Mehtap Baydu in der Kulturakademie Tarabya
„Ein groteskes Spiegelbild der digitalen Kommunikation“

Mehtap Baydus Performance-Charakter „Osman“ vor einem Herren-Friseur in Tarabya (Istanbul).
Mehtap Baydus Performance-Charakter „Osman“ vor einem Herren-Friseur in Tarabya (Istanbul). | Foto (Ausschnitt): Ünsal İçöz

Die Performancekünstlerin Mehtap Baydu aus Bingöl ist zurzeit Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Im Interview mit „Goethe aktuell“ erzählt sie, wie die Corona-Pandemie ihr Stipendium beeinflusst, wie sie mit einem Schnurtelefon das Chaos der Social-Media-Plattformen imitiert und wie ihre Kunstfigur „Osman“ die Corona-Krise erlebt.

Von Pia Entenmann

Sie haben Ihr Stipendium an der Kulturakademie Tarabya im Februar begonnen – dann brach Mitte März die Corona-Krise aus. Warum sind Sie trotzdem in Istanbul geblieben und wie sieht Ihr Alltag aus?

Obwohl Tarabya ein Teil Istanbuls ist, der größten Stadt Europas, hat man hier ein wenig das Gefühl, an einem Urlaubsort zu sein. Es ist in Tarabya mit Sicherheit angenehmer als im Zentrum der Stadt, die Auflagen der sozialen Isolation zu erfüllen. Das Stipendium sowie die Lage und Beschaffenheit der Unterkunft ermöglichen es einem, die künstlerischen Aktivitäten der Stadt und ihre komplexe Struktur sowie ihr untrennbar mit dieser Struktur verbundenes Durcheinander nicht als verbindlichen Zwang annehmen zu müssen. Vielmehr verwandeln sie all dies in einen Raum, der freiwillig erschlossen werden kann.

Die Kulturakademie Tarabya bietet mit ihrem weitläufigen Gelände, ihren Räumlichkeiten sowie Grünflächen eine ruhige Arbeitsatmosphäre, in der wir nachbarschaftliche Beziehungen zu Künstler*innen unterschiedlicher Sparten aufbauen können. Für mich ist es auch eine völlig neue Istanbul-Erfahrung, in einer Stadt, in der ich meine Kunstprojekte auf den Straßen, in Cafés und in Friseursalons verwirklichen wollte. Stattdessen nehme ich plötzlich in einer Zeit der mehrheitlich digitalen sozialen Kontakte aus einem schönen Winkel der Stadt an diesem Netzwerk teil.

Vor kurzem habe Sie eine „Schnurtelefon-Performance“ in Tarabya initiiert, um die Möglichkeiten analoger Kommunikation in der von digitalen Formaten dominierten Corona-Zeit zu reflektieren. Was war Ihre Idee dahinter – und wie ist die Umsetzung gelaufen?

Digitalisierte Kommunikationsmedien und Social-Media-Plattformen spielen eine immer dominanter werdende Rolle bei der Vereinfachung von Kommunikation, der Verbreitung von Wissen und dem Teilen von Meinungen. Sie leisten Unterstützung bei professionellen und sozialen Interaktionen. Allerdings tummeln sich in der Online-Welt vielfältige, widersprüchliche und oftmals ungesicherte Informationen, die dafür sorgen, dass diese Plattformen sowohl zum Wohl der Öffentlichkeit als auch zu Chaos und Unsicherheit beitragen können. Dadurch, dass auch Angehörige medizinischer Berufe und Regierungen regelmäßig soziale Medien nutzen, um wichtige Informationen über das Virus zu verbreiten, haben sich diese Möglichkeiten im Laufe der Covid-19-Pandemie noch deutlicher herauskristallisiert.

Ein analoges Kommunikationsnetz im Park der Kulturakademie Tarabya.
Ein analoges Kommunikationsnetz im Park der Kulturakademie Tarabya. | Foto (Ausschnitt): Ünsal İçöz

„Schnurtelefon-Netz/Karton Bardak Telefon Ağı“ ist eine Performance, die wir in Tarabya umgesetzt haben und die das digitale Kommunikationsnetz vereinfacht und in eine analoge Form überführt. Im Zuge dieser Vereinfachung fungiert die unklare Tonübertragung des Schnurtelefon-Netzes als Katalysator zur Beschleunigung der Desinformation. Selbst kurze Sätze haben sich nach einigen Übertragungen teils unwillentlich, teilweise aber auch genau gegenteilig durch die bewusste Nutzung der Ungenauigkeit umgestaltet, verändert. Die Performance nahm ihren Anfang als verspielte Fiktion und entwickelte sich zum grotesken Spiegelbild der gegenwärtigen digitalen Kommunikation.

Eigentlich hatten Sie für Ihre Stipendienzeit geplant, Ihren Performance-Charakter „Osman“ erstmals in die Türkei zu holen. Wer ist Osman – und wie erlebt er die Corona-Krise?

Der Performance-Charakter, den ich Osman genannt habe, repräsentiert die als Gastarbeiter bezeichnete erste Arbeitergeneration, die in den 1960er-Jahren nach Mitteleuropa gekommen ist. Osman ist ein fiktionaler Charakter, den ich aus Schwarz-Weiß-Bildern ersonnen habe, die sein enges soziales Umfeld reflektieren; ein Umfeld aus Männern, eingeengt zwischen Arbeitsstätte und Arbeiterwohnheim.

Hätte Osman zum Arbeiten nicht nach Deutschland gehen können, es wäre sein wahrscheinliches Los gewesen, nach Istanbul zu kommen, der Stadt mit den höchsten Zuwanderungszahlen der Türkei. Auch hier in Istanbul wäre er anfangs ein Arbeitsmigrant gewesen, der seine Familie nicht hätte nachkommen lassen können.

Osman ist nun nach Jahren zurückgekehrt und versucht, sich in Istanbul ein neues Leben aufzubauen. Natürlich ergeht es ihm nicht anders mit der Bürokratie als den echten Menschen und er benötigt neue Papiere.

„Osman“ beim Herren-Friseur – mit Mundschutz ist dies nun wieder möglich.
„Osman“ beim Herren-Friseur – mit Mundschutz ist dies nun wieder möglich. | Foto (Ausschnitt): Ünsal İçöz

Osman möchte – wie jeder andere auch – im Kaffeehaus sitzen und Backgammon spielen, Tee trinken und über die Lage im Land diskutieren, er möchte freitags in die Moschee, seinen Wohnsitz beim Ortsvorsteher anmelden, sich beim Arbeitsamt um einen Job bemühen und vor allem versuchen, zu verstehen, in welcher Lage sich das Land befindet.

Mit Beginn der Pandemie jedoch hat Osman sich in Quarantäne begeben. Auch er muss sich an die Regeln der Kontaktbeschränkung halten. Obwohl Osman ein Kunstprojekt ist, ist er von der Pandemie genauso betroffen wie jeder reale Mensch.

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