Interview mit Filmemacher Rong Guangrong  „Ich gebe zu, ich bin ein Feigling“

Rong Guangrong
Rong Guangrong © Rong Guangrong

Die beißende Kälte in The Cold Raising the Cold ist die Gleichgültigkeit der unteren, am Limit lebenden Gesellschaftsschicht. Für das bloße Auge unsichtbar erwächst sie aus Unverständnis füreinander und aus der Unfähigkeit zu kommunizieren. Rong Guangrong im Gespräch über Gewalt in seinen Geschichten, das Filmemachen als Angsthase und den Sirenenruf des kommerziellen Filmbetriebs in China.

Der Regisseur Rong Guangrong und Ambra Corinti, die Produzentin des Films, sind die Begründer des unabhängigen Kunst- und Ausstellungsraums Zajia-Lab. Er befindet sich in der Halle eines alten taoistischen Tempels nördlich vom Glockenturm in Beijing. Schon lange interessiert sich Rong Guangrong für soziale Themen. The Cold Raising the Cold ist eigentlich sein erster Film, den er bereits 2015 gedreht hat, noch vor seinem Dokumentarfilm Children Are Not Afraid of Death, Children Are Afraid of Ghosts, der 2017 den NETPAC Award (Network for the Promotion of Asian Cinema) auf dem Filmfest Rotterdam gewann. Aber die Postproduktion verschob sich um fast vier Jahre, sodass The Cold Raising the Cold erst 2019 auf dem Locarno Filmfestival in der Sektion Concorso cineaste del presente gezeigt werden konnte.
 
Der Film ist von realen Ereignissen inspiriert und jagt einem Schauer über den Rücken. Er erzählt von der zufallsgesteuerten Mordserie eines Jugendlichen und dem Leben in einer namenlosen Stadt irgendwo im Nordosten Chinas. Einzigartig ist der visuelle Stil: Die heftig wackelnde Handkamera scheint rohen Impulsen zu folgen, wobei die Gewalt selbst rational und kontrolliert dargestellt wird. Sie bleibt immer dicht hinter dem Mörder und sein Rücken verdeckt den größten Teil des Geschehens. Wie eine weitere anwesende Person kommt sie näher, um dann das Bild auf ihrem kleinen Bildschirm sehr grobkörnig zu zeigen. Die visuelle Sprache verweigert bewusst, Gewalt als ein Produkt des Videokonsums zu betrachten.

Der Junge und das Mädchen, zufällige Gesichter in der Stadt. Figuren verbunden durch die Mordserie, von denen man denkt, ihnen schon einmal begegnet zu sein. Ein Jugendlicher ohne Ausweis, der in einem Hotel geboren wurde; die Frau, die nachts ihren Wagen durch die Straßen schiebt und kandierte Früchte verkauft; Frauen, die beim Mahjong-Spiel über Kinder und Geld diskutieren; der Metzger auf dem Markt; der Mann mit Zahnschmerzen im Wartebereich eines Krankenhauses; das Mädchen, das zum Handy mit der Hasenohrhülle greift; die Tochter der Kioskbesitzerin, die eine blinkende Hasenmaske trägt; und der Mann, der mitten auf der Straße Opfergeld verbrennt. Sie bilden einen roten Faden der Gewalt, der von einem Opfer zum nächsten führt, zugleich aber auch Chaos und Zufälligkeit der Gewalt zeigt.

Rong Guangrong versucht nicht, psychologische Erklärungen zu liefern, wichtiger ist ihm das soziale Porträt. Mag das Zusammentreffen dieser einzelnen Personen auch zufällig sein, die Gewalt ist es weniger. Die Welt vor der Linse von Rong Guangrongs Kamera ist kalt, von einer Kälte, die sich über lange Zeit angestaut hat. Sie steht im Kontrast zum Sound der fröhlichen Popsongs oder der Übertragung der Neujahrsgala im Fernsehen. Die beißende Kälte hier ist die Gleichgültigkeit der unteren, am Limit lebenden Gesellschaftsschicht. Für das bloße Auge unsichtbar erwächst sie aus Unverständnis füreinander und aus der Unfähigkeit zu kommunizieren. Es ist die Kälte einer Stadt von der Nacht bis zum Tag. Der Regisseur ist ganz das Gegenteil, herzlich, geradezu überschwänglich spricht er mit uns über seine Filme.
Filmplakat The Cold Raising the Cold | © Rong Guangrong yì magazìn: Betrachtet man deine ersten Film Children Are Not Afraid of Death, Children Are Afraid of Ghosts, bei dem die Kinder unter Gewalt leiden, bis zum Ausbruch der Gewalt jetzt in The Cold Raising the Cold scheint sich ein Kreis zu schließen ...
 
Rong Guangrong: Darüber habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Ich habe schon immer mein eigenes Ding gemacht, selbst die Schule habe ich abgebrochen. Erst als der Film fertig war und ich mit Freunden darüber gesprochen habe, ist mir aufgefallen, dass ich mich tatsächlich in einem Kreis bewege. Viele Dinge, die ich mache, drehen sich immer wieder um dieselben Themen: Gewalt, die eigene Wut, Selbstmord oder Mord. Die Jugendlichen im Film sind eine Art Spiegel meiner selbst, für mich sind sie auf ihre Art Rebellen. Was die Reihenfolge betrifft, so habe ich zuerst The Cold Raising the Cold gedreht, hatte dann aber viele Probleme, denn er ist schnell abgedreht. Dann aber habe ich den passenden Sound nicht hinbekommen und konnte viele technische Probleme nicht lösen. Ich kann selbst nicht mal schneiden, habe mir zwar vorher einiges überlegt, aber dann gemerkt, dass viel technisches Knowhow nötig war, den Film fertigzustellen. Finanziell ging nicht viel und darum habe ich die Fertigstellung immer wieder verschoben. Inzwischen habe ich dann Children Are Not Afraid of Death, Children Are Afraid of Ghosts gedreht. Der Grund, warum der schließlich eher fertig war, ist vielleicht, dass ich nicht mehr mit einem Team gearbeitet habe. Ich habe einfach eine Kamera in die Hand genommen und los ging's – wie ein Einzeltäter. Wahrscheinlich passt so eine Guerillataktik eh besser zu mir.

Einzigartig ist der visuelle Stil: Die heftig wackelnde Handkamera scheint rohen Impulsen zu folgen, wobei die Gewalt selbst rational und kontrolliert dargestellt wird.

Die Darstellung der Gewalt im Film ist einzigartig. Die Handkamera wackelt bedenklich und die Bilder sind meist aus Hüfthöhe aufgenommen. Die Gewalt findet mehr auf psychologischer – und Tonebene statt, als dass wir Blut zu sehen bekommen. Je näher die Kamera kommt, desto verschwommener sind die Bilder, meist sieht man nur grobkörnige Bilder.
 
Wir hatten nicht genug Geld für die Postproduktion. Ich habe mich deshalb um Projektförderung beim Golden Horse Festival beworben und wurde in ihre Work-In-Progress-Projektförderung aufgenommen. Ich bin dahin gegangen (lacht) und habe viele Produzenten getroffen. Die aus China fanden den Film gut, aber sind nicht eingestiegen. Ausländische Produzenten fanden den Film auch gut, trotzdem habe ich kein Geld auftreiben können. Eine Filmproduktion aus Taiwan fand das Projekt interessant und wollte daraus einen Genrefilm à la perverser Serienkiller machen. Das war zu viel für mich und ich sagte ihnen, dass der Killer nicht pervers sei. Im Gegensatz zu mir. Aber ich würde diesen Film nicht ändern.
The Cold Raising the Cold The Cold Raising the Cold | © Rong Guangrong Mir reicht diese Ignoranz, wie sie die meisten an den Tag legen. Vielleicht sind meine Ideen primitiv und lokal, aber sie haben hier ihre Wurzeln. Ich habe das Gefühl, dass sich in meinem Körper ganz schön viel angestaut hat, aber da geht es mir wie vielen anderen. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Ob man ein Ereignis klar sieht oder nicht, darüber habe ich nachgedacht, und darüber, was Bilder eigentlich zeigen und was in Wirklichkeit zu sehen ist. Oft lasse ich Situationen und Reflexionen aus meiner Umgebung in den Film einfließen, denn was ich auf der Leinwand oder in den Medien sehe, reicht nie an die Realität heran. Die Wirklichkeit steht immer an erster Stelle.
 
The Cold Raising the Cold hat was vom Schmetterlingseffekt, mit sehr subtilen Beziehungen zwischen den Figuren.
 
Ja, traditionell sind wir gewohnt in Kapiteln zu lesen, wie bei den 108 Generälen der Räuber vom Liangshan-Moor. Da geht es von einem zum nächsten, Abschnitt für Abschnitt, eine Geschichte bedingt die nächste und sie werden aneinander gereiht.
 
Die Blicke zwischen dem Jungen und dem Mädchen sind in unterschiedlichen Raum-Zeiten aufgenommen, der Junge am Tag, das Mädchen in der Nacht, beide lächeln in die Kamera, einer will nach vorn, die andere zurück, wie zwei Menschen, die unfähig sind, direkt miteinander zu kommunizieren.

Dieser Junge lebt noch. Er war im Gefängnis und ist jetzt frei. Ich stelle mir vor, er könnte bei so einem Mord dabei gewesen sein, was ihn verändert hat. Er ist vielleicht nicht mehr ganz so gleichgültig, hat vielleicht einen anderen Weg gefunden. Der Druck, der auf dem Mädchen lastet, ist für mich wie die Nacht. Sie nimmt das Leben, wie es kommt. Die Medien sagen, dass die Morde ihretwegen passieren. Und alle, besonders die Leute, die ihr nahe stehen, glauben diese einseitige Interpretation. Das Mädchen habe ich so natürlich nicht gefunden, weil man hier gegenüber Fremden sehr reserviert ist. Also habe ich sie mir nachts vorgestellt, außer wenn sie sich selbst durch Shoppen betäubt.

Und diese zwei Seiten in mir, der innere Konflikt, treibt mich voran und gibt mir Kraft.

Ich gebe zu, ich bin ein Feigling. Ich stehe dazu. Früher dachte ich, ich sei wagemutig, roh und wild. Aber wenn es dann mal zu Konflikten kam, merkte ich, dass ich Angst hatte. Als ich The Cold Raising the Cold drehte, habe ich diese Erfahrung immer wieder gemacht. Deshalb stelle ich meinen Filmen immer einen Satz voran: "Diese Geschichte ist rein fiktiv, jegliche Ähnlichkeiten sind real." Das ist eine Art Selbstschutz, ich will dieses Land nicht verlassen, ich identifiziere mich damit, ich will keine andere Staatsbürgerschaft. Ich will hierbleiben, die Dinge beobachten und dokumentieren. Mir fehlt vielleicht eine internationale Perspektive, um die Dinge ganz klar einzuordnen. Aber ich kann die Menschen hier lehren zu verstehen und das genügt mir.
The Cold Raising the Cold The Cold Raising the Cold | © Rong Guangrong Wie kriegst du den Spagat hin zwischen dieser Furcht und dem Mut, die Filme zu drehen, die du machen willst?
 
Das ist für mich eine Art Konfrontationstherapie. Ich mag die Herausforderung, mag es mich zu zwingen. Wovor ich wirklich Angst habe, sind Kröten. In Children Are Not Afraid of Death, Children Are Afraid of Ghosts gibt es die Szene mit den Kröten, das war echt widerlich, ich konnte sie nicht von noch näher aufnehmen. In meinem tiefsten Innern bin ich ein Angsthase, verhaltenstechnisch, nach außen hin lehne ich natürlich entschieden ab, ängstlich oder gleichgültig zu sein. Und diese zwei Seiten in mir, der innere Konflikt, treibt mich voran und gibt mir Kraft. Wenn mich in den Nachrichten irgendwas anpiekst, dann muss ich da hingehen, wo es passiert und das dokumentieren. Wie ein Buchhalter muss ich alles filmen, um nicht zu vergessen. Auch jetzt, wo ich schon einiges gesehen habe, kann ich mich nicht abwenden. Ich will nicht blind oder gleichgültig diesen Dingen gegenüber werden.
 
Für dich ist Film Kunst und keine Ware, aber es ist eine kostenintensive Kunst. Wie schaffst du es, nicht von der Filmindustrie vereinnahmt zu werden?
 
Freunde sagen, dass ich mich so langsam auf Filmfestivals etabliere und meine Filme immer reifer werden – dadurch bekomme ich mehr Anerkennung. Ich solle mich ein bisschen zurücknehmen und nicht so radikal sein. Ich solle mich erst mal um meine Kinder und ihre Ausbildung kümmern. Ich sage ihnen, ich ändere mich nicht und wenn doch, dann sollen sie mir Bescheid sagen, von wegen damals hast du groß rumgetönt und das war alles bloß gelogen. Ich denke, das ist echt nicht einfach. Ein Freund hat mir gesagt, er wolle jetzt fürs Fernsehen arbeiten und dann wieder einen Film machen. Er ist der Meinung, die unabhängigen Filmemacher und Dokumentarfilmer wollen doch nur an Filmfestivals teilnehmen und Preise gewinnen, um sich einen Namen zu machen. Das macht sich gut im Lebenslauf. Und dann ist man für den kommerziellen Markt viel interessanter. Ich entgegnete, dass ich immer die Dok'filmer unterstützen würde, die Preise gewinnen, um Geld zu verdienen, aber niemals Leute, die Fernsehserien drehen. Später dachte ich mir, diese Entschiedenheit ist vielleicht nicht immer angebracht. Die Menschen wollen irgendwie überleben und das ist auch gut so, es ist doch eine Prämisse der Freiheit.
 
Es ist egal, was ich mache, ob ich Clips für Douyin, Werbung oder Live-Formate mache – das geht alles, aber wenn dein Name nicht mehr in irgendwelchen unabhängigen Artikeln auftaucht, dann sind deine Filme, deine Haltung, dein ganzes Ich rausgeschnitten, sind weg. Und das ist keine Frage des Kontextes. Es ist, als höre man auf sich auszudrücken, weil man Angst hat, damit seinen Profit zu gefährden. Und das ist doch die effektivste Form der Kontrolle. Wenn du einmal Nutznießer warst, dann wirst du diese Position nicht mehr gefährden wollen. Und das finde ich bedenklich. Ich bin ein Handwerker und ich benutze dieses Handwerk, um damit Geld zu verdienen. Aber ich bin auch Überlebenskünstler. Als solcher will ich Haltung zeigen und unabhängig denken. Und wenn ich diese zwei Seiten bewahre, wenn ich Fähigkeit und Integrität verbinden kann, muss ich mich, egal was ich tue, nicht schämen.
The Cold Raising the Cold The Cold Raising the Cold | © Rong Guangrong Ich denke oft an die Zukunft, daran, wer noch Filme machen wird und wer mehr dreht: Was ist wichtiger, dass deine Filme gezeigt werden oder deine Einstellung? Es ist wie bei einer Wette unter Kindern, mal sehen, wer sich behaupten kann. Es kann wohl nur eine Balance zwischen beiden geben. Früher dachte ich, nur die eigene Haltung ist wichtig, jetzt denke ich, es ist vielleicht doch die Präsenz, das Gesehenwerden. Viele Dinge spielen da eine Rolle, wie an Festivals teilnehmen, weil du dann Aufmerksamkeit bekommst und mehr Leute deine Filme sehen. Wie du siehst, bin ich inzwischen ein schlauer Fuchs geworden und um gesehen zu werden, ist es das wert.

Die Fragen stellte Chen Yun-hua.
 

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