Dekolonisierung des Tanzes Was ist ein „afrikanischer“ Tanz?

Latitude – Ein afrikanischer Mann tanzt in einem Park vor Musikern mit Trommeln
Afrika ist ein Kontinent mit zahlreichen Ländern und mehr als 200 ethnischen Gruppen, von denen viele ihre eigenen Tänze haben – aber diese Vielfalt wird in der europäischen Vorstellung von „afrikanischem Tanz“ häufig ignoriert. | Foto (Detail): Mike007 © picture alliance / Zoonar

Verstehen Europäer*innen die Komplexität oder ethnische Zusammensetzung des afrikanischen Kontinents wirklich? Der Tanzanthropologe Adebayo Adeniyi hinterfragt die eurozentrische Darstellung der Geschichte des Tanzes und erhebt Einspruch gegen den Begriff „afrikanischer Tanz“.

Die Geschichte und Geschichtsschreibung des Tanzes wurden im Laufe der Jahre mit zahlreichen Verallgemeinerungen und Komplexitäten gefüllt, die schon mit der Frage anfangen, was in jeder Kultur überhaupt als Tanz angesehen wird. In den meisten (überwiegend eurozentrischen) wissenschaftlichen Darstellungen sieht die Geschichte des Tanzes so aus: ein Ort, eine Form und eine bestimmte Epoche. Beschreibungen wie „Geschichte des Tanzes“ oder, besonders umstritten, Curt Sachs‘ Buch mit dem Titel Eine Weltgeschichte des Tanzes vermitteln den Eindruck einer globalen historischen Darstellung des Tanzes. Gleichwohl beschäftigen sich diese allgemeinen Darstellungen meist mit den Hof- und Theatertänzen des 15. bis 18. Jahrhunderts, gefolgt von der Ära des Modern Dance in Europa und den USA, die diese globale Kategorisierung prägen, um den Appetit westlicher Gelehrter für westliche Verbraucher*innen anzuregen. Der Begriff „global“ selbst, der bestimmten Tanzstilen zugesprochen wurde, ist vom Einfluss der europäischen Kolonialmächte abgeleitet und entsprechend verpackt, allerdings nicht notwendigerweise durch künstlerischen Eklektizismus, Evolutionismus oder die Ideologie des Diffusionismus.

„Das Verpacken der Geschichte des Tanzes in klare Epochen oder Formen mit Anfang, Mitte und Ende ermöglicht nicht nur die Organisation eines Lehrplans (‚nächste Woche beschäftigen wir uns mit der Romantik‘), sondern verleiht diesen Epochen auch Bedeutung, macht sie in der Spezifizität ihres Charakters eigenständig und in sich geschlossen. Die diesem Verpacken innewohnende Gefahr liegt darin, dass sich Aktivitäten, deren Epochen sich nicht sauber einem der vorgegebenen Etikette zuordnen lassen, überhaupt nirgends zuordnen lassen. Sie werden weniger erforscht, weniger aufgezeichnet, nicht studiert.“ (Carter 2017, Seite 115)

Das „Verpacken“ wird hier sogar noch problematischer, wenn das Zeitgenössische mit dem Zeitgleichen vermischt wird. Wenn man bedenkt, dass der nigerianische Bàtá‑Tanz und der Balletttanz seit etwa derselben Zeit existieren, warum erhält dann der Balletttanz alle Prominenz und gilt als Mutter aller Tänze? Manche argumentieren sogar, dass eine Ballettausbildung einen „universell idealen Körper“ schafft. Ideal für welchen spezifischen Zweck? 
Latitude – Bàtá-Tanz zu Djembe-Trommeln in Budapest Bàtá-Tanz zu Djembe-Trommeln in Budapest | © József Gorácz Warum sollten Bàtá‑Tänzer*innen eine Ballettausbildung benötigen? Bàtá‑Tänze aus der Yòrùbá‑Kultur bringen ihre eigene Ausbildung, ihr eigenes Vokabular und ihr eigenes Körperwissen mit. In welchen Teil dieser sauber „verpackten“ historischen Darstellung passt der Bàtá‑Tanz? Bàtá passt nirgendwo hinein, weil es sich um einen ethnischen Tanz aus einem afrikanischen Land handelt.

Viele afrikanische Gesellschaften griffen auf mündliche Überlieferung als Methode der Wissensvermittlung zurück. Die westliche Idee der Schriftlichkeit unterbreitet und verhängt eine Art greifbaren Beleg für Wissensaufbewahrung und -vermittlung, der für überlegen gehalten wird, während mündliche Überlieferung als flüchtig und veränderlich gilt.  

„Zeig mir afrikanischen Tanz!“

Wissenschaftler*innen wie Purkayastha haben argumentiert, dass Indien eines der beliebtesten Produkte des Orients ist, geschaffen, vermarktet und konsumiert von der westlichen Fantasie. Purkayastha argumentiert weiter, dass indische Tänze von dieser Fantasie entweder akzeptiert oder verworfen wurden, je nachdem, wie erfolgreich sie den westlichen Appetit auf den exotischen Orient anregten. Der afrikanische Kontinent, seine Geschichte und sein Erbe, einschließlich seiner Tänze, scheinen dasselbe Schicksal zu erleiden wie der Orient, da es sich bei beiden um Produkte der westlichen Kolonisation handelt. Unzählige Male habe ich als Nigerianer von meinen internationalen Kolleg*innen den Satz „Zeig mir afrikanischen Tanz“ gehört, in der Regel mit Liebe, Interesse und Begeisterung. Afrikanische Länder sind wie Indien ein Produkt der westlichen Fantasie und werden ebenfalls benutzt, um den westlichen Appetit auf das Exotische anzuregen.

Afrika ist ein Kontinent mit zahlreichen Ländern, zahlreichen ethnischen Gruppen, Kulturen und Tänzen. Die Tatsache, dass Nigeria in drei ethnische Hauptgruppen – Hausa, Igbo und Yoruba – aufgeteilt wurde, weil dies für die britische Kolonie zweckmäßig war, heißt nicht unbedingt, dass es ein Land mit drei ethnischen Gruppen ist. Es gibt mehr als 200 ethnische Gruppen. Die britischen Kolonisator*innen versuchten nur, aus Nigeria ein zweites Vereinigtes Königreich zu machen. Somit kann ich als Nigerianer nicht einmal alle Tänze aus Yoruba sprechenden Regionen lehren oder die Tänze von mehr als 200 ethnischen Gruppen und einer Bevölkerung von mehr als 180 Millionen Menschen, von „afrikanischem Tanz“ ganz zu schweigen, von dem als „Einheit“ gesprochen wird. Wissenschaft und Publikum in Europa müssen sich dieser Verallgemeinerungskrise bewusst sein; so, wie man „europäischen Tanz“ nicht zeigen kann, gilt dies auch für den afrikanischen Kontinent. Es wäre angemessener, Tänze oder Bewegungspraktiken (insbesondere aus Afrika) als ihren jeweiligen Kulturen, einer Evolution oder langjährigen Diffusion entstammend zu sehen, statt das westliche Modell zur Schablone für alles zu machen. Das Phänomen oder der Begriff „afrikanischer Tanz“ existiert nicht. Er ist nichts als ein koloniales Fantasiegebilde.
 
Zitierte Quelle:

Carter, Alexandra: Destabilising the Discipline: Critical debate about history and their impact on the study of dance. Rethinking Dance History, Issues and Methodologies. Nicholas, L. & Morris G. (Herausgebende) 2. Auflage, London, Routledge, 2017, Seiten 115–122.