Holocaust  Letzte Zuflucht Shanghai

Jüdische Geflüchtete in Shanghai
Jüdische Geflüchtete in Shanghai Public Domain

Das Exil in Shanghai fand erst spät seinen Platz in der deutschen Erinnerungskultur.

Es waren zunächst die Betroffenen selbst, die die Geschichte ihres Überlebens in der Erinnerungskultur verankerten, unterstützt von einigen Wissenschaftler*innen, die diese Thematik als Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen behandelten.

2002 erschien Exil Shanghai 1938–1947. Jüdisches Leben in der Emigration, Ergebnis der gleichnamigen ersten Tagung in Deutschland zu diesem Thema. Mitherausgeberin war Sonja Mühlberger, die 1939 als Tochter deutscher Flüchtlinge in Shanghai geboren wurde und sich mit anderen ehemaligen „Shanghaiern“ ab den 1990er Jahren engagiert für die Aufarbeitung des Exils eingesetzt hatte. Als 2001 das Jüdische Museum Berlin eröffnet wurde, wurde auch das Exil Shanghai in der Dauerausstellung behandelt. Der Direktor des Jüdischen Museums, Michael W. Blumenthal, hatte dort ab 1938 mit seiner Familie Zuflucht gefunden. Die Errichtung eines chinesischen Forschungsinstituts und Eröffnung des Jüdischen Flüchtlingsmuseums auf dem Gelände der früheren Ohel-Rachel-Synagoge in Shanghai im Jahre 2012 trugen dazu bei, dieses Thema weltweit einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
 
Shanghai war die „letzte Zuflucht“, das „Exil der kleinen Leute“, nämlich derjenigen aus rassistischen oder politischen Gründen Verfolgten, die weder über Auslandskontakte noch über Finanzmittel oder über nachgefragte Berufe verfügten, die ihnen eine frühe Emigration ermöglicht hätten. Viele österreichische Juden konnten nach dem Anschluss im März 1938 so den Nazis entkommen. Und auch vielen deutschen Juden gelang es nach den Novemberpogromen 1938, sich für die Ausreise chinesische Visa zu beschaffen, vielfach die einzige Möglichkeit, aus dem Konzentrationslager entlassen zu werden.
 
Nachdem die Internationale Konferenz von Évian im Juli 1938, auf der die Aufnahme von Flüchtlingen hätte geregelt werden sollen, faktisch ergebnislos endete, war Shanghai für viele der einzige Ort weltweit, der ohne Quotierung noch Flüchtlinge aufnahm. Die Stadt war seit 1937 japanisches Besatzungsgebiet, doch es gab hier koloniale britische, französische und amerikanische Stadtgebiete, die der japanischen Herrschaft nicht unterstanden. Da nun die chinesische Nationalregierung im Innern Chinas weiterregierte, sie bis 1941 auch in Deutschland diplomatisch anerkannt war, stellten ihre Konsulate – auch zur Unterstreichung ihrer Herrschaftsansprüche – weiterhin Visa für ganz China aus, auch für Shanghai. Das war die Rettung für viele! Mehr als 20 000 jüdische Deutsche und Österreicher, nach 1939 auch Osteuropäer, konnten nach China entkommen, zuerst per Schiff, nach dem Angriff auf Polen bis 1941 mit der Transsibirischen Eisenbahn. Auch 50 Studenten einer litauischen Jeshiwa retteten sich mit Hilfe ausländischer Konsuln nach Shanghai.

Shanghai war für viele der einzige Ort weltweit, der ohne Quotierung noch Flüchtlinge aufnahm.


Hongkou, Shanghai Hongkou, Shanghai | Public Domain Die meisten Flüchtlinge sahen Shanghai als Transit, wartend auf das Visum für die USA oder ein anderes entwickeltes Land. Denn China war ein armes Agrarland, zudem Kriegsgebiet; auch viele chinesische Flüchtlinge hatten sich hierher geflüchtet. Die einstmals pulsierende, wirtschaftlich und kulturell führende Metropole Shanghai bot trotz der schwierigen Lebensbedingungen den europäischen Flüchtlingen allerdings noch Chancen, sich Arbeit zu suchen und sich ein soziales und kulturelles Leben aufzubauen. Dass sie von der deutschen diplomatischen Vertretung in Shanghai und der NSDAP-Ortsgruppe nicht nur keinerlei Unterstützung fanden, sondern auch hier aktiv ausgegrenzt wurden, war den Flüchtlingen bewusst.

Sie konnten nur auf die Unterstützung zweier jüdischer Gemeinden zählen: die der weißrussischen jüdischen Einwanderer, die oft kleine Geschäfte führten und die der baghdadisch-jüdischen Kaufleute, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu großem Wohlstand gekommen waren und sich karikativ und im Bildungsbereich für die Geflüchteten einsetzten. Hilfe leistete auch das Joint Distribution Committee (JDC), die jüdisch-amerikanische Hilfsorganisation. Sie richtete Sammelunterkünfte ein, stellte Arzneien, warme Mahlzeiten und Kleidung zur Verfügung, hatten doch die Flüchtlinge bei ihrer Ausreise keine Wertsachen oder gar Geld, sondern nur das Notwendigste mitnehmen dürfen. Arbeitsfähigen gelang es allmählich, sich durch Hilfsdienste und Beschäftigungen aller Art ihren Lebensunterhalt auf einem niedrigen Niveau zu sichern und sich eine Unterkunft zu suchen.
 
Spätestens mit dem Beginn des Pazifischen Krieges im Dezember 1941 wurde den Flüchtlingen klar, dass ein Verlassen Shanghais, dessen internationale Wohngebiete nun ebenfalls japanisch besetzt wurden, nicht mehr möglich war. Sie suchten sich hier einzuleben, schufen sich europäisch geprägte öffentliche Orte mit Kulturveranstaltungen und Cafés, gaben deutsch- und englischsprachige Zeitungen heraus und verstärkten die Verbindungen zur chinesischen Gesellschaft.

  Hongkou, Shanghai Hongkou, Shanghai | Public Domain
Geflüchtete Sozialisten und Kommunisten unterstützten die Untergrundorganisation der Kommunistischen Partei Chinas in ihrem Widerstand gegen die japanische Aggression. Manche Flüchtlinge lernten neben Englisch auch Chinesisch, begannen sich für die chinesische Kultur zu interessieren. In der chinesischen Bevölkerung existierte kein Antisemitismus, die Flüchtlinge lebten in ähnlich prekären Verhältnissen wie sie selbst; gemeinsam war allen die Haltung gegen die Aggression des faschistischen Japan, welches sich bereits 1936 im Antikominternpakt mit NS-Deutschland verbündet hatte.

1943 hatte dieses Bündnis verhängnisvolle Auswirkungen auf die Flüchtlinge in Shanghai: Die NS-Regierung drängte Japan mit dem Argument der Spionagegefahr, die Shanghaier Juden in Lagern zu konzentrieren. Soweit ging die japanische Regierung aus Sorge um Vergeltungsmaßnahmen gegenüber ihren Landsleuten in den USA nicht, doch die Besatzungsmacht befahl die Zwangsumsiedlung der seit 1937 eingetroffenen Flüchtlinge in den chinesischen Stadtteil Hongkou. Die Bewacher dieser Designated Area, auch als Hongkou-„Ghetto“ bezeichnet, setzten die Umsiedlung auch gegen Widerstand bis 1944 durch und übten durch ihr Amt für Staatenlose Flüchtlinge eine strikte Kontrolle aus. Zuvor hatte das Amt auch auf die Flüchtlinge das Baojia-System angewandt, die Einteilung der Flüchtlinge in Zehner- und Hunderter-Gruppen, die für die Umsetzung der Besatzungsbefehle in ihren jeweiligen Gruppen selbst verantwortlich waren. Verstöße gegen die strikten Auflagen wurden bestraft. Oft wurden die Festgenommenen in Zellen inhaftiert, die durch mit Typhus infizierte Läuse verseucht waren und so für die Gefangenen tödlich sein konnten. Verhasste Symbolfigur für die Unterdrückung war der für die Erteilung von Langzeit-Genehmigungen verantwortliche Kanoh Ghoya, der für seine unberechenbaren Gewaltausbrüche berüchtigt wurde.

Ankunft in Shanghai Ankunft in Shanghai | Public Domain Die Zwangsumsiedlung bedeutete für fast alle Flüchtlinge, dass sie sich unter sehr viel schwierigeren Bedingungen erneut eine Existenz aufbauen musste. Vielen gelang dies nicht mehr und sie waren zunehmend auf die unzulänglichen Hilfslieferungen des JDC angewiesen. Auch die Lebensbedingungen der mehr als 100 000 chinesischen Bewohner von Hongkou verschlechterten sich weiter. Trotzdem sind zahlreiche Akte von Solidarität mit den Flüchtlingen überliefert.

Zu Ende des Krieges zerstörten amerikanische Bomber eine japanische Radiostation und Munitionsdepots in Hongkou. Viele chinesische Zivilisten, auch Dutzende Flüchtlinge, kamen dabei ums Leben; noch mehr wurden verwundet, ihre Wohnungen zerstört. Bis zum September 1945 mussten die Flüchtlinge auf ihre Befreiung warten. Ihre Lebensbedingungen verschlechterten sich aufgrund unzureichender Lebensmittelversorgung und hoher Inflationsrate noch einmal dramatisch. Auch nach der Befreiung verbesserte sich ihre Lage angesichts des bald herrschenden Bürgerkrieges zwischen der Nationalregierung der Guomindang, die Shanghai kontrollierte, und den Truppen der Kommunistischen Partei nur allmählich. Neben der Existenzsicherung beherrschte die Flüchtlinge vor allem die Frage, wohin sie nun gehen konnten. Die große Mehrheit wollte weder nach Deutschland oder Europa zurück, noch wollte sie in China bleiben. So mussten erneut Aufnahmeländer und Transportmöglichkeiten gesucht werden.
 
Ab 1947 erst konnten die ersten Flüchtlinge mit Hilfe des JDC Shanghai verlassen. Nur wenige, etwa 500, kehrten nach Deutschland in die Sowjetzone zurück, um hier am Aufbau eines antifaschistischen Staates mitzuwirken. Die Mehrheit emigrierte weiter nach Australien und in die USA, etliche auch in südamerikanische Länder. Nach Gründung des Staates Israel 1948 wurden dort auch die Alten und Kranken aufgenommen, die die Einwanderungskriterien anderer Länder nicht erfüllten. Einige Hundert blieben nach 1949 in China – sie hatten sich beruflich etabliert und einen chinesischen Ehepartner gefunden. Für sie alle bedeutete Shanghai trotz aller schwierigen Lebensumstände die Rettung.
 

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