Chinesische Literatur  Eine Geschichte Chinas in Kung-Fu-Kämpfen

Bruce Lee
Bruce Lee © Yaopey Yong

In Hongkong war Jin Yong wohl der populärste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Seine Kung-Fu-Helden sind überraschend aktuell.

Der Westen muss in einer Parallelwelt leben. Anders kann man sich nicht erklären, dass eines der Hauptwerke eines literarischen Giganten erst jetzt, mehr als 60 Jahre nach seiner Veröffentlichung, auf Deutsch erscheint.
 
Die Rede ist von dem Kung-Fu-Klassiker Die Legende der Adlerkrieger von Jin Yong, dem wahrscheinlich meistgelesenen chinesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Jin Yong ist in der chinesischsprachigen Welt so dermaßen populär, dass es schwerfällt, die richtigen Worte dafür zu finden.
 
Ein paar Anekdoten, die seine Bekanntheit unterstreichen: Die Beschäftigung mit Jin Yongs Werk hat in China den Rang eines eigenen akademischen Fachs: Man nennt es „Jinologie“. Jack Ma, der Gründer des chinesischen Onlinehandelsriesen Alibaba, benannte seine ersten Mitarbeiter nach Figuren aus den Romanen des Schriftstellers. Und sogar ein Asteroid trägt den Namen des Autors. 
 
In den Westen ist der Ruhm des Romanciers dennoch nicht richtig vorgedrungen. „Leider zu populär für den Nobelpreis“, schrieb ein Hongkonger Kritiker in einem Nachruf, als Jin Yong 2018 starb. Der Kritiker brachte damit nicht nur auf den Punkt, dass der Schriftsteller ein Phänomen der Massenkultur war – sondern auch, dass er in einem Teil der Welt immens beliebt war und in einem anderen so gut wie unbekannt.

Auf den ersten Blick ist Die Legende der Adlerkrieger ein Kung-Fu-Roman. Er führt in die Welt der Kampfkünste – oder in die Welt des „Jianghu“, der „Flüsse und Seen“, wie es auf Chinesisch heißt. Diese Welt wird bewohnt von verschrobenen Helden, die sich gegen die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung auflehnen und eine eigene, auf moralischen Werten errichtete Gegengesellschaft hochhalten. In dem Roman, einer Melange aus Geschichte, Fantasie und Poesie, begegnet man allerlei kauzigen Gestalten, etwa daoistischen Mönchen, Hexen und Räuberhauptmännern. Und wenn diese Gestalten dann im Kampf ihre Kräfte messen, lernt man die kuriosesten (und überwiegend frei erfundenen) Kung-Fu-Kampfformen kennen, etwa die „Kunst der goldenen Gans“, die „Berge zerteilende Hand“ oder „Aufsteigender Phoenix und tanzender Drache“.

Der auf einem Trauma beruhende Furor, mit dem sich China heute zur Supermacht aufschwingt, ist psychologisch in diesem Roman angelegt.


Die Handlung will es, dass sich zwei Kung-Fu-Krieger kurz vor ihrem Tod ewige Bruderschaft schwören. Der Eid soll auch für ihre Kinder gelten. Doch es kommt anders. Denn eines Tages stehen sich die Kinder – nach allerlei geschichtlichen Wirrungen – als Anhänger zweier verfeindeter Kaiserhäuser gegenüber.
 
In dieser Handlung steckt so viel Archetypisches, dass man an ihr mehr lernt als in vielen Geschichtsbüchern. Da ist zum einen die chinesische Erfahrung der Fremdherrschaft. Der Roman spielt im 13. Jahrhundert in der Song-Dynastie. Damals überließ der chinesische Kaiser die nördliche Hälfte seines Großreichs kampflos dem Volk der Jurchen und degradierte China damit zu einem Vasallenstaat. Für die Romanhelden ist die kampflose Kapitulation die größte anzunehmende Schmach. Die Erniedrigung treibt sie in den patriotischen Widerstand.
 
Diese Erfahrung ist so etwas wie ein Leitmotiv der chinesischen Geschichte. Das Land, das sich traditionell als Mittelpunkt der Zivilisation betrachtet, ist immer wieder von fremden Völkern regiert worden – etwa während der Yuan-Dynastie von den Mongolen und während der Qing-Dynastie, der letzten Dynastie des chinesischen Kaiserreichs, von den Mandschu. Zudem wurde die Souveränität Chinas ab dem 19. Jahrhundert von europäischen Kolonialmächten ausgehöhlt. An dieser Schmach arbeitet sich das Land bis in die Gegenwart ab. Noch heute nennt man die Unterwerfung durch den Westen auf Chinesisch das „Jahrhundert der Erniedrigung“. Der auf einem Trauma beruhende Furor, mit dem sich China heute zur Supermacht aufschwingt, ist psychologisch in diesem Roman angelegt.
 
Und auch die Erfahrung, dass aus Blutsbrüdern innerhalb einer Generation Feinde werden können, ist in der chinesischen Geschichte quasi allgegenwärtig. Nach dem chinesischen Bürgerkrieg und dem Sieg der Kommunisten gegen die Nationalisten flohen beispielsweise Millionen von Chinesen nach Taiwan, Hongkong, Südostasien und in die USA. Die Kinder dieser Flüchtlinge wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass sie in China zwar Verwandte haben, mit diesen aber ideologisch über Kreuz liegen.
 
Deswegen ist Die Legende der Adlerkrieger nicht nur ein Heldenepos. Der Roman ist vielmehr ein Panorama der chinesischen Geschichte und Gesellschaft. Er ist eine Einführung in viele der kulturellen Dualismen, die China seit Jahrhunderten prägen und auseinanderdriften lassen – etwa in die Konflikte zwischen innerer und äußerer Kampfkunst, zwischen Nord- und Südchina, zwischen Buddhismus und Daoismus und zwischen Chinesen und Invasoren.
Bruce Lee und sein Lehrer Bruce Lee und sein Lehrer | via Wikimedia Bei aller Geschichtsträchtigkeit ist der Roman aber nicht unzeitgemäß. Im Gegenteil, er ist gut gealtert. Denn wer will, sieht zwischen den Zeilen die Gegenwart durchschimmern. An einer Stelle entdeckt einer der beiden Blutsbrüder an den Uniformen einiger toter Soldaten der Song-Dynastie Abzeichen, die in der Sprache der Jurchen verfasst sind – ein Hinweis darauf, dass die Jurchen nicht nur in Nordchina, sondern auch im Hoheitsgebiet der Song-Dynastie Gewalt ausüben. Es fällt nicht schwer, bei dieser Szene an das Schicksal Hongkongs zu denken. Die chinesische Sonderverwaltungszone ist eigentlich autonom. Im Sommer hat die Volksrepublik aber ein „Sicherheitsgesetz“ verabschiedet, das es ihr ermöglicht, in der Hafenmetropole eigene Sicherheitskräfte einzusetzen. Die Demokratieaktivisten Hongkongs sind, um es mit Jin Yong auszudrücken, die Kung-Fu-Helden der Gegenwart.

Manche Romane waren in den 70er-Jahren in beiden Staaten verboten – obwohl sich Peking und Taipeh ideologisch verfeindet gegenüberstanden.

Es sind Analogien wie diese, die dazu geführt haben, dass chinesische Politiker aller Couleur die Romane Jin Yongs lange verflucht haben. Während des Kalten Kriegs sah sowohl die Volksrepublik als auch die nach Taiwan geflohene Republik China das Werk des Schriftstellers als Kritik am eigenen Regierungsstil. Die Pointe: Manche Romane waren in den 70er-Jahren in beiden Staaten verboten – obwohl sich Peking und Taipeh ideologisch verfeindet gegenüberstanden. Heute sind die Verbote nicht mehr in Kraft.

Jin Yong wurde 1924 – als Kriegsherren China in Einflussgebiete aufgeteilt hatten – als Sohn wohlhabender Eltern in der südlichen Provinz Zhejiang geboren. 1948, gegen Ende des chinesischen Bürgerkriegs, floh er nach Hongkong, wo er als Journalist und Schriftsteller den Rest seines Lebens verbrachte. In den 50er-Jahren begann er, Kung-Fu-Romane zu schreiben. Die Legende der Adlerkrieger erschien zwischen 1957 und 1959 als Fortsetzungsroman in der noch heute bestehenden Tageszeitung „Hong Kong Commercial Daily“. 1959 war Jin Yong einer der Gründer der „Ming Pao”, die bis heute als eine der glaubwürdigsten chinesischsprachigen Tageszeitungen Hongkongs gilt.
 
Bis in die 70er-Jahre vermied der Schriftsteller politische Kontakte. Als aber Deng Xiaoping ab 1978 zur wichtigsten Führungsperson der Volksrepublik aufstieg, machte sich Jin Yong, dessen Vater in den 50er-Jahren als „Konterrevolutionär“ umgebracht worden war, Hoffnungen auf eine politische Liberalisierung. So kam es, dass er als erster nicht kommunistischer Hongkonger den Reformer Deng traf – der ein Fan der Romane Jin Yongs war. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 kappte der Schriftsteller die politischen Kontakte enttäuscht. In einem kurz nach dem Massaker ausgestrahlten Fernsehinterview sagte er unter Tränen: „Die friedlichen Forderungen der Studenten hätten niemals mit militärischer Gewalt unterdrückt werden dürfen.“
 
Jin Yong Werk umfasst mehr als ein Dutzend Romane und Kurzgeschichten. Es wurde in unzählige Sprachen übersetzt und für Filme, Fernsehserien, Comics und Computerspiele adaptiert. Eine ironische Pointe ist, dass seine Romane im Westen wenig bekannt sind – aber der Wegbereiter einer cineastischen Ästhetik sind, die im Westen heute als selbstverständlich gilt. Der Kung-Fu-Roman à la Jin Yong ist die Grundlage des Kung-Fu-Films, der in den 70er-Jahren durch Bruce Lee popularisiert wurde. Im frühen 21. Jahrhundert schwappte diese ästhetisch stilisierte Darbietung von Kampfkünsten dann mit Filmen wie „Tiger and Dragon“, „Hero“ und „Kill Bill“ in den Westen. Kurz: Dass sich heute niemand mehr wundert, wenn der Held eines Hollywood-Films chinesische Kampfkunst beherrscht, liegt auch an Jin Yong.
 
Dass ein Roman wie Die Legende der Adlerkrieger nun in hervorragender Übersetzung von Karin Betz auf Deutsch vorliegt, befreit den Westen nicht aus seiner Parallelwelt. Aber es verringert die Asymmetrie des Wissens, die zwischen China und dem Westen herrscht – wenn auch nur um ein kleines bisschen. China kennt den Westen, aber der Westen kennt China nicht.
 
Dem Zeitpunkt der Übersetzung wohnt allerdings eine traurige Pointe inne. Jin Yongs Karriere ist nicht denkbar ohne Hongkong. Seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs ist die Hafenmetropole ein chinesischer Melting Pot und eine Insel der Freiheit gewesen – erst als britische Kronkolonie, dann als chinesische Sonderverwaltungszone. Die politische und kulturelle Freiheit der Stadt hat ganz wesentlich zur Verbreitung von Jin Yongs Romanen beigetragen. Die Übersetzung von Die Legende der Adlerkrieger kommt nun ausgerechnet in dem Jahr nach Deutschland, in dem sich die Volksrepublik vorgenommen hat, die politische und kulturelle Freiheit Hongkongs mit dem „Sicherheitsgesetz“ aus der Welt zu schaffen. Ob eine Schriftsteller-Karriere wie die von Jin Yong dort heute noch möglich wäre? Wohl kaum. 
 
Jin Yong: Die Legende der Adlerkrieger. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Heyne, 576 Seiten, 16,99 €
 

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