Alternative Trauerkultur  Die Erinnerung bleibt

Ein Mann steht vor dem Friedhof
Das was bleibt ist die Erinnerung © Silvan Hagenbrock

​Soll es eine Beisetzung auf unserem Familiengrab sein oder doch lieber eine Einäscherung auf einem Friedwald? Nein, ich habe auch noch kein Testament geschrieben. Und nein, ich habe meine Familie auch noch keine Vollmacht unterschreiben lassen. Zeit das mal zu ändern und mehr über das Thema Abschied zu reden: Das yì magazìn im Gespräch mit der Trauerrednerin Tonia Heyckendorf.

yì magazìn: Von wem hast Du dich zuletzt verabschiedet?
 
Tonia Heyckendorf: 2019 ist eine ehemalige Vorgesetzte von mir verstorben, die im Laufe der Zeit aber zu einer Freundin geworden ist und ich war völlig überrascht von ihrem Tod, der ziemlich unerwartet kam. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet und war zuletzt sehr frustriert von ihrem Job. Als sie endlich in Frührente gegangen ist, wollte sie eigentlich noch einmal so richtig durchstarten, ihre Träume erfüllen und sich verwirklichen. Stattdessen hat sie angefangen, sich stark zurückzuziehen und ist dann im wahrsten Sinne des Wortes alleine gestorben. Darüber war ich sehr traurig. Ich habe mir lange überlegt, ob ich ihr zu Lebzeiten nicht öfters ins Gewissen hätte reden sollen. Wir haben nur dieses eine Leben und vielleicht ist es manchmal ganz gut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, um ein Umdenken bei einem Menschen anzuregen.
 
Was bedeutet es heute für Dich Abschied von einem Menschen zu nehmen?
 
Früher habe ich immer einen großen Bogen um das Thema Tod gemacht. Aber durch meine Arbeit als freie Trauerrednerin kann ich es besser akzeptieren, dass Abschiede zum Leben dazugehören. Und ich mache mir immer öfter bewusst, wofür ich dankbar bin. Ich spreche in meinen Reden über das, was bleibt. Für unser Leben bedeutet das letztendlich, sich zu bemühen möglichst viele dieser bleibenden Momente und dieser Begegnung zu schaffen, solange wir das noch können.

Ich darf in diesem Beruf ganz ich selbst sein. Ich muss mich überhaupt nicht verstellen, sondern genüge so wie ich bin.

In welcher Situation hast Du dich dazu entschieden freie Trauerrednerin zu werden?
 
Beruflich komme ich aus dem Bereich der PR. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass es ein Unterschied ist, ob ich etwas tue, weil ich es kann, oder weil es einen erfüllt. Mein Schlüsselerlebnis hatte ich, als ich das erste Mal bei einer freien Zeremonie war, auf der eine freie Rednerin gesprochen hat. Ich war vollkommen angetan von der Atmosphäre, die diese Frau alleine mit ihren Worten erschuf. Mich reizt an meinem Beruf, spannende Lebensgeschichten zu hören und diese mit einfühlsamen Worten in kreative, passende Bilder zu übersetzen, die in den Köpfen und Herzen der Menschen bleiben.

Ein Beruf, der Dich erfüllt.
 
Ja genau. Mit dem, was ich sage, kann ich wirklich Unterschiede im Leben von Menschen machen. Ich schaffe es, in diesem Moment der Trauer zu helfen. Ich darf in meinem Beruf Menschen mit Worten beschenken und sie mit Worten ehren. Was aber besonders schön ist: Ich darf in diesem Beruf ganz ich selbst sein. Ich muss mich überhaupt nicht verstellen, sondern genüge so, wie ich bin. Die Menschen rufen mich, weil ich Tonia bin und das ist einfach großartig.
 
Was war die eindrücklichste Geschichte eines Verstorbenen, an die Du noch häufig denken musst?
 
Das ist die Geschichte von einem jungen Mann, der einen dramatischen Unfall hatte und nach einer sehr anstrengenden Leidenszeit viel zu früh starb. Dieser junge Mann steckte zu Lebzeiten voller Energie und hat alle um sich herum mit seiner Leidenschaft inspiriert. Er war einer, der das Leben sehr zu schätzen wusste und einen Blick für die Schönheit der Dinge hatte. Für meine Rede wählte ich dann ein ausgesprochen sinnliches und fröhliches Bild, das Bild eines Festivals, eines Lebensfestivals. Die Familie war unglaublich dankbar und sagte mir im Anschluss, es habe sehr gut getan, dass ich ihnen Hoffnung, dass ich ihnen Freude geben konnte, die sie nach dieser Zeit des Leidens einfach bitter nötig gehabt hatten.
 
Worte, die eine heilende Wirkung haben.
 
Ja, und trotzdem ist es immer noch so, dass wenn ein Mensch stirbt, die meisten von uns um die richtigen Worte ringen.

Der Tod verliert seinen Schrecken, indem wir darüber sprechen.

Was muss denn passieren, damit das Sprechen über Tod und das Sterben gesellschaftlich akzeptierter ist?
 
Ich finde, dass wir keine richtige kollektive Trauerkultur mehr haben. Die Menschen haben sich einfach daran gewöhnt, Dinge privat auszuhandeln. Und genau so ist es auch mit dem Tod. Er passiert hinter den Kulissen, und auch die Trauer, die soll möglichst still und leise stattfinden. Vor der Trauer steht der Abschied. Wenn der intensiv gelebt werden kann, ist im besten Fall eine gesunde Trauer und auch das Sprechen darüber möglich. Es gibt zum Glück immer mehr Bestatter*innen, die dies ermöglichen, indem sie traditionelle und vergessene Trauerrituale anbieten, ihre Türen für einen Blick hinter die Kulissen öffnen und über ihre Arbeit und Formen des Abschiednehmens aufklären. Der Tod verliert seinen Schrecken, indem wir darüber sprechen.
 
Haben sich Trauerreden und die Zeremonien im Wandel der Zeit stark verändert? 
 
Definitiv! Zunächst einmal hat sich das Wesen der Trauerfeiern geändert. Gute Zeremonien sind nicht mehr schwer und düster, sondern im besten Fall tröstend und Kraft spendend. Die Angehörigen wünschen sich eine liebevolle Rückschau auf das Leben ihrer geliebten Person. Damit verbunden hat sich die Arbeit der Trauerredner*innen verändert. Gute Redner*innen nehmen sich viel Zeit für das Gespräch und tauchen gemeinsam mit den Angehörigen in die Lebensgeschichte der verstorbenen Person ein. Sie achten dabei auf Zwischentöne, lesen zwischen den Zeilen, fragen nach Details und versuchen eine individuelle Rede zu schreiben, die tatsächlich nur auf dieser einen Bestattung gehalten werden kann. Es geht dabei um viel mehr als die Lebensstationen, sondern um das Wesen des Menschen, und das ist mit keinen Worthülsen oder Floskeln zu erfassen. Das Dritte, was sich geändert hat, ist sicherlich auch die Präsentation der Rede. Eine gute Trauerrede zeichnet sich dadurch aus, dass man in der Wortwahl authentisch bleibt und dass man in der Abschiedszeremonie keine Ehrfurcht und Distanz, sondern eine dankbare Atmosphäre kreiert. Das erreiche ich nur, indem ich ganz natürlich und ohne Pathos spreche.
 
Was sind Zugänge, um Deine Reden zu erarbeiten?
 
Ich frage zunächst die Rollen ab, in denen die verstorbene Person gelebt hat. Dann möchte ich natürlich herausfinden, was diesen Menschen ausgemacht hat. Dazu suche ich nach ganz vielen Details. Ich möchte zum Beispiel wissen, was diese Person gerne gegessen und getrunken, was sie gerne gelesen hat, bei welchen Aktivitäten ihr Herz aufging aber auch was ihre Ecken und Kanten waren. Jeder und jede kann bei diesem Gespräch dabei sein und sie dürfen mich nach dem Gespräch jederzeit kontaktieren. Denn manchmal kommt die Erinnerung an ein bestimmtes Detail erst im Nachgang.
 
Nach diesen Gesprächen setzt Du dich an die Erarbeitung deiner Rede?
 
Ich suche hierfür eine passende Metapher, also ein Bild, mit dem ich das Leben des Menschen vergleiche. Das kann ganz unterschiedlich sein und lehnt sich auch oft an das an, was die Person gemacht hat, was sie ausgezeichnet hat. Durch die bildhafte Beschreibung des Lebens fällt es der Trauergemeinde leichter, meiner Rede zu folgen. Die Vorstellungskraft wird dadurch angeregt und das Gesagte bleibt besser in Erinnerung.
 
Wie reagierst Du aktuell auf die Kirchenaustritte? Termine für den Kirchenaustritt in Köln sind bereits auf Monate im Voraus ausgebucht. Der Frust bei den Katholik*innen gegenüber der Kirche ist aufgrund von sexuellen Missbrauchsskandalen groß.
 
Die Statistik spricht Bände, im Jahr 2002 fanden noch 70 Prozent der Bestattungen im kirchlichen Rahmen statt. 15 Jahre später im Jahr 2017, waren es nur noch 55 Prozent. Dass Menschen mit der Kirche hadern, ist aber nur die eine Seite. Ein wichtiger Grund ist sicherlich auch die steigende Individualisierung unserer Gesellschaft. Und die zeigt sich auch bei den Trauerfeiern: Angehörige wünschen sich einen selbstbestimmten und persönlichen Abschied von ihren Lieben. Das betrifft den Ort der Beisetzung genauso wie den Ablauf, die Musikauswahl und den Inhalt der Rede. Hier können freie Redner*innen oft besser überzeugen. Ich würde diese veränderte Situation daher vielleicht weniger als Religionskritik, sondern als eine Zeremonienkritik bezeichnen.
 
Die letzte Frage der Fragen: Was kommt danach?
 
Ich durfte einmal in einer Bestattungsrede mit den Worten schließen: „Also Alles in Allem war‘s ein verdammt geiler Typ.“ Es wurde herzlich gelacht, denn genau so war er. Ich glaube die Erinnerung daran, wie jemand wirklich war und womit er oder sie uns beschenkt hat, kann innerhalb einer alternativen Zeremonie zumindest genau so viel Kraft spenden, wie das Heils- oder Erlösungsversprechen in der religiösen Sprache. Zu Beginn meiner Reden sage ich, dass wir immer, wenn wir Menschen begegnen, Spuren bei den anderen hinterlassen. Das, was bleibt, ist also letztendlich die Erinnerung.
Tonia Heyckendorf Tonia Heyckendorf | © karoundjens.com

Tonia Heyckendorf hat ihren Wunsch nach Abenteuer und Abwechslung zunächst im Hotelfach erfüllt. Danach ist sie als PR-Beraterin in die Öffentlichkeitsarbeit gewechselt und hat 2016 schließlich ihre Berufung als Freie Rednerin gefunden. Seit 2021 gibt sie dieses Wissen als Ausbilderin in Webinaren weiter.

tonia@freieredner.com

Die Fragen stellte Silvan Hagenbrock.

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