten Test Department. Ideen und Konzepte werden für ihre Tauglichkeit auf dem internationalen Markt entwickelt und geprüft. In künstlerisch-gestalterischen Prozessen hingegen hat das Experiment immer Vorrang gegenüber dem Test. Der Test ist an definierte Zwecke und vorab gesteckte Ziele gebunden; er dient der Produktwerdung. Das Experiment birgt die Möglichkeit der Überraschung und des Scheiterns (in Würde) in sich. 

9.

Die Kunst des Wissens, der Gestaltung und des alltäglichen Handelns umfasst Tätigkeiten, die höchste Beweglichkeit erfordern. Diese Beweglichkeit ist nicht identisch mit jener Mobilität, welche die als global bezeichnete Ökonomie alltäglich von uns einfordert. Unsere Mobilität bietet sich nicht zur Ausbeutung an. Sie versucht, mit einem Minimum an Besitz und Ballast auszukommen. Sie pflegt eine Existenz auf Wanderschaft und des luxuriösen Flanierens, die sich das Erstaunen und die Überraschung gönnt. Auf dem Weltmarkt der Strategien gehandelte Konzepte wie die Globalisierung entstammen semantischen Feldern, die nichts mit den diversen Künsten zu tun haben. Wir benötigen andere Begriffe und andere Orientierungen. Die Qualität von weltweiten Beziehungen, die wir zu entwickeln und zu fördern haben, ist primär poetischer Natur. Unbedingte Zweckrationalität ist dieser Art vornehmer Mundialität fremd. Unter den Bedingungen weltweiter Vernetzung unserer Tätigkeiten, könnten die diversen Künste eine mundiale Theorie & Praxis werden - als besondere Poetik der Verbindungen

10.

Zu wissen, woher und wohin der Wind weht, ist heute erneut überlebenswichtig geworden. Von den Händlern und Piraten der Weltmeere und Lüfte zu lernen, erfordert nicht nur tiefe Kenntnisse und Fähigkeiten des Navigierens als grundlegender Kulturtechnik. Winde und Wolken, die Turbulenzen oder gar Unwetter ankündigen, müssen wieder gelesen werden wie Notationen dynamischer Prozesse und Ereignisse. Der Kontakt zum ozeanischen & pazifischen Denken wie Handeln, über den auch China verfügt, öffnet unsere Aktivitäten für einen großzügigen weltweiten Zusammenhang. 

11.

Das Digitale ist die letzte Analogie zur alchemistischen Formel für Gold. Der Reiz der alchemistischen Labore in China, Arabien, Ägypten oder Europa bestand nicht in erster Linie darin, aus dem gemeinen Material tatsächlich glänzendes Gold zu fabrizieren. Er bestand  vielmehr darin, tief greifende Erfahrungen bei der Veränderung des weniger Vollkommenen hin zum mehr Vollkommenen zu machen. Der Verwandlung der Verwandler kam dabei eine ebenso große Bedeutung zu wie der Verwandlung der Materie. 

12.

Maschinen und Einbildungskraft müssen in der Zukunft keine unversöhnlichen Widersprüche sein. Der homo artefactus, der zu werden wir im Begriff sind, kann sie als zwei verschiedene, sich ergänzende Möglichkeiten benutzen, die Welt zu verstehen, zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Zu den höchsten Sphären der programmierten Welten dringt man ohnehin nur durch die Kräfte der Vorstellung und Einbildung hindurch. Umgekehrt sind Phantasie & Imagination gut beraten, wenn sie sich nicht ohne Not des Rechnens und Berechnens entledigen. Bequeme Haltungen haben in den fortgeschrittenen Künsten genauso wenig verloren wie in den Gestaltungen unserer ökologischen, ökonomischen und politischen Zukünfte. Für diejenigen, die es mit komplexen Apparaten zu tun haben, reicht es nicht, nur Dichter und Denker zu sein. Sie kommen ohne Erfahrungen im Einrichten und Lenken dauerhaft nicht aus. In Zukunft reicht es weder aus, lediglich Operateur noch nur Magier zu sein. Der gestalterische Zugang zur Welt braucht die eingreifende Geste ebenso wie die Geste des Handauflegens  - am besten zugleich: magische Operateure und operative Magier. 

13.

Kunst, die mit fortgeschrittenen Technologien realisiert wird, sollte sich weniger in der Renovierung oder gar Dekoration etablierter Verhältnisse vergeuden als an dem nie endenden und nie überflüssig werdenden Experiment verschwenden, eine andere als die existierende Welt zu schaffen. Auch wenn die Verschiebungen, die wir herzustellen in der Lage sind, nur Mikromillimeter oder Nanosekunden ausmachen. Die vornehmste Aufgabe von Künstlern ist es, denjenigen, die ihre Werke erleben und genießen sollen, etwas von der Zeit zurückzugeben, die ihnen das Leben gestohlen hat. Das erfordert, dass wir uns selbst die Zeit gönnen, welche die Kunst der Gestaltung benötigt. Hetze ist des Teufels, so stand es auf einigen alchemistischen Gefäßen geschrieben, die der Transformation der Materie vom Profanen zum Edlen dienten. 

14.

Zur Vermeidung einer Existenz, die ständig aus der Gegenwart flieht, zu wenig in der Zeit ist und damit paranoisch, und zur Vermeidung eines Seins, das zu viel in der Zeit ist, nicht vergessen kann und sich allein in bitterer Melancholie wohl fühlt, kann die Einübung in eine prinzipielle und bewusst gepflegte Aufspaltung hilfreich sein. Wir organisieren, informieren, publizieren, debattieren und amüsieren uns in schnellen telematischen Vernetzungen. Wir schwärmen, denken, genießen, glauben und vertrauen in autonomen, getrennten Situationen, jeder für sich und gelegentlich mit anderen Einzelnen zusammen. Das läuft auf einen Balanceakt voller Spannungen hinaus: In einem einzigen Leben müssen wir lernen, online existieren und offline sein zu können. Andernfalls werden wir lediglich zu auswechselbaren Funktionären derjenigen Welt, die wir selber geschaffen haben. Diesen Sieg sollten wir der Kybernetik, der Wissenschaft von der optimalen Kontrolle und Vorhersagbarkeit komplexer Ereignisse, nicht gönnen. “When I give an order to a machine, the situation is not essentially different from that which arises when I give an order to a person”, schrieb Norbert Wiener 1948. 

15.

Die vornehmste Aufgabe für alle Künste und Ethik bleibt es, für das Andere, für das, was nicht mit uns identisch ist, feinfühlig zu machen oder zu halten; und zwar mit den besonderen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, nämlich ästhetischen, poetischen. Das wird sich nicht ändern, ganz gleich, durch welche Techniken und Medien hindurch wir uns ausdrücken und in Zukunft ausdrücken werden. 

Außer bei Josef Čapek (für seinen homo artefactus) bedanke ich mich bei Hinderk M. Emrich, Vilém Flusser, Édouard Glissant, Ludwig Harig, Arnold Metzger, Pier Paolo Pasolini, Donald Winnicott und der Rockband Test Dept. für wertvolle Anregungen.

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