Großes Geld für kleine Firmen

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Der Hauptsitz der WIR Bank in Basel, Foto: WIR Bank, © WIR Bank Genossenschaft

Eine kleine Geschichte des Geldes – und wie die Schweizer WIR Bank kleine und mittelständische Unternehmen vor dem Wachstumsdruck schützt.

Die WIR Bank ist ein ungewöhnliches Kreditinstitut. Im Gegensatz zu fast allen anderen Banken setzt sie nicht auf immer schnelleres Wachstum. Stattdessen verfolgt sie das Ziel, Unternehmern und ihren Angestellten ein gutes Auskommen zu ermöglichen. Die WIR Bank hält in der Schweiz regionale Wirtschaftskreisläufe in Schwung, indem sie kleinen und mittelständischen Betrieben besonders günstige Finanzierungsbedingungen bietet. Immerhin 50.000 solcher Unternehmen haben hier ein Konto, und auch der Umsatz der WIR Bank ist mit 1,5 Milliarden Franken im Jahr alles andere als marginal.

Das Prinzip von Geld

Um die Bedeutung der WIR Bank und ihres Prinzips zu verstehen, muss man grundsätzlich werden. Betrachten wir deshalb die Funktionsweise des Geldes. Geld ist der Anspruch auf künftiges Haben. Ein Stück Metall, ein Papierfetzen oder eine Zahl an entscheidender Stelle in den Büchern einer Bank sind nichts anderes als Versprechen: Wenn man die hergibt, kann man dafür Kaugummikugeln, einen Computer oder – sollte die Zahl auf dem Bankkonto beträchtlich sein – sogar eine Villa an der Côte d’Azur bekommen.

Geld ist eine überaus praktische Erfindung. Es erspart zum Beispiel der Kaugummikugel-Herstellerin die Suche nach einer Person, die ihr einen Computer für, sagen wir, 58.913 Kaugummikugeln eintauscht. Geld macht es möglich, unterschiedliche Dinge wie Röntgenapparate, Nachhilfestunden, Konzerttickets, den Bau eines Toilettenhäuschens oder eben Kaugummikugeln miteinander zu verrechnen. Das ist das Prinzip von Geld, seit es existiert.

Doch damit die Kaugummiproduzentin ihre Kugeln herstellen kann, benötigt sie nicht nur eine Maschine, die die Kugeln rollt, sondern auch zentnerweise Zucker, Farbstoffe und allerlei Chemikalien. Die kann die Kaugummimacherin aber vor Verkaufsbeginn nicht selbst bezahlen, und so muss sie sich Geld leihen. Das tut sie im sicheren Glauben, dass sie mit den fertigen Kugeln mehr verdienen wird, als sie vorher für Maschine und Zutaten bezahlt hat. Schließlich will sie vom Verkauf der Kaugummikugeln ihre Miete, ihren Kaffee und noch einiges mehr finanzieren. Und warum sonst sollte sie sich die Mühe machen, so viele Kaugummikugeln herzustellen – alle selbst essen kann sie jedenfalls nicht. Die Kaugummiproduzentin braucht also Kapital, sagen wir 100.000 Euro. Sie leiht sich das Geld und hat jetzt 100.000 Euro Schulden – und ihr Gläubiger Anspruch auf eine Rückzahlung von 100.000 Euro.

Nun verleiht normalerweise niemand Geld, ohne zu wissen, dass er später mehr zurückbekommt. Und weil unsere Kaugummiproduzentin die geliehene Summe nur langsam abstottern kann, zahlt sie nicht nur Zinsen, sondern auch Zinsen auf die Zinsen. „Das Geld arbeitet“, heißt das für den Verleiher – aber natürlich arbeitet tatsächlich niemand anderes als unsere Kaugummiherstellerin und ihre Angestellten. Wenn die Kaugummiproduzentin ihren Kredit abgezahlt hat, hat sie dem Verleiher vielleicht 20.000 Euro mehr gegeben, als sie am Anfang geborgt hatte. So wächst der Geldhaufen des Verleihers, denn mit den Zins- und Zinseszinseinnahmen der Kaugummiherstellerin hat er schon lange den nächsten Kredit vergeben.

Kleine Betriebe bleiben auf der Strecke – oder?

Die Kaugummiproduzentin muss also einen deutlichen Gewinn machen, um den Kredit zurückzuzahlen – und dafür hat sie im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder sie verkauft die einzelne Kugel möglichst teuer, oder sie produziert eine große Menge billiger Kugeln. Außer in Nischen setzen sich im Kapitalismus die billigen Produkte durch – und die lassen sich am besten mit möglichst großen Maschinen und möglichst wenig Personal herstellen. Im Extremfall gibt es am Ende nur noch wenige Kaugummihersteller, die die ganze Welt beliefern. Weil solche Großkonzerne als sichere Finanzanlage gelten, bekommen sie von den Banken Kredite zu viel günstigeren Zinsen als kleine Betriebe – und mit ihrem gigantischen Reichtum machen sie immer mehr Geld.

Auf der Strecke bleiben in diesem System häufig die kleinen Unternehmen – und damit auch die Jobs vor Ort. Was aber, wenn die Leute weiter in ihrem Dorf oder in einer Kleinstadt leben wollen? Und wenn es der Kaugummiproduzentin gar nicht darauf ankommt, Weltmarktführer zu werden – sondern sie für sich und ihre Angestellten nur ein anständiges Auskommen erwirtschaften möchte? Was, wenn die Kleinunternehmerin keine Lust hat, ihre Zulieferer und Arbeiterinnen auf enormes Produktivitätswachstum hin zu trimmen, nur um Zins und Zinseszins zu erwirtschaften?

Damit kommen wir endlich zurück auf die WIR Bank. Die Genossenschaftsbank hat ein System entwickelt, das den Wachstumszwang bremst. Sie vergibt Darlehen an kleine und mittelgroße Betriebe, verlangt dafür aber kaum Zinsen. Tatsächlich deckt der Zins fast ausschließlich die Verwaltungskosten eines Kredites. Weiterhin sind die Darlehenskosten für alle Kreditnehmer gleich niedrig – was den Rentabilitätswettlauf ebenfalls bremst. So verschafft die WIR Bank kleinen Unternehmen Entlastung vom Wachstumsdruck und sorgt dafür, dass Firmen und Arbeitsplätze in der Region bleiben. Einzige Bedingung, um Kunde der WIR Bank zu werden: Ein Unternehmen muss klein oder mittelständisch sein und seinen Geschäftssitz in der Schweiz haben. Die Verwaltung der Bank entscheidet in jedem Einzelfall, wer mitmachen darf; so bleiben die Großen außen vor.

Eine Bank, die regionale Wirtschaftskreisläufe fördert

Die WIR Bank unterstützt ihre Kunden außerdem dadurch, dass sie deren Handel untereinander fördert. Bezahlt wird in WIR-Franken, wobei die Guthaben der Kunden ausschließlich im Computer existieren. Praktisch geht das so: Sagen wir, ein Schweizer Kräuterbonbonhersteller braucht einen neuen Büroschrank. Im Internet oder in der Mitgliederzeitung findet er eine Schreinerin, die wie er selbst WIR-Bank-Kunde ist. Bei ihr bestellt der Bonbonfabrikant den Schrank – sagen wir zu einem Preis von 2000 Franken. Nach der Lieferung geht das Konto der Kräuterbonbonfirma 2000 WIR-Franken ins Minus – und das der Handwerkerin 2000 WIR-Franken ins Plus. Das Geld entsteht also in genau dem Moment, in dem realwirtschaftlich etwas passiert. Nun kann die Schreinerin anderswo Holz einkaufen und dafür ihre WIR-Franken einsetzen – oder mit dem Geld eine Party ausrichten. Summa summarum funktioniert das Ganze wie eine Wippe. Das Minus auf dem einen Konto ist irgendwo anders ein Plus.

Zinsen gibt es für die WIR-Guthaben nicht – weswegen die Beteiligten keinen Anreiz haben, das Geld zu sparen. Vielmehr sind sie motiviert, das WIR-Geld schneller loszuwerden als ihre „echten“ Franken, die sie bei einer anderen Bank angelegt haben und für die sie Zinsen bekommen. Auch deshalb suchen sie als Geschäftspartner möglichst oft einen WIR-Partner. Weil es ihnen außerdem verboten ist, ihre WIR-Franken in reale Franken zu tauschen – wer sich nicht daran hält, wird ausgeschlossen –, ist eine Kapitalflucht unmöglich. So unterstützt das System die regionalen Wirtschaftskreisläufe und wirkt dem Prinzip des „immer größer-schneller-arbeitsplatzärmer“ entgegen. Auch kann keine Finanzblase entstehen, weil ja ausschließlich realwirtschaftliche Aktionen abgerechnet werden können: Hier arbeitet nicht das Geld, sondern ausschließlich die Menschen.

In der gegenwärtigen Niedrigzinsperiode erscheint die Arbeitsweise der WIR Bank zwar weniger spektakulär. Doch als 2008 in der Finanzkrise allenthalben von Kreditklemme die Rede war, erlebte sie einen Boom. Und das könnte sich bald wiederholen – nicht nur aufgrund der Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Wenn Transportkosten immer weiter steigen und das Turbowachstum aufgrund von Ressourcenmangel schlicht an seine Grenzen stößt, dann schlägt die Stunde regionaler Wirtschaftskreisläufe – und damit möglicherweise auch die des WIR-Bank-Systems. Im Grunde reduziert die WIR Bank Geld auf das, was es jahrtausendelang war: Eine überaus praktische Erfindung, um Waren und Dienstleistungen miteinander zu verrechnen.

Annette Jensen
ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit und sozialwirtschaftliche Transformation. Sie veröffentlichte zuletzt gemeinsam mit Ute Scheub „Glücksökonomie – Wer teilt, hat mehr vom Leben“.

Juli 2014
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