Kurzgeschichte  Zur schönen Aussicht

Scherben © Marika Vinkmann
Die Aussicht war aufreizend, regelrecht aufgeilend schön. Von so einer Aussicht träumen die Menschen. Sie ziert Broschüren und Kataloge von Hotelanlagen, Immobilienmaklern und taucht in Werbespots auf. Wer hier oben schläft, wer hier oben lebt, der hat es geschafft. Hier oben sind die Menschen glücklich. Sie brauchen keine Angst zu haben, sich sattsehen zu können. Sie sind Teil der herrschenden Klasse. Und die Zyniker und die Zweifler und die Ängstlichen und die Unsicheren sagen: Das ist so hoch, es gibt nur noch einen Weg: steil hinab ins Nichts, in den Beton, in die hübsche Gartenanlage, vielleicht in den Pool oder in den Obst- und Gemüsestand. Aber aus denen spricht nur der Neid. Denen wurde schwindelig vom Ausblick.

Die Frau, die hier täglich am Fenster stand, Hochhaus A1, 49. Stock, Penthouse, 300qm Wohnfläche, dachte weder über ihr Hochkommen noch über ihren Untergang nach. Die blickte stets nach draußen, als scherte sie weder die Vergangenheit noch die Zukunft, als ginge es nur um das Jetzt, die Gegenwart, die Erhabenheit der eigenen Situation. Da stand sie also, stets angezogen oder zumindest umhüllt von einem Seidenmantel, mehr als ein Jahr lang. Die Frau, so viel wussten die Anderen, war eine schöne Frau. Die Frau, die so viel wusste, war hübsch, ihr Style lag zwischen europäischer Eleganz und amerikanischer Lautstärke, zwischen reich und sehr reich, zwischen mutig und gelangweilt, zwischen einsam und unabhängig, die Grenzen verwischten. Die Konturen und das Make-up der Frau wurden immer unschärfer, unklarer, konturloser, unbestimmter.

Sie wurde unsichtbar. Sie ging verloren zwischen den Panoramafenstern und der Welt dahinter. Zwischen den Stunden, den Tagen, der Einsamkeit und der neugewonnenen Freiheit, zwischen einem Alles-kann-nichts-muss und einer Tatenlosigkeit, weil die Aufgaben fehlten. Wo ist sie geblieben? Sie weiß es wohl, wir wissen es nicht.

Im Zentrum des Hochhauskomplexes, der sechs Hochhäuser umfasst und hinter einem massiven Zaun einschließt, befindet sich eine gut bewachsene Gartenanlage mit Gängen, die zum Lustwandeln einladen, mit Rosen und anderen Blumen, die übers Jahr verteilt süß duften, ein nur zwei Monate im Jahr gefüllter Pool mit einem 50m langen Schwimmbecken und ein kleiner Shop, in dem sich die Kundschaft kaum drehen und wenden kann. Zudem verkaufen drei dürre Frauen viermal die Woche in einem provisorisch aussehenden Obst- und Gemüsestand frische, wohlgeformte und schmeckende Waren. Die Anlage ist 24/7 bewacht: durch etliche Männer in Uniform, die zwischen den Eingängen der Anlage, den Eingängen der Häuser und den Stützpunkten im Garten patrouillieren, durch etliche Kameras. Hin und wieder wurden sowohl die Headset-tragenden Aufpasser als auch die Kameras gut versteckt. Wie konnte die Frau also so einfach verschwinden? Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Gab es doch kein unbemerktes Eindringen, kein heimliches Davonstehlen. Und die Frau hat es dennoch geschafft, die Zuständigen vor ein Rätsel zustellen, das unlösbar scheint.

Plötzlich war sie weg. Zuletzt gesehen, zuletzt gehört, zuletzt wahrgenommen. Es gab für alles ein beobachtetes, gemerktes, aufgenommenes, gespeichertes letztes Mal dieser Frau. Nachdem sie aufhörte, sich höflich distanziert mit ihren Nachbarn zu unterhalten, hörte sie auf, jeden Morgen im Pool zu schwimmen. Nachdem sie aufhörte, täglich ihre Bahnen im Pool zu ziehen, hörte sie auf, ihr Frühstück in der angrenzenden Shoppingmall einzunehmen. Nachdem sie aufhörte, im gut klimatisierten, europäisch anmutenden Café in der Mall zu speisen, hörte sie auf, Unmengen frisches Obst am Stand einzukaufen und sich zu wundern, wie günstig das schon wieder war. Nachdem sie aufhörte, die frischen Lebensmittel einzukaufen, hörte sie auf, einen Spaziergang am frühen Abend außerhalb der Anlage zu machen. Nachdem sie aufhörte, ihre kleinen Routen am Abend zu gehen, hörte sie auf, gelegentlich eine Bar zu besuchen. Sie ging nicht mehr einmal die Woche ins Kino, sie ging nicht mehr einmal im Monat in die Oper, sie ging nicht einmal mehr ins Museum. Die Frau hörte auf. Doch was tut sie jetzt?

Wo ist sie geblieben? Sie weiß es wohl, wir wissen es nicht.

Sie tat zuvor schon nichts Wichtiges. Sie führte das abstrakte Leben einer Neureichen im Ausland, einer nicht mehr ganz Neuen, aber wirklich ganz Reichen, ohne Pflichten und ohne das Recht auf Arbeit. Wie gut das klang: keine Arbeit mehr. Wie schön das klingt: top Wohnung mit top Gehalt des Ehegatten und keine Verpflichtungen mehr. Richtig viel Zeit für einen selbst. Richtig viel Geld für einen selbst. Die Frau hat sich schon lange keine Gedanken mehr um ihre Existenz gemacht. Sie wusste: Wir sind nicht unsere Arbeit. Arbeit muss nicht sinn- und identitätsstiftend sein. Unsere Arbeit definiert uns nicht. Oder? Wer sind wir ohne Arbeit? Was hält die Gesellschaft von uns, wenn wir nicht arbeiten? Die Frau wusste viel, die Antworten auf diese Fragen wusste sie auch. Aber sie hatte keine Lust sie mitzuteilen. Sie teilte sich niemandem mehr mit. Sie verstummte und löste sich auf.

Der Mann, der hier am Fenster steht und die atemberaubende Aussicht genießt, ist verdutzt. Da steht er in seinem schönen Anzug und hält eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand und schaut nach draußen. So eine schöne Aussicht. Er wandelt von einem Zimmer zum nächsten, spaziert, so gut es eben geht, an den Fensterfronten entlang. Allumfassende Panoramafenster, bodentief, frisch geputzt, schöne Vorhänge zum Zuziehen, denn schonungslos zeigen sie die Realität aller vier Himmelsrichtungen, zeigen sie andere Hochhäuser, zigtausende kleine Häuschen, Millionen Autos am Tag, Menschen auf den heißen Straßen Pekings, Uniformierte auf Brücken, Uninformierte an anderen Fenstern, hie und da kreist ein Vogel, mehrere Vögel, die Sonnenuntergänge, hat schon einmal jemand solche Sonnenuntergänge gesehen? Niemand, den er kennt und der einen anderen Weg eingeschlagen hat als er. Die Berge, Peking ist umzingelt von Bergen, selbst die lassen sich manchmal blicken. Wow, denkt er sich, doch nicht mehr begeistert, nicht mehr aufgekratzt über seinen Erfolg, nicht mehr überrascht, dass so sein Leben verläuft, nein, das Wow war anderer Natur, er war einfach schon lang nicht mehr zu Hause. Er mag sich schon an sein Leben, an seinen Lifestyle, an sein Gehalt, an das Verschwinden seiner Frau gewöhnt haben. Zumindest schmeckt ihm heute der Kaffee und bisher hat er noch nicht versucht, seine Frau auf ihrer alten Nummer anzurufen, die seit sechs Wochen tot ist. Ihr Handy ist sowieso das Einzige, das fehlt. Ihr Handy und ihr Ehering.

Die Anderen waren ganz bestürzt. Sie sind es immer noch. Der Mann ist auch bestürzt, er kennt allerdings seine Frau, er liebt seine Frau, er vermutet seine Frau in einem abgelegenen Spa-Hotel, einer Kuranlage, im Ausland, gut versteckt, um durchzuatmen, um zu sich selbst zu finden, um viel Geld und viel Zeit zu verschwenden, um ihm eine Lektion zu erteilen, um ihn zu bestrafen, um das Gefühl der Macht zu ergattern.

Die Frau wusste viel, die Antworten auf diese Fragen wusste sie auch. Aber sie hatte keine Lust sie mitzuteilen. Sie teilte sich niemandem mehr mit. Sie verstummte und löste sich auf.

Die anderen Ehefrauen haben Angst um ihre Sicherheit bekommen, im Spouseprogramme der Firma war die Hölle los, eine verschwundene Ehefrau, eine von ihnen! Und auf der anderen Seite des Spouseprogrammes war die Hölle los, da verschwand eine, eine von denen, die es zu bespaßen galt, um die sich gekümmert werden sollte, damit sie eben nicht in die Depression kippt, in die Schwermut, in die Isolation, damit der Mann eben nicht kündigt, und sie nicht dahin zurückgingen, wo sie herkamen, damit die Arbeitsbeziehungeben nicht endete und verbrannte Erde hinterlassen werden würde. Mist. Es wurden Köpfe gefordert, die nichts mit dem Verschwinden der Frau zu tun hatten. Aber Maßnahmen mussten ergriffen werden, das gehört zu so einem Fall dazu.

Der Mann denkt gar nicht daran zu kündigen. Der Mann beendet seinen Spaziergang durch das Penthouse, schreibt einen Liebesbrief an seine Frau und legt ihn auf den Tisch im Esszimmer, trägt ihn ins Schlafzimmer, legt ihn aufs Bett, nein, das ist vielleicht auch übergriffig, legt ihn auf ihren Schreibtisch, haha, ein Schreibtisch, für was hat sie den eigentlich, legt ihn auf ihren Schminktisch, legt ihn auf den Küchentisch, nein, das passt auch nicht, seine Frau gehört eben nicht in die Küche, die gehört raus in die Welt und deshalb legt er den Brief auf das schöne chinesische Schränkchen neben der Wohnungstür, auf dem sich in einer goldenen Schüssel die Schlüssel und neben dieser ein Foto der beiden befindet. Apropos Schlüssel: Ihrer befindet sich am gewohnten Platz. Der Ersatzschlüssel befindet sich in der Schublade. Die Handtasche, wo ist eigentlich diese Handtasche, für die er ein Vermögen ausgab? Sie hängt an der Garderobe. Er schaut in die stille Wohnung, geht in den Aufzug, sieht der Tür beim Schließen zu und geht dahin, wo er am besten ist, in die Arbeit, the show must go on, und als Show interpretiert er auch das plötzliche Verschwinden seiner Frau.

Auf ihren Konten rührt sich nichts, ebenso wenig wie sich in dieser Bude was rührt. Wie auch, er selbst arbeitet jeden Tag fleißig und die Putzkraft, die so unverschämt günstig, aber reinlich ist, sorgt dafür, dass sowieso jede Spur verschwindet. Spuren, das ist ein guter Punkt, denn es gibt keine. Nicht eine einzige. Keine Kamera, keine Security, kein Nachbar, kein angrenzender Bewohner, keiner ihrer Freunde, niemand hat etwas gesehen, gehört, mit ihr gesprochen, geschrieben. Die Auswertung erfolgte zeitnah und gründlich, systematisch ließ sich jeder ihrer letzten Schritte verfolgen, sie ging am Sonntag vor sechs Wochen um 14:13 Uhr raus. Nahm den Aufzug, davon gibt es Videomaterial, verließ das Gebäude, verließ die Anlage, passierte die Mall, alles tipptopp dokumentiert, spazierte, schlenderte regelrecht, als hätte sie die Ruhe weg, durchs Viertel, kaufte sich einen Bubble Tea und warf nur sieben Minuten später den leeren Trinkbecher in den Müll. Sie muss durstig gewesen sein, oder gierig, oder hatte es ihr so gut geschmeckt? Dem ziellosen Spaziergang ging ein Telefonat mit ihrem Mann voraus, um 14:01 Uhr, der ihr leider mitteilen musste, dass er doch noch nicht nach Hause kommen würde, vielleicht ließe sich der frühe Abend schaffen, er würde sie auch ausführen in ein gutes Restaurant oder wo immer sie hinwollte. Ja, wohin sie eben wollte, versichert er, sie jedoch sagte, sie wüsste das jetzt eben nicht, sie muss nicht immer alles sofort wissen. Das Telefonat endete, irgendwo zwischen Enttäuschung und Wut und Resignation und Hilflosigkeit und Höflichkeit und Vertrauen.

Der Spaziergang wurde ihr offensichtlich zu öde, denn sie schlug bereits um 14:44 Uhr den Rückweg ein und passierte um 15:00 Uhr den Wachmann und befand sich um 15:02 Uhr im Aufzug des Gebäudes A1 und um 15:05 Uhr in ihrer eigenen Wohnung im 49. Stock. Keine äußerlichen Veränderungen ließen sich auf dem Videomaterial feststellen, keine Verkehrtheiten, keine Wunden, sie trug nichts Neues bei sich, sie humpelte nicht, sie sah nicht zerzaust oder zerfleddert, traurig oder verheult aus, alles schien normal. Sie schloss die Tür hinter sich und ab diesem Moment war es um die Frau geschehen. Wo ist sie nur hin?

Der Sonntag des Mannes vor sechs Wochen verlief ebenso eintönig und normal. Er saß im Büro und arbeitete, er telefonierte und tippte und shoppte beliebigen Schmuck mit viel Gold und ein paar Diamanten in der Mittagspause, weil er weiß, dass sich das gehört: der traurigen, wütenden, enttäuschten, einsamen Frau etwas Teures schenken und bessere Zeiten versprechen. Das hier war seine Chance, ist seine Chance. Das Leben, das er und das sich die beiden erträumten. Es ist wahr geworden; nur noch ein bisschen länger durchhalten und das Leid wird sich gelohnt haben. Die Rente ist schon jetzt phänomenal aufgestockt. Jedenfalls rief er die Frau gegen Mittag an, nachdem er das Collier schon in der Tasche hatte, versprach ein Dinner am Abend, aber rief gegen 21:30 Uhr erneut an, das Dinner würde auch nichts werden, da hob sie schon nicht mehr ab, er konnte den Ärger regelrecht spüren und schickte noch ein paar tröstende, aufmunternde Nachrichten hinterher, die allesamt unbeantwortet blieben. Dieses Verhalten kannte er, früher ließ er sich davon verunsichern, liebte aber auch die konstante Unsicherheit, die seine Frau ihm bereitete, denn sie war nicht nur aufregend schön, sondern auch ganz schön eigensinnig. Als er spät nachts nach Hause kam, weit nach Mitternacht, legte er sich sicherheitshalber gleich ins Gästezimmer und schlief den sanften, tiefen Schlaf des Unwissenden, denn schon zu diesem Zeitpunkt befand sich seine Frau nicht, wie er vermutete, schlafend im Schlafzimmer, sondern war unauffindbar. Und weil der Mann respektvoll handelte, ließ er seine Frau, die er schlummernd wähnte oder bockig oder lustlos oder gemein, auch am nächsten Morgen unbehelligt seiner Ankunft und unbehelligt seines erneuten Aufbruchs ins Büro vermeintlich im Schlafzimmer liegen, fernsehen, lesen, sein. So kam es, dass der hart arbeitende Mann erst am Montagabend realisierte, dass sich seine Frau nicht in der Wohnung befand, er die Polizei einschaltete und der Lauf der Dinge, die Suche nach einer Vermissten, einer Ausländerin, die Panik im Büro, die Kündigungen und Anklagen und die Panik bei den Freunden, die Beunruhigung in ihm begannen.

Und heute? Na, der Mann denkt, die Seinige wird irgendwo liegen und es sich gutgehen lassen und zurückkommen und alles wird wieder gut sein, die Lektion, die hat er zumindest gelernt, denn er vermisst seine Frau und schläft schlecht und schlechter Schlaf ist ein richtiger Motivationskiller und führt zum Versagen in der Arbeit und im Leben an sich. Und deshalb schreibt er fleißig jeden Morgen einen Liebesbrief an seine Frau und platziert ihn täglich woanders. Und falls die Frau heimkommt, wird sie nicht nur einen, sondern viele Briefe finden. Mittlerweile sind es 42. Der Mann klammert sich an die Briefe, klammert sich an die Unmöglichkeit, dass seine Frau, dass so eine Frau, mitten in einem vollüberwachten Hochhauskomplex in einem der reichsten Viertel Pekings am helllichten Tagverschwindet, sich schier in Luft auflöst, 2019. Die Fenster lassen sich nicht öffnen im Penthouse, es gibt keine Luftschächte, durch die gekrabbelt werden könnte, keine Falltüren, keine Löcher, keine Schäden. Sie konnte hier nicht unbemerkt raus. Konnte es sein, dass sie sich seit sechs Wochen in der eigenen Wohnung vor dem eigenen Mann versteckt hielt?

Sie schloss die Tür hinter sich und ab diesem Moment war es um die Frau geschehen. Wo ist sie nur hin?

Nun, an dieser Stelle sollte auf die Tatsache hingewiesen werden, dass nichts zu hören und nichts zu sehen ist. Nichts, weder der Straßenlärm noch die Nachbarn unter ihnen, keine Natur, kein Hupen, kein Schreien, kein Gezwitscher. Und während keine Geräusche von außen eindringen, dringen auch keine von innen nach außen. Der Mann, der in dieser Situation wirklich keine Kosten scheute, ließ ein aufwendiges Überwachungsprogramm in der Wohnung installieren und sie ordentlich auf den Kopf stellen. Die Kameras, die sich zuverlässig bei Bewegungen aktivieren und zeitgleich, also live, das Bild auf alle Datenträger seiner Wahl spielen, ermöglichen ihm permanenten Zugriff, nein, Einblick. Denn was in die eine Richtung über Bewegung aktiviert wird, kann auch zu jeder Zeit und von jedem Ort von ihm gesteuert werden. Aber egal zu welcher Uhrzeit er den Überwachunskanal einschaltet und sich sein schönes, unbelebtes Interieur anschaut, keine Frau. Seit 42 Tagen keine Menschenseele in der Wohnung, abgesehen von seiner eigenen.

Der Mann hat eben das Penthouse verlassen und sitzt jetzt schon im schwarzen Auto und wird in die Arbeit gefahren. Seine tägliche Routine beginnt mit dieser Autofahrt, endet mit einer Autofahrt, wird bestimmt durch abstrakte Zeitpläne und Unternehmensziele, durch die permanente Ablenkung vom Verschwinden seiner Frau. Konnte sie es logistisch lösen, ohne ihr Portemonnaie, ohne Klamotten, ohne Reisepass? Das letzte Mal hob sie Bargeld zwei Wochen vor dem Verschwinden ab, eine so geringe Menge, damit konnte sie niemanden schmieren, bestechen, zum Schweigen bringen. Der Mann kommt im Büro an und es bleibt keine Zeit mehr für solche Überlegungen, ran an den Speck, ran an die Arbeit. Er kann sich nicht von seiner Frau aufhalten lassen.

Zurück zum Sonntag vor sechs Wochen. Die Frau betrat um 15:05 Uhr die Wohnung und legte erst mal ab, sie stellte die Schuhe ins Regal und ging in die Küche, frischer Saft. Sie setzte sich ins Wohnzimmer aufs Sofa, vor ihr lagen ausgebreitet einige Bücher, die sie interessant, doch nicht packend fand, sie begann in einem davon zu lesen. Sie schaute dabei auffällig oft auf die Uhr und wurde zusehends frustrierter. Das merkwürdige Dahinschleichen der Zeit. Sie duschte und betrachtete den nackten Frauenkörper im Spiegel ihres perfekten Kleiderschrankes, sie zog sich an, hübsch und fein, schließlich war es bald Zeit für ein Abendessen. Die Zeit zog sich, sie verging sich an der Geduld der Frau, sie brauchte das letzte bisschen vorhandener Empathie auf und wurde plötzlich wütend. Sie wurde rasend wütend. Sie wurde von so einer enormen Wut gepackt, dass es sie schier zerriss. Nein. Die Frau behielt ihre Wut für sich. Sie cremte sich ein. Sie schminkte sich. Sie betrachtete ihr schönes Haar und übte das hübsche Lächeln. Wohin wollte sie heute gehen? Wohin sollte der Mann sie zur Entschuldigung ausführen? Welche Handtasche, welche Schuhe, welches Kleid? Sie überlegte und ging durch das Penthouse und betrachtete die finster werdende Welt, nein, das stimmte nicht, es würde erst später finster werden, es wurde nur in ihr finster. Sie begann dunkel zu werden, der schöne Schein, das Strahlen, die Sanftheit, die von der Frau ausgingen, wurden verschluckt von einer Düsterheit, von einer gruseligen Schattenhaftigkeit. Der Blick auf die Uhr. Jetzt war es aber wirklich Zeit, wo blieb er denn?, seit Tagen, ach, was sagte sie sich, seit Wochen hatten sie nicht mehr einen Abend, geschweige denn einen Tag zusammen verbracht. Eifersucht? Wut. Ärger. Rage. Die Welt wurde so finster. War ein Gewitter angekündigt? Die Frau schaute raus, es war taghell. Es wurde kalt, es wurde eng. Der Blick auf die Uhr, die Aktivierung des Telefons, keine Nachricht, natürlich, nein, sie würde nicht anrufen, nicht winseln, nicht betteln, sie hatte keine Lust mehr auf das Schattenleben. Sie stand doch hier, lebend, bereit, wartend. Die Frau wurde verschluckt. Sie stand da, mittendrin in ihrer 300qm Wohnung, wütend, so wütend, dass es sie wortwörtlich zerriss.

Einfach so.

In messerscharfe, spitze, hochgradig gefährliche Einzelteile. Vielleicht waren sie explosiv, vielleicht giftig, sie schossen durch das Apartment, bereit zu verletzen, zu töten, zuzerstören, doch griffen sie nicht an. Nein, sie funkelten verheißungsvoll, waren harmlos, blieben stumm.

Und aus den Einzelteilen formte sich eine unsinnige, modern und teuer anmutende Skulptur, die nun auf dem Boden am Fenster steht, ohne den Namen der Schöpferin.

Der Mann hat das Objekt zwar gesehen, aber erkannte in ihrer abstrakten, ihrer grotesken Form, ihrer tiefdunklen Farbigkeit und ihrer glatten Oberfläche nichts. Er wusste nicht einmal, wann die Skulptur in seine Wohnung gekommen war. Er würdigte in Gedanken den Geschmack seiner Frau, die offensichtlich dieses Kunstwerk ausgesucht und an diesem idealen Ort platziert hatte.

Und er lobte die Kunst der Skulptur, sich so schön in die Traumwohnung einzufinden, anzupassen. Sie ist nicht zu aufdringlich, nicht zu viel Platz einnehmend, angenehm frisch, ungewohnt, aktuell, so neu, so düster, so reizvoll, so vielversprechend, aussagekräftig, verlockend. Sie fügt sich so gut ein. Ins Gesamtbild. Ein wirklich hinreißendes Objekt, und es eignet sich hervorragend, um den eigenen Marktwert zu symbolisieren. Das hat sie wirklich gut gemacht, seine Frau.
 

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