Leipziger Buchmesse: „Daumenregeln und aufgeschürfte Knie. Worüber schreibt die kommende Generation?“
„Es ist für mich schwer, mich selbst zu verorten“

“Rules of thumb and skinned knees. What is the up-and-coming generation writing about?” -at the Leipzig Book Fair.
“Rules of thumb and skinned knees. What is the up-and-coming generation writing about?” -at the Leipzig Book Fair. | Photo: Stefan Hoyer

Die serbische Theaterautorin Iva Brdar und der kroatische Dramatiker und Autor Dino Pešut diskutieren mit dem Präsidenten des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann auf der Leipziger Buchmesse über Zensur, was man beim Trampen lernt und was einen osteuropäischen Autor in Berlin depressiv macht.

Von Annette Walter

Ein Mann, der sich einen Daumen abgehackt hat: Auf diesen skurrilen Kerl treffen Ana und Monica, die beiden Heldinnen aus Iva Brdars „Daumenregeln“. Das Theaterstück ist ein surreales Roadmovie, in dem zwei Frauen per Anhalter von einer Kleinstadt in Schweden bis an die bulgarische Grenze trampen. Dabei stellen sie für sich selbst sogenannte „Daumenregeln“ auf, sie zelebrieren die Reise wie einen Wettbewerb: Geld ist tabu, übernachtet wird im Zelt und sobald ihnen eine Situation mulmig wird, flüchten sie. Brda sieht ihr Theaterstück als Statement zur aktuell disparaten Situation in Osteuropa.
 
Als Seelenverwandter von Ivas Heldinnen offenbarte sich Klaus-Dieter Lehmann, der selbst als junger Mann bis nach Marokko und Jugoslawien trampte: „Deutschland war wegen der Nazi-Verbrechen aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen, aber wir jungen Menschen wollten diese Situation ändern. In Frankreich wurde ich als ‚Boche’ tituliert.“ Aber es gab auch die Chance für persönliche Begegnungen und Differenzierung: „Die Einheimischen haben zwischen Menschen und Regierungen unterschieden.“

Dino Pešut, Foto: Stefan Hoyer
Dino Pešut | Foto: Stefan Hoyer

„Die Perspektive von unten ist reichhaltiger“

Dino Pešut hat seinen Roman „Aufgeschürfte Knie“ in Berlin angesiedelt, denn dort lebt er selbst: Es geht um einen kroatischen, in Berlin lebenden Künstler, der eigentlich Schauspieler ist und sich als Illustrator von Kinderbüchern durchschlägt, diverse homosexuelle Beziehungen eingeht und schließlich in einen Amoklauf verwickelt wird. Pešut hat viele autobiografische Erfahrungen einfließen lassen. Wie definiert er seine Position als kroatischer, queerer Autor in Berlin? „Es ist für mich schwer, mich selbst zu verorten. Berlin ist das politische und kulturelle Zentrum der ganzen westlichen Welt und es ist nicht einfach, sich dort zu positionieren.“
Auf die Frage von Moderator Jürgen Jakob Becker vom Literarischen Colloquium Berlin, ob er sich als Autor in Berlin und Zagreb anders fühlen, sich in Berlin gar als No-Name-Autor wahrnehmen würde, erwidert Pešut, dass er sich durchaus unterschiedlich in beiden Städten wahrnehme, denn „in erster Linie bin ich ein Migrant aus einer niederen mittleren Klasse, der nach Berlin gekommen ist. In Zagreb gehöre ich dagegen zur Mittelklasse.“ Diese „Klassenabsenkung“ könne einen durchaus depressiv machen, aber „die Perspektive von unten ist reichhaltiger, um sich als Schriftsteller zu betätigen.“ Brda sieht das ein wenig anders: „Ich bin nicht unten oder oben, eher in der Mitte.“
 
Sehen Brdar und Pešut in Kroatien und Serbien Einschränkungen für ihre Freiräume? „Formell existiert keine Zensur, wobei ich Glück mit meinem Herausgeber hatte, aber als Autor unterliegt man dem Diktat des Marktes, deshalb finde ich es schwer, von Schriftstellerautonomie zu sprechen“, sagt Pešut. Brdar sieht in Serbien keine offene Zensur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, aber eine andere Art von Zensur etwa im Theaterbetrieb, der sich finanziell an den Staat anlehne und so durchaus in Abhängigkeiten verstrickt sei.

Iva Brdar
Iva Brdar | Foto: Stefan Hoyer

Schutzräume für Autorinnen und Autoren

Pešut und Brda sind wie ihre Romanhelden Suchende, die ihre Heimat verlassen haben, um sich als Autoren in Berlin niederzulassen. Doch man könne nicht riskieren, dass alle Künstlerinnen und Künstler, die neu denken, abwandern, um Berlin zu bereichern, betonte Lehmann. Das Goethe-Institut versucht deshalb mittlerweile, gezielt in kleineren Städten und abgelegenen Orten einen Diskurs zu schaffen, und will insbesondere in Osteuropa Schutzräume für verfolgte Autorinnen und Autoren gewährleisten. Beim Projekt „Wagnis der Erinnerung“ reisten etwa zwei Dutzend Autorinnen und Autoren unter anderem aus dem Kosovo, Albanien und Slowenien durch die Länder des Balkans. So schaffe man einen Diskurs in Ländern, die in „Sprachlosigkeit“ verfallen seien.

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