Dongbei-Literatur  Das Proletariat im Kopf

Blick aus dem Fenster in Nordchina
Nordchina © Yuan Wang via unsplash.com
Ab den 1980er Jahren hatte die staatliche Industrie im Nordosten Chinas mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen. Der Mangel an Ressourcen und das veraltete System der Kollektivwirtschaft machten den alten Industriestandorten zu schaffen. Die Protagonisten des vorliegenden Buches – zwei Ärzte, die in den 1970ern geboren und in Arbeiterfamilien aufgewachsen sind – werden mit den Veränderungen ihres Umfelds konfrontiert. Sie erleben den Niedergang der Staatsbetriebe und damit einhergehend einen drastischen Wandel der Gesellschaft, in dem die herkömmlichen zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen auseinanderfallen. Mithilfe ihres Wissens und ihrer Fachkenntnisse schaffen beide den Aufstieg in die Mittelschicht.

Das Sachbuch Dr. Zhang und Dr. Wang verdankt seine Entstehung dem Medienjournalisten Yi Xianfeng, der sich eingehend mit den Umwälzungen der chinesischen Gesellschaft im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte beschäftigt hat. Sein Anliegen war es, anhand von Lebensgeschichten aus dieser Generation die Zusammenhänge zwischen Einzelschicksalen und der Gesellschaft zu beleuchten.

Als Yi Xianfeng anlässlich einer Klassenzusammenkunft die Ärzte Zhang und Wang traf, war der Grundstein gelegt. Die Begegnung mit den ehemaligen Klassenkameraden aus der Mittelschule stimmte ihn zuversichtlich, die für das Buch notwendigen Interviews führen zu können. Im Folgenden stieß sein Buchprojekt auch bei der Journalistin Yang Ying auf reges Interesse.

Yi Xianfeng kam zum Schluss, dass zwischen Engländern und Nordostchinesen die gemeinsame Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse eine weitaus größere Rolle spielt als die unterschiedliche Herkunft.

Im Buch kommen auch die familiären Hintergründe der beiden Protagonisten zur Sprache, was die vielfältigen nordostchinesischen Bräuche aus der Zeit ihrer Großeltern ebenso mit einbezieht wie den Werdegang ihrer Eltern im Laufe der 1980er und 1990er Jahre. Verbunden mit Zeitungberichten aus jener Zeit wird die Gesellschaft sowohl aus subjektiver wie aus objektiver Sicht beleuchtet. Darüber hinaus wurden zahlreiche sozialwissenschaftlichen Studien zu diesem Zeitabschnitt konsultiert, um dessen Auswirkungen eingehend zu analysieren.

Während Yang Ying für die Interviews mit den beiden Protagonisten zuständig war, führte Yi Xianfeng vor allem die Befragung deren Familien durch, machte Recherchen und sammelte Materialien. Auf diese Weise versuchten beide Autoren, aus den komplexen Ereignissen jener Zeit ein umfassendes und einfühlsames Urteil über die damalige Gesellschaft von Shenyang herauszuarbeiten.

Wunschberuf: Fahrer am Gerichtshof

Wenn von den großen Staatsbetrieben Nordostchinas der 1980er und 1990er Jahre die Rede ist, denken wir gewöhnlich in erster Linie an lärmige Fabrikhallen und mustergültige soziale Einrichtungen – etwa die reihenweise angelegten, ziemlich konformen Arbeiterwohnheime, die oft als Produkt der ehemaligen Sowjetunion angesehen werden. Autor Yi Xianfeng ist allerdings der Meinung, dass das Modell der Danwei (Arbeitseinheit) überall in der Welt dienlich sein kann, denn wo auch immer Menschen mit vereinten Kräften etwas Großes zu erreichen gedenken, wird eine solche Lösung Verwendung finden.

Sobald in einem bestimmten Gebiet Wohnsiedlungen, Sozialeinrichtungen, Kindergärten, Badehäuser, Märkte und andere Einrichtungen für die Arbeiter bereitgestellt werden, entwickelt sich ganz von selbst ein belebtes Wohngebiet. Prototypen solcher Danweis bestanden in China schon in den 1920er Jahren in Form der Waffenarsenale unter Warlord Zhang Zuolin. Die Danwei ist also durchaus nicht als Produkt einer bestimmten Ideologie anzusehen, sondern vielmehr als eine Form der Problemlösung, wenn es darum geht, in kurzer Zeit möglichst viele Ressourcen in Bewegung zu setzen, um ein Unterfangen zu bewältigen, das nur mit einem kollektiven Arbeitseinsatz vollendet werden kann. Yi Xianfeng konsultierte unter anderem auch viele sozialwissenschaftlichen Studien aus England und kam zum Schluss, dass „zwischen Engländern und Nordostchinesen die gemeinsame Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse eine weitaus größere Rolle spielt als die unterschiedliche Herkunft”.
Straßenszene irgendwo in Liaoning Straßenszene irgendwo in Liaoning | © Joshua Sun via unsplash.com Aus der nordostchinesischen Danwei-Gesellschaft der 1980/90er Jahre entstand schließlich die typische „Beziehungsgesellschaft“, aufgrund derer Shenyang und die nordostchinesische Kultur oft bemäkelt werden. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alles nur mithilfe von Beziehungen zu bewerkstelligen ist. Sobald jeder über Mittelspersonen günstige Beziehungen zu nutzen versucht, wird aus einer anonymen Gesellschaft sehr schnell eine Beziehungsgesellschaft. Wer sich darin nicht bemüht gute Beziehungen zu pflegen, wird leicht kaltgestellt oder zumindest die ihm zustehenden Dienstleistungen nicht erhalten. Bis anhin (und teilweise bis heute) wurde dies als Merkmal der lokalen kulturellen Gegebenheiten betrachtet, was in Wirklichkeit weit weniger zutrifft als gemeinhin angenommen. Es lässt sich nicht einmal als Merkmal der Arbeiterklasse bezeichnen. Viel eher geht die Wichtigkeit gesellschaftlicher Beziehungen auf das System der Danweis zurück, ist also ein typisches Merkmal der ehemaligen Danwei-Gesellschaft.

Im Shenyang der 1980er Jahre stellten die Danweis strategisch wichtige Bezugsorte dar und die Arbeiterklasse bildete den weitaus größten Teil der Gesellschaft. In einem solchen Umfeld, das von der Knappheit menschlicher Ressourcen geprägt ist, waren nur diejenigen willkommen, die sich darauf verstanden, die bestehenden Ressourcen bestmöglich zu nutzen, und nur sie waren in der Lage, in dieser Gesellschaft zu bestehen. Da alle Güter der Danwei gehörten, war sie es auch, die über alle Ressourcen verfügte, weshalb gute Beziehungen mit der Danwei weit mehr zählten als alles, was ein Einzelner erhalten konnte. Der beste denkbare Beruf in einer solchen Beziehungsgesellschaft war derjenige als Fahrer am Gerichtshof – wie es auch anhand einer Figur im Buch deutlich wird. Einen solchen Posten innezuhaben bedeutete, über eine Menge politischer Mittel zu verfügen. Damit erwarb man sich nicht nur gesellschaftliche Anerkennung, sondern trug sich auch leicht persönliche Vorteile ein.

Dazu kam, dass die sich großflächige Reform der Staatsbetriebe nicht nur auf den Beruf und die Stellung innerhalb der Gesellschaft auswirkte, sondern auch in die kleine soziale Einheit der Familien Einzug hielt.

Als Ticketverkäuferin im Kino konnte etwa Dr. Wangs Mutter einst auf das Schicksal ihres Sohnes Einfluss nehmen, indem sie dessen Ausbildungswunsch, den er bei der Hochschulprüfung anzugeben hatte, mittels Beziehungen abändern ließ – in ein siebenjähriges Studium der Medizin mit Masterabschluss. Als jedoch die beiden Ärzte das mittlere Alter erreichten, erfuhren die nordostchinesischen Städte einen großen Wandel, da das Danwei-System Ende 1990er zur Umgestaltung freigegeben wurde. Die Gepflogenheiten der bestehenden Beziehungsgesellschaft lebten jedoch weiter fort, und die tief verwurzelten herkömmlichen Vorstellungen von der Gesellschaft machten Menschen im Alter der beiden Protagonisten immer wieder zu schaffen.

Dazu kam, dass die sich großflächige Reform der Staatsbetriebe nicht nur auf den Beruf und die Stellung innerhalb der Gesellschaft auswirkte, sondern auch in die kleine soziale Einheit der Familien Einzug hielt. So büßten denn im Falle beider Protagonisten deren Väter, die in Staatsbetrieben gearbeitet hatten, auch ihre Autorität innerhalb der Familie ein. Die Mütter hingegen erwiesen sich als äußerst durchhaltefähig, wussten die Führung zu übernehmen und wichtige Entscheide zu fällen. Mit den Reportagen über die beiden Familien zeichnet das Buch auch die unterschiedlichen Reaktionen auf die schwierige Situation im Laufe der Umstrukturierung der Staatsbetriebe auf. Es gab Menschen, die in tiefe Schwierigkeiten stürzten und keinen Ausweg fanden, große Risiken eingingen oder auf Abwege gerieten. Ausführlich stellt das Buch die Schicksale eines ehemaligen Sängers  einer Künstlertruppe vor, der mit reichlich Kühnheit und Scharfsinn zu einem erfolgreichen Geschäftsmann wurde, sowie einer Frau, die sich entschied, fernab zu reisen und sich in einem fremden Land niederzulassen.

Unbefleckt vom Staub der Welt

Die beiden in den 1970er Jahren geborenen Protagonisten des Buches, beides aus Arbeiterfamilien stammende Stipendiaten, schafften dank hervorragender schulischer Leistung und einer soliden Berufsbahn den Sprung in die Mittelklasse. Für Leute aus der Arbeiterschicht war der Arztberuf die perfekte Wahl, denn er versprach einen hohen sozialen Status, soziale Anerkennung, ein gutes Einkommen wie auch einen sicheren Arbeitsplatz. Außerdem bestehen zwischen dem Arztberuf und der Arbeiterschicht auch manche Gemeinsamkeiten, denn anders als in Eliteberufen wie etwa dem eines Anwalts, muss ein Arzt nicht mit allerlei sozialen Schichten umgehen können und auch nicht besonders eloquent sein. Ein Chirurg muss außerdem auch handwerklich begabt sein, was von einem Bücherwurm gewöhnlich nicht zu erwarten ist. Dazu zieht der Autor eine Anekdote heran, die er als Kind gehört hat: Als eine Kiste mit Werkzeugen in der Fabrik eintrifft, packen die Arbeiter sie unverzüglich aus und lernen in der Praxis mit den Werkzeugen umzugehen. Der Ingenieur hingegen konsultiert erst das Handbuch, um herauszufinden, wie die Werkzeuge funktionieren, doch am Ende kriegt er nicht einmal die Kiste auf.
Szene aus der Schwerindustrie Schwerindustrie | © Ant Rozetsky via unsplash.com Während das Buch die gesellschaftlichen Hintergründe der 1980er und 1990er Jahre aufzeichnet, wirft es gleichzeitig einen sachlichen Blick auf die Weltanschauungen und geistigen Ziele der beiden Protagonisten und versucht ausfindig zu machen, was sie an den zerfallenen gesellschaftlichen Werten und Anschauungen weiterführen und was sie verwerfen. Das Anliegen der Autoren ist es, den Werdegang der Protagonisten aufzuschlüsseln, um zu analysieren, wie sich ihre Kenntnisse, ihr Würdebewusstsein und ihr Selbstgefühl herausbildet haben.

Eine Einstellung, die beide Ärzte teilen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, nämlich die Ablehnung der Beziehungsgesellschaft. Zwar konnte Dr. Wang auf seinem Weg zum Studium und zur Berufskarriere durchaus von ebendieser Gesellschaftsform profitieren, doch will er diesbezüglich nicht von „Beziehungen“ sprechen, sondern nur von seinem „edlen Gönner“. Allerdings ist er nach wie vor überzeugt, in der Gesellschaft fehl am Platz zu sein und eine unangenehme Rolle zu spielen. Darauf gründet sich auch sein Identitätsbewusstsein.

Gestützt auf ihre fachlichen Kenntnisse sind beide Protagonisten dazu geneigt, die Gesellschaft zu hinterfragen. Obschon sie eine wachsame Distanz zur Gesellschaft einhalten, setzen sie ihre persönliche Würde unbewusst mit der Anerkennung durch ihr soziales Umfeld gleich. So sind sie „weder in der Lage, ihrem wahren Inneren treu zu bleiben und sich von der Gesellschaft zu distanzieren, noch verstehen sie sich auf die Finessen gesellschaftlicher Winkelzüge.“ (Li Haipeng, im Vorwort). Einen Gegenpol dazu bildet Dr. Wangs idealistische Vorstellung vom „Süden“, der für ihn nicht nur für Wärme, sondern auch für einen realitätsbezogenen Lebensstil steht sowie für die Achtung der Professionalität.

„Echte” Männer

Auch die Vorstellungen der beiden Protagonisten von den Geschlechterrollen kommen im Buch zur Sprache. So weisen beide Protagonisten ein recht begrenztes, ja geradezu ignorantes Verständnis für Frauen auf, und dies obschon Dr. Wang bereits Vater ist. Die für sie maßgebenden Rolle ihrer Mütter entbehrt in ihrer Vorstellung sozusagen die Geschlechtlichkeit. Demgegenüber steht die positive Vorstellung vom „starken Mann“, wie sie im Nordosten Chinas, anders als im Kontext anderer Regionen, sehr verbreitet ist.

Bücherwurm = viellesend = arbeitsscheu = weichlich = ungeschickt = verantwortungslos = Loser

Die Wertvorstellung der männlichen Rolle wird im Buch mit einer Gleichung verdeutlicht, die Dr. Zhangs Bruder, ein Elektriker, vornimmt: „Bücherwurm = viellesend = arbeitsscheu = weichlich = ungeschickt = verantwortungslos = Loser“. Dieser Gedankengang wurde in den Medien (Interface Culture) auf die beiden Protagonisten übertragen: „Shenyanger = Arbeiterschicht = Männlichkeit = Geisteswissenschaftsgegner“. Die Ablehnung der Geisteswissenschaften ist für Dr. Zhang und Dr. Wang tatsächlich eine Weltanschauungsfrage, und diese ist in der Arbeiterklasse stark verbreitet. Was für sie zählt, ist allein die Industrie, und in Bezug auf China ist nur eine Frage maßgebend: die erfolgreiche Produktion von Computerchips. Demgegenüber sind in ihren Augen Humanwissenschaften völlig nutzlos. Davon hebt sich auch die Meinung von Dr. Wangs Ehefrau, die in Geisteswissenschaften ausgebildet ist, nicht ab, denn für sie gilt die Gleichung: Geisteswissenschaften = Lehrerberuf.  Solche Verfechter der Industrie sind weder auf eine bestimmte Region zurückzuführen noch auf ein spezifisches Denken der Arbeiterklasse; vielmehr zeigt es symptomatisch einen allgemeinen Mangel an humanistischer Gesinnung an.
Deckblatt vom Buch Dr. Zhang und Dr. Wang Dr. Zhang und Dr. Wang | © hupobook Das Buch Dr. Zhang und Dr. Wang ist keine soziologische Studie im herkömmlichen Sinn, denn die Soziologie legt den Fokus nicht auf das Individuum. Die Autoren betrachten ihr Werk als ein themenorientiertes Sachbuch und kennzeichnen es folgendermaßen: „Es wurzelt in Fragestellungen, die in unseren Köpfen latent vorhanden sind, auch in solchen, von denen wir noch gar nicht wissen, wie sie zusammenhängen.“ Insgesamt weist das Buch wenig Aktion auf; es kommen auch keine dramaturgischen Szenen vor. Das entscheidende Moment ist also nicht eine große Veränderung, die durch irgendeine unterwartete Begegnung herbeigeführt würde. Vielmehr präsentieren die beiden Autoren mithilfe ihrer Interviews mit beiden Familien, verbunden mit zeitgenössischen Medienberichten und soziologischen Textanalysen ein reichhaltiges, sich dynamisch wandelndes Bild, in dem sich die historische Dimensionen mit den Tiefen des Innenlebens verbinden.

Darüber hinaus werden die Protagonisten in langfristig geführten Folgeinterviews unter die Lupe genommen und einer systematischen, eingehenden Beobachtung unterzogen. Damit verdeutlichen sich die vielschichtigen und komplexen Einflüsse des Zeitgeistes auf das Schicksal des Einzelnen und seine Gedankenwelt. Obschon beide Protagonisten sich bereits als der Mittelschicht zugehörig sehen, ist ihr Denken nach wie vor stark vom Geist der Arbeiterschicht geprägt. Und dies ist auch der Grund, weshalb sie sich in der Gesellschaft fehl am Platz fühlen.

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