Zwischen Urlaub und Alltag

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Der Lugsteinhof in Altenberg. Das Hotel liegt auf etwa 900 Meter Höhe unmittelbar an der deutsch-tschechischen Grenze. Foto: © privat

In der „Erlebnisheimat Erzgebirge“, wie sie der regionale Tourismusverband bewirbt, musste sich vor allem das Hotel- und Gaststättengewerbe seit der Wende immer wieder neu erfinden. Wie lebt es sich hier, zwischen Urlaub und Alltag? Jochen Löbel leitet ein Hotel an der deutsch-tschechischen Grenze. Politische Entscheidungen in Berlin, Prag und Brüssel treffen ihn unmittelbar – im Positiven wie im Negativen.

Seit Dezember 2007 ist die Tschechische Republik ein Mitglied des Schengener Raums. Die Grenze ist weg, Europa rückt zusammen, Deutschland und Tschechien werden enge Nachbarn. Doch was aus Nachrichtenmeldungen und Politikermündern abstrakt klingt, ist erst direkt im Grenzgebiet konkret erlebbar. „Es ist ein Hotel an der Grenze, die Grenze spielt also immer eine Rolle!“, stellt Jochen Löbel klar.

Der Manager des Lugsteinhof in Altenberg leitet das Hotel bereits seit 20 Jahren – und hat in dieser Zeit viel durchgemacht. Auf 900 Meter Höhe liegt der circa 100 Zimmer umfassende Gebäudekomplex tief eingeschneit zwischen Tannen und Hügeln. Man fühlt sich fernab von allem, behütet, in ein friedliches Wintermärchen versetzt. Doch seit 1990 wurde das tschechisch-sächsische Grenzgebiet von vielen historischen Ereignissen und politischen Beschlüssen erschüttert, geschüttelt und durchgerüttelt – die Wende, der EU- und Schengenbeitritt, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Mindestlohn.

„Ich bin an dieser Grenze aufgewachsen, mein Vater stammt von der anderen Seite. Ich hatte dorthin also immer Kontakte. Die waren bis 1989 sehr intensiv. Doch dann, mit der Wiedervereinigung, kam eine gewisse Kälte, die sicher auch was mit Neid der Tschechen auf die Ostdeutschen zu tun hatte“, glaubt der 58-Jährige.

Freiheit, Nostalgie und Neubeginn

Nicht nur die deutsch-tschechischen Beziehungen, auch den Tourismus traf das Ende der DDR hart. Noch heute lassen die Ruinen einstiger Hotels erahnen, welche Folgen die neue Reisefreiheit für das Tourismusgewerbe des Erzgebirges hatte. „Es war nachvollziehbar, dass die Leute in den ersten fünf bis acht Jahren nach der Wende Lust hatten, die Welt kennenzulernen“, sieht Löbel ein. „Aber Freiheit ist nur die eine Seite, man muss sich die Freiheit des Reisens ja auch leisten können. Dann kam uns außerdem zugute, dass eine Rückbesinnung der Ostdeutschen auf ihre traditionellen Urlaubsgebiete einsetzte.“ So zieht der Lugsteinhof unter anderem nostalgische Senioren an, die vor Jahrzehnten zu Mutter-Kind-Kuren hierher kamen.

Heute ist der Parkplatz vor dem Hotel voll, im Eingangsbereich machen sich fröhlich schwatzende Rentner für den Tagesausflug nach Prag bereit, ab und zu durchqueren Sportler in Skimontur oder eingewickelt in ein Badehandtuch die Lobby. Zu dem erneuten Aufschwung trug auch der Beitritt Tschechiens zur EU 2004 bei, denn dieser öffnete Fachkräften aus dem Nachbarland die Hoteltür.

„Obwohl noch eine gewisse Distanz herrschte, fing mit dem EU-Beitritt die wichtigere Phase der Zusammenarbeit an“, urteilt Löbel rückblickend. In enger Kooperation mit der Hotelfachschule im rund 20 Autominuten entfernten Teplice bietet der Lugsteinhof seither Praktika und Ausbildungsplätze für Deutsch sprechende junge Tschechen an. So kann er nicht nur den Fachkräftemangel auf deutscher Seite ausgleichen, sondern auch mit Arbeitsplätzen einen Anreiz schaffen, in dieser von Abwanderung geplagten Region zu bleiben.

Bis Deutschland und Tschechien naht- und grenzenlos zusammenwuchsen, sollten nach der EU-Osterweiterung allerdings noch weitere drei Jahre vergehen. „Aus meiner Sicht war der Schengenbeitritt Tschechiens ganz wichtig. Wir erinnern uns gerne daran, weil im Dezember 2007 die Bürgermeister von Altenberg und Dubí den Schlagbaum symbolisch mit einer Säge durchtrennten. Wir haben in dieser Nacht das Catering gemacht. Das war eine tolle Stimmung“, erinnert sich Jochen Löbel an die Nacht des 20. Dezember 2007. „Es gab auch drei, vier, die das verurteilt haben, aber für die vierhundert, die dort waren, war das ein Anlass zum Feiern.“

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Jochen Löbel: „Was ein bisschen fehlt, sind die tschechischen Gäste.“ Foto: © privat

Die offene Grenze, ein voller Erfolg?

Auch Jochen Löbel hatte allen Grund zur Freude, denn seitdem auch Tschechien ein Mitglied des Schengener Raums ist, wurde für ihn alles viel unkomplizierter – „Eigentlich gar nicht mehr kompliziert!“ Er profitiert nicht nur von motivierten tschechischen Arbeitskräften, sondern auch von der Nähe zu touristischen Zielen wie Prag, Mělník oder Karlsbad (Karlovy Vary). Städtetrips und geführte Wanderungen beiderseits Seiten der Grenze gehören zu den beliebtesten Angeboten des Lugsteinhofs. Genutzt werden diese allerdings zum Großteil von deutschen Urlaubern. „Was ein bisschen fehlt, sind die tschechischen Gäste. Ich denke, finanziell können sie sich das durchaus leisten, aber sie fahren zum Skifahren mit Übernachtung lieber nach Österreich, als unmittelbar vor der Haustür zu bleiben.“ Zu einem Tagesausflug in die Schwimmhalle des Hotels oder für eine Langlauftour überqueren die tschechischen Nachbarn laut Löbel allerdings gerne und häufig die Grenze.

Doch trotz der Vorteile, die ihm die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Abschaffung der Grenzkontrollen verschaffen, trägt der Hotelmanager keine rosarote Brille. So vermutet Löbel, dass das Drängen der jungen, mobilen und flexiblen Fachkräfte nach Deutschland binnen kurzer Zeit zu einem erheblichen Fachkräftemangel in Tschechien führen wird.

Umgekehrt ist für seinen Betrieb das Preisgefälle zwischen den beiden Ländern eine große Herausforderung. Zum Beispiel kostet das Feierabendbier in der Hotelbar 3,20 Euro, 800 Meter östlich umgerechnet nur noch 80 Cent. Reglements wie etwa das Nichtraucherschutzgesetz oder der Mindestlohn verschärfen dieses Ungleichgewicht im wirtschaftlich eng verwobenen Grenzgebiet. Als Unternehmer kritisiert Löbel: „Wir sind eine EU, aber durch staatliche Regulierung kommt es nicht zu einer Angleichung, sondern zu einer Differenzierung, die wir kaum bewältigen können.“

Im „zweiten Leben“ vorsichtiger

Damit der Lugsteinhof trotz Entvölkerung, finanziellen Krisen und Fachkräftemangel überleben konnte, musste Löbel viel Zeit und Herzblut investieren, die Arbeit vor alles andere stellen. „Das hat dazu geführt, dass sich meine erste Frau von mir getrennt hat. Im ‚zweiten Leben‘ ist man dann natürlich vorsichtiger.“ Seine jetzige Frau arbeitet im gleichen Metier. „Sie weiß also, was Dienstleistung bedeutet.“

Doch weshalb stellt Löbel sich all diesen Herausforderungen, die überwunden und Opfern, die gebracht werden müssen? „Das Erzgebirge kann seinen guten Ruf als Urlaubsgebiet nur behalten, wenn Betriebe wie unserer überleben. Ich möchte, dass dieser Standort seine Drei-Sterne-Klassifizierung behält, zielstrebig ausgebaut wird und die Arbeitsplätze erhalten werden. Sie können die Leute nur hier halten, wenn Sie ihnen eine Beschäftigung bieten. Das lag mir von Anfang an am Herzen.“

Judith Fliehmann

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
April 2015


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

    Direkt vor der Haustür – Offene Grenze 10 Jahre später

    Judith Fliehmann arbeitet seit September 2014 im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes bei dem Verein Antikomplex in Prag. Die Auseinandersetzung mit deutsch-tschechischen Themen steht hierbei im Mittelpunkt. Während des Projektes „Direkt vor der Haustür – Offene Grenze 10 Jahre später“ untersuchte sie die Zusammenhänge des demografischen und des wirtschaftlichen Wandels im Grenzgebiet. Eines der Ergebnisse ihrer Recherche ist der vorliegende Artikel.

    Anlässlich der zehnjährigen EU-Mitgliedschaft Tschechien rief die Brücke/Most-Stiftung in Kooperation mit dem Verein Antikomplex das Projekt „Direkt vor der Haustür – Offene Grenze 10 Jahre später“ ins Leben. Studentinnen und Studenten der TU Dresden, der TU Chemnitz, der Universität Ústí nad Labem sowie der Universität Liberec setzten sich während des Projekts kritisch mit Geschichte und Gegenwart der Grenzregion Elbe-Labe auseinander. Wichtige Programmpunkte bildeten politisch-historische Vorträge, kulturelle Begegnungen sowie Exkursionen ins Grenzgebiet. Begleitet von Mediencoaches erarbeiteten die Projektteilnehmer/innen multimediale Präsentationen zu ihren individuellen Fragestellungen. Diese sind unter anderem im Internetportal Grenzgeschichten.net zu sehen.

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