Thomas Hummitzsch über „Alltagsspionage“
Berlin ohne Gesicht und Geschichte

Ulli Lust: Alltagsspionage © Ulli Lust (Ausschnitt)

Die in Österreich geborene Wahlberlinerin Ulli Lust hat in ihren ersten Jahren Berlin im Wandel eingefangen und hat sich dorthin begeben, wo Menschen orts- und weltvergessen der reinsten aller Lüste frönen.

Dass die in Wien geborene Comiczeichnerin Ulli Lust in Berlin gelandet ist, ist einem Fehler zu verdanken. Einer der Verlage, der in den Neunzigern ihre gezeichneten Kinderbücher verlegt hat, schrieb fälschlicherweise in sein Programm, dass sie in Berlin studiert hätte. „Die falsche Angabe war mir unverhältnismäßig unangenehm, ich litt darunter, nicht studiert zu haben. Deshalb beschloss ich kurzerhand, nachträglich nach Berlin zu ziehen und es dort mit dem Kunststudium zu versuchen“, erzählt Lust Jahrzehnte später in einem Café im Prenzlauer Berg, wo sie seit Jahren wohnt.

Damals, Mitte der neunziger Jahre, kam sie nach Berlin und schrieb sich an der Universität der Künste als Gasthörerin ein. Für Lust eine Offenbarung, denn nach Jahren der autodidaktischen Arbeit im stillen Kämmerlein wird es nun dialogisch.

„In der Uni redet man über die Arbeiten und alle interessieren sich nur für die Qualität des Werks, und nicht, ob es sich verkauft oder nicht. Ich bin ja quasi als Autodidakt direkt eingestiegen über die Kinderbuchillustration – das war auch schön –, aber das Studium habe ich wirklich gebraucht. Ich habe richtig viel gelernt. Ich habe vorher zum Beispiel keine Gesichter zeichnen können. Während des Studiums aber habe ich täglich in der U-Bahn Gesichter gezeichnet. Aus dieser Zeit kommt wohl auch mein Hang zur Alltagsbeobachtung. Damals hatte ich das erste Mal die Idee, Reportagen aus dem Alltag in Berlin zu zeichnen. Und mit der Zeit habe ich entdeckt, dass das mein Ding ist. Das hat viel auch mit Berlin zu tun“, erinnert sie sich.

Nach Jahren der Gasthörerschaft wechselt sie von der Westberliner UdK zur Kunsthochschule Weißensee im Osten der Stadt. Dort studiert sie mit vielen derjenigen, die jetzt Rang und Namen haben: Mawil alias Markus Witzel, Kai Pfeiffer, Tim Dinter, Jens Harder. Mit ihnen gründet sie die Comicgruppe Monogatari, die schon während des Studiums gemeinsam Comicreportagen herausbringt. „Alltagsspionage“ heißt einer dieser Bände, der 2001 erschienen ist. Ulli Lust hat darin zwei gezeichnete Geschichten veröffentlicht. Sie zeigen, wie sich die Wienerin damals die Stadt mit all ihren Befremdlichkeiten angeeignet hat: zeichnend.

Eine dieser Geschichten trägt den Titel „Erlebnis Spass Center“ und porträtiert das Gesundbrunnen-Center, das etwa 500 Meter Luftlinie von der historischen Bornholmer Brücke entfernt liegt, wo am Abend des 9. November 1989 die Grenze als erstes dem Druck der in Massen herbeiströmenden Menschen nicht mehr standhielt. Doch davon ist hier nichts zu sehen oder zu spüren. Denn das Center ist erst in den Jahren nach der Maueröffnung entstanden, steht quasi auf dem Mauerstreifen.

Ulli Lust fängt diesen Konsumtempel als dystopischen Nicht-Ort ein, der kein Gesicht, aber viele Pickel hat. Das Gesundbrunnen-Center – eine der hässlichsten Perlen unter Berlins Shoppingmalls – ist ein Paradebeispiel dafür, dass im Kapitalismus nichts zusammenpassen muss, solange das Geld genug Anziehungskraft entwickelt.

Lust bebildert die skurrile Mischung aus sündigen Dessous-Shops und Herreneinrichter, aus Elektromarkthölle und Kleintierhandlung, aus Hausratsparadies Supermarkt, Fressmeile und Center-Pachttoilette in brutal ehrlichen und wilden Bildern. Aus dem Off erschallt ein vielstimmiger Klangteppich, dessen Stimmen ganz dezidiert nicht die Geschehnisse kommentieren. Da plaudern Center-Senioren über die verstorbenen Gatten und ihre gesundheitliche Beschwerden, Mütter beklagen sich über undankbare Kinder und die schlechte Erziehung der anderen und Altberliner Schnauzbartträger lachen beim Bier über Gummizellen, während der Blick des Betrachters durch die Einkaufsmall streift.

Einkaufszentren wie das Gesundbrunnen-Center sind in den Neunzigern zuhauf in Berlin entstanden. Allein zwischen dem gleichnamigen S-Bahnhof und dem sechs Haltestellen weiter entfernten Center am Frankfurter Tor liegen noch drei weitere dieser anonymen Konsumwüsten. Wie Ufos sind sie am S-Bahn-Ring gelandet, haben die Überreste der DDR im wahrsten Sinne des Wortes plattgemacht und ausradiert und im Ostteil der Stadt einen geschichts- und gesichtslosen Gürtel geschaffen. Sie sind nicht mehr als Orte der Entfremdung. Weiter von sich selbst und der echten Welt da draußen können die Besucher in den tiefen Gräben dieser künstlichen Welten gar nicht sein. Deshalb gibt es bei Lust auch niemanden, der den Blick des Lesers an die Hand nimmt und durch dieses Chaos führt. Hier darf und muss sich jeder selbst verlieren.

Woher das Prinzip der hässlich-bunten Shoppingwelt kommt, macht Lust in einer zweiten Comicreportage in diesem Band deutlich. Da fängt sie das Leben an jener Strecke ein, wo einst die Kurfürsten vom Berliner Schloss zum Jagdschloss Grunewald entlangritten. Heute geht es beim Kurfürstendamm „um das Eine. Das pure Vergnügen, die reinste aller Lüste: Einkaufen“, wie es da heißt. Da ist von „unverschnittenem Grauen“ die Rede, dutzende Fratzen blicken lüstern aus den Seiten, als blickte einen im Kaufrausch das Spiegelbild im Schaufenster an.

„Hier fehlt es nicht an potentiellen Seelenspiegeln. Sieh in den brechenden Blick der wie erschossen liegenden Puppen im Ka De We-Schaufenster“, heißt es da. Von Kurt Schwitters „Kathedrale des erotischen Elends“ geht es gen Kranzler-Eck, wo reife Westberliner Damen in Erinnerungen schwelgen, weiter Richtung Schaubühne, vorbei an den exklusiven Boutiquen und edlen Galerien bis man kurz vor dem S-Bahnhof Halensee an einem Bowlingcenter ankommt, dass es schon längst nicht mehr gibt.

Das kapitalistische Chaos, das sich im Gesundbrunnen-Center auf drei Etagen erstreckt, erscheint hier etwas geordnet. Es ist aufgereiht wie auf einer der Perlenketten, die man auf den exklusiven Metern des Kurfürstendamms für vier- und fünfstellige Beträge erwerben kann. Der Effekt ist aber derselbe: auch der Kudamm ist ein gleichermaßen gesichts- wie geschichtsloses Artefakt Berlins, da ändert auch der hohle Zahn der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wenig.

Bis heute zeichnet Lust Comic-Reportagen, mal direkt aus dem Berliner Kit-Kat-Club, einem einschlägigen Treffpunkt für Hedonismus und freie Liebe, dann vom Kollwitzplatz, dem spießigsten Open-Air-Helikoptermüttertreff Berlins. Einige davon erscheinen in Zeitungen und Zeitschriften, andere im feministischen Spring-Magazin, der inzwischen wichtigsten Comicanthologie Deutschlands. Nebenher gründet sie noch „electrocomics“, eine Onlineplattform für Webcomics, wo nicht nur der zeichnende Nachwuchs eine Bühne findet, sondern Lust auch viele ihrer Berlin-Strips und -Stories, die in all den Jahren entstanden sind, veröffentlicht hat.

Inzwischen weiß sie, dass in Berlin alles möglich ist. Zu den Möglichkeiten zählt auch, dass eine unstudierte, aber überaus talentierte junge Österreicherin hier ihr Zuhause findet. Und nach über zwanzig Jahren in Berlin muss sie zugeben: „Irgendwie bin ich schon eine echte Berlinerin geworden.“

ALLTAGSSPIONAGE, COMICREPORTAGEN AUS BERLIN
Ulli Lust, Kai Pfeiffer, Kathi Käppel, Tim Dinter, Jens Harder und Markus Mawil Witzel. 128 Seiten, 15 x 22cm, Offset SW, 2 . Auflage, Monogatari 2001, 12,50 EUR.

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