Jonas Engelmann über "Alltagseindrücke aus Mexico City“
Für jeden eine Kathedrale. Fragmente aus Mexiko

Mawil: Alltagseindrücke aus Mexico City | Friedhof © Mawil (Ausschnitt)

Über dreißig Seiten hinweg zieht sich das zentrale Tischtennismatch in Mawils autobiografisch angehauchter Graphic Novel „Kinderland“, die 2014 erschien und vom Ende der DDR und einem Neuanfang aus Kinderperspektive erzählt. Die Spannung des Duells, das von zahlreichen Cliffhangern begleitet wird, mündet in der Auflösung jeglicher Begrenzungen: Keine Panelgrenzen können mehr die Geschichte aufhalten und einfangen, persönliche und politische Grenzen existieren am Ende des Buches nicht mehr. Was tut ein in dieser Weise auf Dynamik setzender Zeichner wie Mawil, wenn er im Auftrag des Goethe-Instituts nach Mexiko-Stadt reist, und keine actiongeladene Story erzählen, sondern stattdessen Alltagseindrücke zu Papier bringen will?
 

Er verfrachtet die Cliffhanger einfach auf eine andere Ebene: In der ersten seiner insgesamt neun veröffentlichten Doppelseiten seines Skizzenbuches findet die Spannung ausschließlich auf den Bildschirmen des Lufthansa Media Center statt. „Boom“, „Blam“, „Showdown“, „Cliffhanger Action“ heißt es dort erläuternd zu den Filmen. Nur ein Bildschirm bleibt schwarz: der Bildschirm des Künstlers, der, statt sich der medialen Bilder zu ergeben, über diese Bilder nachdenkt. Als Gegenentwurf zu den medialen Bildern entfaltet er auf den folgenden Skizzen eigene, subjektive Bilder des Landes, das zu entdecken er drei Wochen Zeit hat. Das Klischee etwa der hektischen Millionenstadt Mexiko-Stadt, der Gewalt und Ruhelosigkeit lässt Mawil im Flugzeug zurück: „Action“ gibt es nur im Lufthansa Media Center.
 
Die erste Annäherung an die Stadt findet über das Essen statt. Irgendwo im Hintergrund zeichnen sich farbenfrohe Gebäude ab, dröhnt Verkehrslärm zum Zeichner herüber, im Zentrum stehen dagegen die für ihn unbekannten Speisen: „Bohnenpaste?“, „Vegitofu?“, „gelb, klein, kernig, eingelegt?“ Viele Fragezeichen, die ihn willkommen heißen. Die warmen Farben des Essens spiegeln sich in den Farben der Gebäude. „Welcome to Mexico City“, nun geht es an die Erkundung der Stadt. Die dritte Skizze zeigt eine Straßenszene, die so auch anderswo auf der Welt festgehalten werden könnte, sei es in Spanien, Israel oder Algerien.
 
Die Hitze ist zwischen den Blau- und Grüntönen förmlich spürbar, die Palmen werfen nur spärliche Schatten, kein Mensch ist auf der Straße zu sehen – eine unerwartete Perspektive auf eine der größten Städte der Welt. Lediglich ein verlassener Polizeiwagen mit angeschalteter Sirene verweist auf ein Dahinter, auf ein Alltagsleben, das trotz der Hitze stattfindet.

Weiter geht es mit politischen Fragen: Wer hat das Monopol auf Wasser? Den Verkauf von Trinkwasser in Flaschen teilen sich, so Mawil, die Konzerne Danone, Pepsi, Coca-Cola und Nestlé. In einer Stadt wie Mexiko-Stadt mit 23 Millionen Einwohnern und einem täglichen Wasserverbrauch von 300 Litern pro Person ist die Wasserversorgung ein Thema mit politischer Sprengkraft. Mawil kann diesen gesellschaftlichen Konflikt in seinen Skizzen nur anreißen.
 
Leben und Tod stehen sich in der nächsten Skizze gegenüber: auf der einen Seite ein Sportgerät im öffentlichen Raum, das dank der lachenden Sonne am Himmel derzeit nicht genutzt werden kann, daneben Eindrücke von einem Friedhof, pompöse Grabanlagen, die bereits andeuten, welche zentrale Rolle die Religion in Mexiko einnimmt. „Für jeden eine kleine Kathedrale“ fasst Mawil auf der nächsten Skizze seinen Friedhofbesuch zusammen. 95 Prozent der Mexikaner sind streng katholisch und dies trotz des mit der mexikanischen Revolution durchgesetzten Abbaus der Privilegien der Kirche: Sie darf keinen Besitz erwerben und kein Gotteshaus ohne staatliche Zustimmung bauen. Dennoch ist der Friedhof dominiert von Grabkapellen und Mausoleen, in denen die Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben.
 
Danach sind es wieder verlassene Straßen, in denen sich der Besucher wiederfindet: „Sonntags sind die Straßen leer und das Internet im Hotel überlastet. Da muss man zeichnen gehen.“ Zum ersten Mal schreibt Mawil sich hier selbst als Besucher, fremder Beobachter ein, der nach seinem Spaziergang ins Hotel zurückkehrt. Zweigeschossige bunte Häuser säumen die Straße, die der Zeichner von seinem Schattenplatz aus beobachtet, Telefon- und Stromkabel ziehen sich vor dem blauen Himmel entlang.
 
Den Status als Besucher, als Tourist des Landes, wird Mawil auch in den folgenden Skizzen stärker in den Fokus rücken. Sei es beim Shoppen von Souvenirs oder dem Besuch eines Wrestling-Spektakels, das Mawil zusammen mit Mitarbeitern des Goethe-Instituts besucht. „Lucha Libre“ nennt sich die mexikanische Variante des Sports, bei der die Protagonisten Masken tragen und oftmals in Teams gegeneinander in den Ring steigen. 2018 wurde Lucha Libre als immaterielles Kulturerbe von Mexiko-Stadt anerkannt, neben Fußball ist dieser Sport der beliebteste des Landes.
 
Trotz seiner fragmentarischen Form tragen die Skizzen Mawils zentrale Aspekte des Lebens in Mexiko-Stadt in sich, von der Alltagsgestaltung über Sport und Religion bis hin zu politischen Fragen. Mehr können Skizzen in einem Reisetagebuch auch gar nicht leisten und wollen dies auch nicht. Aber sie bieten einen Ausgangspunkt, tiefer in die Geschichte und Kultur der Stadt einzutauchen.

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