Urban Exploration  Endstation Xinzhuang, Shanghai

Brücke in Xinzhuang
Xinzhuang © btr

In Zeiten der Pandemie bietet sich die nahe Umgebung zum Erkunden an – wenn nicht gerade Lockdown ist. Wer in einer Megacity wie Shanghai wohnt, lernt mit den Straßen und Bezirken, die er gewöhnlich frequentiert, nur einen winzigen Teil der Stadt kennen. Warum nicht mal in einer gewohnten U-Bahnstation die Gegenrichtung nehmen und bis zur Endstation fahren? Mit dieser Idee besteige ich die Linie 1, Endstation Xinzhuang.

Nach der Station Freizeitpark Jinjiang fährt die U-Bahn ebenerdig weiter, als gäbe es in dieser Stadt eine unsichtbare Grenzlinie. Sind etwa von hier ab die Bodenpreise günstiger als die Baukosten eines Tunnels? Ein Schnellzug, der plötzlich auf einer leicht erhöhten Parallelspur dicht neben der U-Bahn südwärts Richtung Hangzhou fährt, reißt mich aus den Gedanken.

Als ich an der Endstation Xinzhuang aussteige, zeigt die Stadt ein anderes Gesicht. Nicht heruntergekommen, nein, aber irgendwie scheint hier alles im Wandel begriffen zu sein. Es hat etwas Unstetes, Verunsicherndes. An einem Bauzaun weist ein Schild den Weg zu „provisorischen Toiletten“. Seitlich wurde aus unerfindlichen Gründen eine leere Fläche abgezäunt, gelbe Schriftzeichen auf blauem Grund kennzeichnen sie als „Distributionsareal“. Neben einem roten Stoffbanner, der vor illegalen Mitfahrdiensten warnt, stechen Kolonnen von orangefarbenen Taxis ins Auge, alle beschriftet mit „Minhang-Distrikt“. Ich ziehe das Mietrad vor und fahre los, Richtung Xinzhang-Park. Ein Fahrrad ist in Tempo und Reichweite einfach besser geeignet für einen Stadtbummel. Zum Park hin wird die Straße etwas schmaler, Hunde liegen vor einer noch nicht geöffneten Galerie, am Parkeingang wandern Schriftzeichen über ein Display, eine Ankündigung, dass nächste Woche die Regenzeit beginnt.

Die seit 91 Jahren bestehende Grünanlage, anfangs Park der wilden Pflaumen genannt, ist bekannt für ihre Blütenpracht, insbesondere der weißblühenden Sorte Armeniaca mume. Doch jetzt, im Juni, da die Blüte längst vorbei ist, drängen sich die Pappelpflaumen mit ihren dunkelroten Beeren vor, deren säuerliches Aroma in der Luft hängt. Der Wind verrät mir den Weg in ihre Richtung. Pfade, die mit Kirschblüten übersät sind, habe ich schon gesehen, doch wie macht sich wohl ein Weg voller reifer Pappelpflaumen aus? Schritt für Schritt musst du den reifen Früchten ausweichen, sonst spritzt der frische rote Saft heraus, dass du sie dir am liebsten gleich vom Boden in den Mund stecken würdest!

Hinter einem Tor mit der Aufschrift „den Kiefern lauschen“ finde ich eine Zickzackbrücke und ein kleines Teehaus. Tischchen und Stühle, pastellfarbene Thermosflaschen, weit und breit kein Mensch. Mit plötzlich wachem Gehör fällt mir ein Geräusch auf, das ich schon vor einer halben Stunde hätte hören müssen, denn ganz Xinzhuang ist darin eingehüllt: der Fluglärm. Vom unweit gelegenen Flughafen Shanghai Hongqiao braust alle paar Minuten eine Maschine im Tiefflug vorüber. Ob die Passagiere am Fensterplatz die hübsche traditionelle Gartenanlage wohl gesehen haben?
 
  • Park der wilden Pflaumen © btr
    Dieser Park mag es unplugged
  • Park der wilden Pflaumen © btr
    Dieser Park mag es unplugged
  • Park der wilden Pflaumen © btr
    „Bitte keine Audio-Verstärker“
Geräusche sind übereinandergeschichtete Landschaften. Je genauer man hinhört, desto mehr Einzelheiten lassen sich ausmachen. Etwa die Klänge einer Kniegeige in der Nähe, etwas weiter weg ein Saxophon. „Bitte keine Audio-Verstärker“ mahnt ein Schild freundlich – dieser Park mag es unplugged. Beim Pavillon, wo die Kniegeige gespielt wird, finde ich eine informelle Gesangstruppe, drei Männer und zwei Frauen. Zwischen ihren Einsätzen legen sie eine Pause ein, um bei anhaltender Begleitmusik zu plaudern. Ereifern sich über einen sechsfachen Immobilienbesitzer, der vor lauter Geiz nicht mal zum Essen einlade, oder bedauern seufzend, dass man einem kürzlich verstorbenen Kollegen all seine Musikinstrumente – eine Laute, eine Kniegeige und ein Hackbrett – als Grabbeigaben verbrannt habe. Der Herr weiter drüben mit dem Saxophon scheint Geselligkeit zu meiden. Er hat sich in den hintersten Winkel eines Häuschens verzogen, auf dem „Unerschöpflicher Raum“ steht. Dort bläst er seine Töne mit einem Widerhall wie beim Singen im Duschraum.

Als ich zum Park hinaus schlendere, zurück auf das heiße Straßenpflaster, ist es schon nach vier Uhr. Beim Einbiegen ins Viertel Xinsong Nr. 3 durch ein Seitentor fällt mir eine Aufschrift ins Auge: „Hygienekomitee der Stadt Xinzhuang“. Stimmt, Xinzhuang ist ja eine eigene Kleinstadt, das wird mir erst jetzt bewusst. Was mein Bewusstsein aber jetzt in Anspruch nimmt, ist nicht diese Erkenntnis und auch nicht die kurz im Handy abgerufene Info, Xinzhuang liege „geografisch betrachtet im Zentrum von Shanghai“, sondern eine quirlige Ansammlung von Menschen weiter vorn. Erwartungsvoll, wie ein Stadtbummler, der endlich etwas Aufregendes entdeckt, fahre ich auf einer mit „Rettungspassage“ beschrifteten Straße auf die Menschenmenge zu.
Ich fahre auf einer mit „Rettungspassage“ beschrifteten Straße auf die Menschenmenge zu. Ich fahre auf einer mit „Rettungspassage“ beschrifteten Straße auf die Menschenmenge zu. | © btr Es stellt sich heraus, dass in dem Viertel eine experimentelle Grundschule liegt, um die herum sich allerhand Gewerbe angesammelt hat. Ein ganztägiger Kinderhort, Lehrangebote in Olympiade-Mathematik und Nachhilfe für die Mittelschulprüfung werden angeboten. Auch ein Immobilienvertreter ist da, mit einem Stapel von Werbeflyern. Inserate für hochwertige Wohnungen im Einzugsbereich der Schule: „Dreizimmerwohnung im Xinsong-Viertel Nr. 3, 65.52 m2, Kaufpreis 5.75 Mio., fünfjährig, Erstwohnung“.

Während ich im Weiterfahren überlege, was wohl „fünfjährig, Erstwohnung“ zu bedeuten habe, sehe ich vor mir auf einmal einen Fernsehturm, der aussieht wie einst der alte an der Nanjing-Straße oder wie eine dürftige Version des Pearl Towers. Beim Radfahren in Xinzhuang muss man immer wieder kleine Bogenbrücken rauf und runter, schließlich ist Shanghai eine wasserreiche Stadt. Ich entscheide mich, die letzte Stunde hier in Xinzhuang am nahen Dianpu-Kanal zu verbringen, der auf der Karte ziemlich breit aussieht.
 
  • Fernsehturm in Xinzhuang © btr
    Fernsehturm in Xinzhuang
  • Xinzhuang © btr
    Bitte Hunde an der Leine führen, „Müll“ nicht hier deponieren.
Als ich auf der Shuying-Straße zum Kanal fahre, fegt in der Ferne gerade der Taifun Choi-Wan für uns lautlos über Taiwan hinweg. Vor einem tiefroten Abendhimmel hüpfen Vögel auf den Stromleitungen auf und ab, dass es aussieht wie eine Notenschrift. In einem Park mit dem schlichten Namen Grünfläche am Südufer üben ältere Frauen Taiji, während Jugendliche ihre TikTok-Videos machen; alte Männer sitzen beim Angeln, Jogger flitzen unter der Regenbogenbrücke durch.

Unter der Brücke stehend horche ich auf das dumpfe Donnern der Wagen über mir und versuche mir vorzustellen, wie sie aussehen.
Vor einem tiefroten Abendhimmel hüpfen Vögel auf den Stromleitungen auf und ab, dass es aussieht wie eine Notenschrift. Vor einem tiefroten Abendhimmel hüpfen Vögel auf den Stromleitungen auf und ab, dass es aussieht wie eine Notenschrift. | © btr

Urban Exploration

Bewegungsfreiheit ist kostbar. Nimm in einer vertrauten U-Bahnstation die umgekehrte Richtung bis zur Endstation und schlendere dort ohne Ziel und Absicht einen Tag lang herum, um einen neuen Eindruck von der Stadt zu gewinnen.

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