Plantae Sinarum #1  Der Lotus

Botanische Zeichnung eines Lotus
Der Lotus © yì magazìn

Wer an Asien und Blumen denkt, dem erscheint vor dem geistigen Auge wahrscheinlich schnell das Bild einer anmutigen Lotusblüte, die mit zartrosa Petalen leicht geneigt auf einem blassgrünen Stängel thront. Oft begegnet man dem Lotus in chinesischen Tempeln auf Bildern, Reliefs oder als Wachskerze, die wie eine Lotusblüte geformt ist. Viele Touristen assoziieren ihn deshalb mit dem Buddha; doch tatsächlich war er bereits ein wichtiges Symbol in der chinesischen Kunst und Kultur, lange bevor das buddhistische Dharma von Indien nach China kam.

Der Lotus als Symbol für Ehe und Familie

Lotusdarstellungen kennt man bereits aus der Qin-Dynastie (221–206 vor unserer Zeit), in der China zum ersten Mal einen Kaiser krönte und zum Großreich wurde. Zu dieser Zeit wurde der Lotus als Fruchtbarkeitssymbol verehrt, da man in der Blüte eine gewisse Ähnlichkeit zu den weiblichen Genitalien zu erkennen glaubte. Ein Fisch stellt den männlichen Gegenpart dar und so werden Bilder mit Lotus und Fisch zur Metapher für die Beziehung zwischen Mann und Frau. Sehr aufschlussreich ist dabei die Position des Fisches: Befindet er sich an der Wasseroberfläche oder sitzt er gar auf dem Lotusblatt, so sehen wir eine aufkeimende Liebesbeziehung; schwimmt er jedoch unter das Blatt, um den Stängel anzuknabbern, wird es ernst – dieser Fisch ist verheiratet und gerade dabei, die Ehe zu vollziehen.

Diese Assoziation des Lotus mit (Liebes-) Beziehungen ist nicht nur in seinem Aussehen, sondern auch in seinem chinesischen Namen héhuā 荷花 bzw. liánhuā 莲花 begründet: Denn hé 荷 wird genauso ausgesprochen wie hé 合, was „Verbindung“ bedeutet, ebenso wie lián 连, das wiederum phonetisch identisch mit dem lián 莲 der Lotusblüte ist. Zudem hat hé eine weitere Lesart mit der Bedeutung „Frieden“, und lián 莲 erinnert an liàn 恋 (dt. „sich hingezogen fühlen, sehnen“) lesen, was der Verbindung eine schöne Basis verleiht und so das Symbol einer glücklichen Ehe perfekt macht. Alternativ zum lüsternen Fisch sieht man den Lotus auch in Kombination mit zwei Enten, die ein verheiratetes Paar darstellen und deren Beziehung (hoffentlich) von lián und hé in allen Variationen geprägt sein wird.

Natürlich bedeutet die Ehe oft auch Kinder und da der Lotus erstens eine auffällige Samenkapsel trägt und zweitens das chinesische Wort für Lotussamen (liánzi 莲子) mit anderen Schriftzeichen geschrieben ebenso gut 连子 (“Reihe von Nachkommen“) gelesen werden kann, überrascht die Assoziation mit Nachwuchs nicht. Allerdings verschob sich mit dem Aufkommen des Konfuzianismus der Fokus zunehmend von „Kinder“ auf „Söhne“. Dies wiederum führte mit der Zeit dazu, dass das phonetische Wortspiel mit lián 连 (siehe oben, dt. „Reihe, sukzessiv, stufenweise“) zunehmend in Richtung einer Karriereleiter interpretiert wurde, also als „schrittweiser“ Weg zu Ruhm und Reichtum. So wurde der Lotus schließlich auch zum Symbol für die Beamtenprüfung im alten China. Durch die Vielfalt an Bedeutungen und Lesarten chinesischer Schriftzeichen entstehen durch Kombination schier unbegrenzte metaphorische Möglichkeiten; so gibt es zum Beispiel auch das Motiv von Hase und Lotusblatt, was für ein friedvolles, langes Leben stehen soll.
 

Der Lotus als religiöses Symbol

Als in der späten Han-Dynastie (25–220) schließlich der Buddhismus von Indien nach China schwappte, brachte er eine weitere Interpretation des Lotus mit. Viele Buddhisten kennen die Geschichte vom Wanderer, der dem Buddha begegnet und sich keinen rechten Reim darauf machen kann, was für ein Wesen da nun vor ihm steht. Seine Frage, ob er ein Mensch sei, verneint der Buddha; aber ebenso wenig lässt er den Umkehrschluss des Wanderers zu, dass er eine deva (Gottheit) sei. Schließlich lernt der Wanderer, dass der Buddha zwar als ganz normaler Mensch in saṃsāra (Kreislauf der Wiedergeburten) geboren worden sei, doch ebenso wie der Lotus aus dem Schlamm hinauswächst und losgelöst und frei über der Wasseroberfläche steht, ist ein Buddha über saṃsāra hinausgewachsen und aus diesem Grund treffen Kategorien wie „Mensch“ oder „deva“ nicht mehr auf ihn zu. Der Lotus symbolisiert also den Buddha selbst, aber auch seine Lehre; die Eigenschaft der Lotuspflanze, Schlamm und Schmutz von sich abperlen zu lassen, ist ein Symbol der Reinheit und damit metaphorisch für das buddhistische Dharma, durch das der Mensch das mit saṃsāra verbundene Leid überwinden kann.

Der chinesische Buddhismus gehört zum Mahāyāna, dem „großen Vehikel“; im Gegensatz dazu steht das „kleine Vehikel“, das vor allem im südostasiatischen Theravāda praktiziert wird. Das Lotus-Sutra (liánhuájīng 莲华经), für das die Lotuspflanze namensgebend ist, ist eine der wichtigsten Schriften des chinesischen Buddhismus, da es die Grundidee des Mahāyāna darlegt: Statt lediglich die eigene Befreiung aus saṃsāra anzustreben (wie im „kleinen Vehikel“), soll der Bodhisattva-Pfad der Weg aller Buddhisten sein, bei dem man sich dem Wohl aller Lebewesen verschreibt. Die chinesische buddhistische Tiantai-Schule sieht das Lotus-Sutra deshalb als „ultimative“ Lehre des Buddha an und betrachtet die Doktrin des kleinen Vehikels als „Vorstufe“, die der Buddha in seiner Weisheit benutzt hat, um seine Schüler nicht gleich mit der Mammut-Aufgabe, die der Weg des Bodhisattva darstellt, zu verschrecken!
Botanische Zeichnung eines Lotus Der Lotus | © yì magazìn In der buddhistischen Kunst hat eine Lotusblüte üblicherweise acht Blütenblätter, die symbolisch für den „achtfachen Pfad“ praktizierender Buddhisten stehen. Die Farbe der Blüte gibt Aufschluss über die Identität der dargestellten Figuren: Ein zartrosa Lotus gehört zum historischen Buddha Śākyamuni, eine rote Lotusblüte hingegen zum Bodhisattva der Barmherzigkeit, Avalokiteśvara (chin. Guānyīn 观音). Der blaue Lotus wiederum symbolisiert Weisheit und Wissen, und wird deshalb mit Mañjuśrī (chin. Wénshū 文殊) in Verbindung gebracht, einem Bodhisattva, der mit seinem Flammenschwert den Fesseln der Unwissenheit und Verblendung entgegentritt. Ganz genau anschauen sollte man sich die Form der Blüte: Ist sie im Profil auf einem Stängel sitzend gezeichnet, gehört das Kunstwerk womöglich eher in den Daoismus, der den Lotus ebenfalls als eines von acht Kernsymbolen verwendet. Die einzige Frau in den Reihen der daoistischen „acht Untersterblichen“, Hé Xiāngū 何仙姑, trägt den Lotus als Attribut; sie wird deshalb nicht selten mit Guānyīn verwechselt.
 

Der Lotus als Politikum

Im chinesischen Altertum entstand während der Tang-Dynastie (618–907) eine an Tiantai- und Amida-Buddhismus angelehnte spirituelle Bewegung, die sich „Weißer Lotus“ nannte. Aus den zunächst lose verstreuten Gruppen, deren Ziel es war, in das „reine Land“ des Amida-Buddha wiedergeboren zu werden („reines Land“ wird der Einflussbereich genannt, der einen Buddha umgibt und in dem man das Dharma direkt vom Buddha empfangen kann), entwickelte sich in der Song-Dynastie (960–1279) eine organisierte Bewegung, deren Doktrin zunehmend messianitisch wurde: Man ersehnte die Wiedergeburt von Maitreya-Buddha auf Erden als „Erlöser“ und betete zur „großen Mutter“ (wúshēnglăomŭ 无生老母), die ihre Kinder zurück ins reine Land holen sollte, auf dass sie nie wieder leiden müssten. Die Bewegung erfreute sich großer Beliebtheit vor allem in den nicht-privilegierten Gesellschaftsschichten, die von den Herrschenden geplagt wurden. Da sich aus den Reihen der Sekte immer wieder Widerstand formierte, wurde sie schließlich verboten; doch der „Weiße Lotus“ ließ sich nicht entwurzeln, sondern hielt sich im Untergrund hartnäckig.

Er steht für die Sehnsucht der Menschen nach einem friedvollen, glücklichen Leben

So kam es in der letzten chinesischen Kaiserdynastie, der Qing-Dynastie, von 1796 bis 1804 schließlich zur „Weißer-Lotus-Rebellion“, bei der sich vor allem Bauern aus den Provinzen Hubei, Shaanxi und Sichuan gegen den Kaiser erhoben. Da sie zwar der gleichen Bewegung angehörten, aber die einzelnen Widerstandsgruppen unabhängig voneinander agierten, so dass ihre Bewegungen kaum vorhersehbar waren, hatten die kaiserlichen Truppen es schwer, die Oberhand zu gewinnen. Erst als man die Bevölkerung in einem System von lokalen Verteidigungsmilizen zu organisieren begann und teils auch für den Kampf ausbildete, gelang im Jahr 1804 schließlich die Niederschlagung der Rebellen.
 

Der Lotus in Medizin und Forschung

Bis heute ist die Lotuspflanze aber nicht nur ein kunstgeschichtliches und religiöses Symbol, sondern auch fester Bestandteil der chinesischen Küche und Kräutermedizin. Man schätzt, dass er bereits seit gut 3000 Jahren in China kultiviert wird. Eine beliebte und wohlschmeckende Süßspeise ist mit Klebreis gefüllte Lotuswurzel, die in Scheiben geschnitten und mit Osmanthusblüten-Sirup serviert wird. Die Samen wiederum sind eine von acht „Kostbarkeiten“ in der traditionellen La-Ba-Suppe („Acht-Kostbarkeiten-Suppe“). Allgemein gelten praktisch alle Teile des Lotus als gesundheitsfördernd. Zumindest die Früchte scheinen es tatsächlich in sich zu haben: Anfang der 1990er Jahre erregte ein amerikanisches Forscherteam um Jane Shen-Miller Aufsehen, als es ihm gelang, einen 1300 Jahre alten chinesischen Lotussamen zum Keimen zu bringen. In einer Folgestudie sammelten die Wissenschaftlerinnen weitere Lotus-Früchte am selben Fundort, einem ausgetrockneten See in Liaoning. Diese im Schnitt etwa 400 bis 500 Jahre alten Proben hatten trotz ihres hohen Alters und obwohl sie im Boden einer leichten radioaktiven Strahlung ausgesetzt gewesen waren immer noch eine Keimrate von 80 Prozent. Nun erhofft sich die internationale Forschung aus der Analyse des Lotus-Genoms Aufschluss darüber, welche Reparaturmechanismen es der Lotuspflanze erlauben, ihre Fertilität trotz widriger Umweltbedingungen über einen so enorm langen Zeitraum zu erhalten; die Ergebnisse könnten eines Tages interessant für die Altersforschung sein.

So zieht sich der Lotus durch nahezu alle Bereiche der chinesischen Kultur und Geschichte. Doch bei aller Mannigfaltigkeit an Assoziationen lässt sich ein Grundmotiv in seiner Symbolik erkennen: Er steht für die Sehnsucht der Menschen nach einem friedvollen, glücklichen Leben und einer Fähigkeit, um die der Mensch den Lotus inniglich beneidet: Nämlich die Widrigkeiten des Lebens, allen seelischen und sonstigen Unrat, der die menschliche Existenz umgibt, mit einem anmutigen Nicken einfach abzuschütteln und in reiner, unbeschmutzter Schönheit zu erstrahlen.

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