Stadtidentität  44143, 1060, 12049, 100125

Stadtpanorama mit handschriftlichen Postleitzahlen
Stadt und Identität © yì magazìn

Ich stehe vor dem Berliner Stadtmodell in einem Ausstellungsraum des Berliner Senats für Stadtentwicklung gleich direkt hinter der chinesischen Botschaft und blicke auf den aktuellen Gebäudebestand der Stadt und die künftigen städtebaulichen Planungen. Im Shanghaier Urban Planning Exhibition Center stand ich 2009 mit 17 Jahren schon mal vor einem ähnlichen Modell. Hier in Berlin ist allerdings außer mir niemand sonst in dem Raum.

Nur das Sicherheitspersonal verfolgt mich mit seinem Blick. Auf einem erhöhten Podium mit Blick über das Modell, wie ein Herrscher über sein Land. Für mich ist dieser göttliche Blick auf Stadt schon immer fragwürdig gewesen. Ich bin lieber auf der Suche nach dem Verborgenen einer Stadt, wie der amerikanische Reporter Gay Talese, der New York auf andere Weise beschrieb, nämlich wie sich Falken von den High-Rises runterstürzen, um Tauben zu schlagen, wie betrunkene Touristen die 200 Meter hohe George Washington Bridge hochklettern und oben einschlafen oder indem er erzählt, wie viele Strafzettel täglich vergeben werden.

Eigentlich wollte ich hier am Stadtmodell Besucherinnen nach ihren Gedanken zu Berlin fragen, aber so schwelge ich in meinen eigenen Gedanken und folge dem Schein der Sonne, der auf der Topographie des Terrors an der Wilhelmstraße liegt. Vermutlich hätte ich eh nicht mehr erfahren als die typischen Zuschreibungen zu Berlin, dass es die Stadt der endlosen Möglichkeiten sei, die Stadt der Zugezogenen, die Stadt des Technos oder vielleicht doch Geschichten, die an die Geschichten von Gay Talese erinnern?

Was ist also die Identität von Stadt, frage ich mich und den Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Frank Eckardt, der Bauhaus-Universität Weimar. Die Identität einer Stadt ergebe sich aus dem Wechselspiel zwischen den Orten und Räumen, die das Besondere einer Stadt ausmachen, und den Bedürfnissen und Aktivitäten der aktuellen Stadtgesellschaft. Sie werde aus dem spezifischen Interplay zwischen gelebter und gebauter Stadt gebildet, erfahre ich.

Die Grenze ist ein Raum der Zerstörung und Produktion von Identität

Paul B. Preciado

Als Teenager spielte ich mit Freunden auf alten Industriebrachen in der Dortmunder City-Ost, schoss neonfarbig-angesprayte Golfbälle von Baggern in den zukünftigen Phönix-See, saß im Garten meiner Mutter, trank Bier auf dem Spielplatz in der Kleingartenanlage in Dortmund-Körne. Industrieromantik und Großstadtdschungel eben.

Das Dortmunder Tourismusbüro beschreibt es so: Dortmund überrascht. Dich. Genau das erzählt mir auch ein weiterer ehemaliger Professor in Weimar: „Zunächst ist die Identität einer Stadt wohl eine Zuschreibung des Stadtmarketings. Dann aber auch das, was Bewohner*innen und Besucher*innen einer Stadt mit dieser verbinden und das wiederum ist dann kein Singular, sondern sind verschiedene Erzählungen, Sichtweisen und Wahrheiten einer Stadt.“

Hans-Rudolf Meier ist Professor für Denkmalpflege und Baugeschichte der Bauhaus-Uni und Sprecher des DFG Graduiertenkollegs Identität und Erbe. Für Professor Meier ist es wichtig zu vermitteln, den Identitätsbegriff möglichst nur im Plural zu verwenden und immer – insbesondere bezogen auf Personen, aber auch auf räumliche Phänomene – in multiplen Identitäten zu denken. Auch müsse man sich bewusst sein, dass die Rede von Identität(en) als etwas Gemeinschaftsbildendes stets auch ein Gegenüber, ein Anderes mit beinhalte. Identität bedinge Alterität und damit oft Ausgrenzung.

Wenn angehende Urbanistinnen also die Prägung einer Region oder einer Landschaft durch die Industrie untersuchen, dann gehöre laut Meier dazu die Frage, wie dadurch das Bewusstsein und ein Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner mitgeformt wird. Bei der Frage der regionalen Identitäten gehe es aber auch darum, das Andere, nämlich Verdrängtes und Ausgeschlossenes mit zu erfassen. Oder wie Paul B. Preciado es in seinem Buch Ein Apartment auf dem Uranus formuliert: „Die Grenze ist ein Raum der Zerstörung und Produktion von Identität“.

Wenn der eine den Dortmunder BVB mit Borsigplatz verbindet, dann ist der Borsigplatz vielleicht für andere wiederum ein Ort der Kriminalität und der Stigmatisierung von Menschen mit Migrationsgeschichten. Ich frage mich, ob es eine Möglichkeit gibt, diese multiplen Identitäten der „Ausgeschlossenen“ sichtbar werden zu lassen. Wie sähe eine trans-identitäre Stadt(forschung) aus? Eine Stadt, die allen gehört, eine Stadt ohne Namen und Klasse, wo unsere Körper und soziale Beziehungen zum Raum liquide sind? Keine starke Stadt, keine schwache Stadt? Und keine Rankings? Eine Stadt jenseits der Dichotomie von außen und innen?

Wenn also laut Eckardt die Urbanistik keine standardisierten Antworten auf städtische Herausforderungen und Aufgaben gestaltet, sondern Ansätze entwickelt werden, die auf die geschichtliche Besonderheit eines Raums eingeht und die aktuellen Prozesse der Stadtgesellschaft adressiert, dann kommen wir vielleicht Schritt für Schritt genau dort hin: eine Stadt für wirklich alle.

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