„Dichter-Sudoku“  Warum man Tang-Lyrik (nicht) übersetzen sollte

Sudoku
Sudoku © John Morgan via unsplash.com

„Unmöglich“, sagte ich. „Das funktioniert nicht.“ Ich saß in meinem Lieblingsrestaurant an der alten Stadtmauer, eine Lotuswurzel zwischen den Stäbchen, mir gegenüber ein bekannter deutscher Autor, der auf seiner Lesereise in Xi'an Halt gemacht hatte. „Warum übersetzt du deine Gedichte nicht auf Deutsch?“, hatte er gerade gefragt.

Oft ernte ich seltsame Blicke, wenn ich erzähle, dass mein Hobby Gedichte schreiben auf Chinesisch ist; genauer gesagt Tang-Gedichte. „Die große Tang“ (618–907), das war die Blütezeit der chinesischen Dichterinnen und Denker; sie brachte unsterbliche Größen wie Li Bai und Du Fu hervor, deren Werke bis heute als höchste Vollendung der Dichtkunst gelten. Für die Menschen der Tang-Zeit war Dichten ein Gesellschaftsspiel; man traf sich, trank Tee (oder Hochprozentiges) und dichtete, ähnlich wie man heute Sudoku-Rätsel löst. Tatsächlich ist dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt, denn bei Tang-Gedichten steht vor Allem eines im Vordergrund: Die Einhaltung der Form.

Eine typische Strophe besteht aus vier Fünf- oder Sieben-Zeichen-Versen, die streng parallel gebaut sind: Bilden etwa die ersten beiden Schriftzeichen ein Nomen, muss in den folgenden Verszeilen ebenfalls ein Nomen auf diesen Positionen stehen. Nach dem zweiten Zeichen (bei einem Sieben-Zeichen-Vers nach dem vierten) folgt eine Zäsur; das bedeutet, ein zusammengesetztes Wort kann entweder Position 1 und 2 belegen oder 3 und 4, nicht jedoch Position 2 und 3! Im Idealfall markiert die Zäsur auch inhaltlich einen Sinnabschnitt. Und dann die Melodik! Die fünf chinesischen Töne kann man in „ping“ (flache) und „ze“ (geneigte) Töne einteilen. Besonders melodisch klingt ein Gedicht, wenn die Tonfolge invers parallel ist: Steht im ersten Vers zum Beispiel „ping – ping – ze – ping – ping“, dann kommt im folgenden Vers „ze – ze – ping – ze – ze“. Die geradzahligen Verse müssen sich außerdem reimen. Wenn man das alles beachten will, muss man ganz schön knobeln.
Große Wildgans-Pagode aus der Tang-Dynastie in Xi'an Große Wildgans-Pagode aus der Tang-Dynastie in Xi'an | © Harrison Qi via unsplash.com Kann man so überhaupt noch kreativ sein, fragt man sich da. Für mich sind es aber gerade die Einschränkungen, die die Kreativität herausfordern, denn man ist gezwungen, das Wesentliche eines Gedankens ohne unnötige Schnörkel für die Leserin greifbar zu machen. Als Chinesischlernerin finde ich das spannend, denn umschreiben geht nicht; ich muss immer wieder nach besser passenden Zeichen suchen. Das mag auch der Grund sein, weshalb Gedichte schreiben in der Tang-Dynastie sogar Teil der Beamtenprüfung war – nicht damit die Kandidaten ihr künstlerisches Talent unter Beweis stellten, sondern ihre Sprachkompetenz. Denn nur mit einem umfangreichen Wortschatz schafft man es, für jede Position ein Schriftzeichen zu finden, das inhaltlich ebenso wie formal passt.

Du Fu (712–770) beherrschte dies zur Perfektion. Der Sohn einer gut situierten Familie schrieb die ersten seiner über 1400 Gedichte bereits im Alter von sieben Jahren. Zu dieser Zeit begann die Tang-Dynastie zu bröckeln und Du Fu war zunehmend erbost über Machthaber, die im Luxus lebten, während in weiten Teilen der Bevölkerung Armut herrschte. Die Hauptfiguren seiner Werke sind stets „die einfachen Leute“ und viele seiner Gedichte prangern Korruption und andere „dunkle Seiten“ der Gesellschaft an. Er gilt als Vertreter des Realismus.

Es ist die Reduzierung, durch die die künstlerische Freiheit Flügel bekommt

Auch Li Bai (701–762) erlebte die Unruhen dieser Epoche und wie Du Fu wuchs auch er in privilegiertem Hause auf. Doch aus Angst, seine Herkunft preiszugeben, schwieg er sich tunlichst darüber aus. Zeitweise wurde er ins Exil nach Guizhou verbannt, im Alter zog er sich nach Anhui zurück, wo er kurz darauf starb. Man erzählt sich, dass er unter Alkoholeinfluss beim Versuch ertrunken sei, den sich im Fluss spiegelnden Mond zu greifen. Zhu Qiude schreibt über Li Bai: „Er war ein Mann, der in Fesseln tanzte, die für die Welt unsichtbar waren und die nur er kannte.“ Vielleicht waren es die vielen tragischen Elemente seines Lebens, die seine Gedichte so gefühlvoll machten – im Gegensatz zu Du Fu ist Li Bai ein Romantiker, der oft Naturmotive, Metaphern und Personifikationen einsetzt, wie ein Maler, der vor dem geistigen Auge seiner Leser ein kunstvolles Gemälde entstehen lässt.

Für mich sind Tang-Gedichte wie Tuschemalerei, die die Essenz von Objekten durch wenige Striche sichtbar macht; es ist die Reduzierung, durch die die künstlerische Freiheit Flügel bekommt. Eben deshalb begegnete ich dem Vorschlag meines Gesprächspartners mit Skepsis: Denn ich zweifelte, dass sich chinesische Gedichte mit all ihren Facetten in eine westliche Sprache übertragen lassen. „Du solltest es aber versuchen“, insistierte mein Gegenüber. „Du kannst beide Sprachen, es wäre schade, wenn du das nicht nutzt!“ Eine Übersetzung ist wie eine Brücke aus Buchstaben und Schriftzeichen, auf der sich zwei Kulturen begegnen; eine schöne Vorstellung. So setzte ich mich also doch hin, grübelte, fluchte, schrieb und löschte; bis ich erkannte, dass ich mich im Loslassen üben musste, um den Kern der chinesischen Texte einzufangen. Also schmiss ich alles, was ich hatte imitieren wollen, über Bord und spielte stattdessen mit Wortkontrasten und –neuschöpfungen, um das für mich Wesentliche zu erfassen: das Gefühl.

Ob die großen Tang-Dichter dies gut geheißen hätten, ist fraglich. Denn anders als in westlicher Poesie ist bei Tang-Gedichten die Form oft sogar wichtiger als der Inhalt. Doch eine gute Übersetzung besteht nicht im bloßen Imitieren von Strukturen, die in der Zielsprache nicht funktionieren, sondern sie markiert einen Treffpunkt zweier Ausdrucksformen. Von beiden Seiten gestützt; darin liegt das Wesen einer stabilen Brücke. Da hätten vielleicht sogar Li Bai und Du Fu genickt.
 

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