Die Zukunft der Erinnerung
Der Anfang

Maschinen der Erinnerung (Felipe Moreno – Mapa Teatro)
Maschinen der Erinnerung (Felipe Moreno – Mapa Teatro) |

Das Regionalprojekt des Goethe-Instituts „Die Zukunft der Erinnerung“ hat begonnen. Dabei werden internationale Künstler und Denker in verschiedenen Ländern Südamerikas zusammenkommen.

Zum Auftakt stellten sich vor allem Fragen über die Erinnerung und das Vergessen. Das wurde bei der Eröffnung von „Die Zukunft der Erinnerung“ nur allzu deutlich, bei der sich wichtige Akteure des Projekts trafen, um über ihre Anliegen und Bedenken zu sprechen.

„Die Zukunft der Erinnerung“ ist ein Regionalprojekt unter der Leitung des Goethe-Instituts. Zu seiner Eröffnung Ende März in Bogotá trafen sich die Ko-Kuratoren – aus Bogotá, Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro, São Paulo und Santiago de Chile – mit den Organisatoren im Sitz des Künstlerlaboratoriums Mapa Teatro, das von Heidi und Rolf Abderhalden geleitet wird. Dabei hatte schon der Ort des Treffens selbst zu einigen der Fragen und Ideen, die zur Entstehung des Projekts geführt haben, etwas mitzuteilen.

Und zwar befindet sich dieser Ort in einem alten, großen, einst prachtvollen Haus in der geschichtsträchtigen Avenida Séptima im Herzen Bogotás. Schon vor Jahrzehnten gerieten der gesamte Stadtteil und mit ihm seine denkmalwürdigen Bauten immer mehr in Vergessenheit, sie wurden zu stillen Opfern der institutionellen und sozialen Vernachlässigung. Auch das jetzige Haus von Mapa Teatro war für lange Zeit dem materiellen und emotionalen Verfall preisgegeben. Dreißig Jahre ist es her, dass die Geschwister Abderhalden beschlossen, sich hier niederzulassen, das Gebäude zu renovieren und herzurichten, um es in ein der künstlerischen Praxis und Reflexion dienendes Zentrum zu verwandeln. Hier wurden nun auch einige der Veranstaltungen durchgeführt, die mit dem Start des Projekts „Die Zukunft der Erinnerung“ und der daran beteiligten künstlerisch-akademischen Plattform Experimenta/Sur VI zu tun haben. Deren diesjähriger Titel lautet „Mnemophilie & Lotophagie“. Aber nicht nur der Titel drückt den Wunsch aus, sich mit dem Erinnern und Vergessen auseinanderzusetzen. Auch das Haus selbst trägt an seinen Wänden, den Treppen, seiner ganzen republikanischen Architektur die Wunden der Vernachlässigung, aber gleichzeitig das Verlangen, immer wieder auf das Geschehene zurückzukommen, ihm einen Besuch abzustatten, damit es, aufgearbeitet und aktualisiert, zu einem Teil der Gegenwart werden kann.

Zu Beginn des Treffens ergriff Katja Kessing das Wort. Als Leiterin des Goethe-Instituts von Bogotá ist sie zusammen mit der Koordinatorin Úrsula Mendoza eine der treibenden Kräfte hinter „Die Zukunft der Erinnerung“. Nun sprach sie über das Interesse, mit den Mitteln der Kunst und der Reflexion, Fragestellungen auszuarbeiten (und nicht unbedingt abschließend zu beantworten), die gegenwärtig sowohl in Deutschland als auch in Südamerika zentral sind. Zu diesen grundsätzlichen Fragen gehören solche wie: Wozu sich erinnern? Und warum sich diesem Thema ausgerechnet aus der Perspektive der Kunst nähern? Heidi und Rolf Abderhalden von Mapa Teatro brachten, mit Bezug auf den Titel „Mnemophilie & Lotophagie“, eine weitere Frage ein: Müsste man vielleicht nicht auch das Konzept und die Praxis des Vergessens in die Erinnerungsarbeit mit einbeziehen?
 

  • Der Auftakt: internationale Künstler treffen sich im Haus des „Mapa Teatro“ (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
    Der Auftakt: internationale Künstler treffen sich im Haus des „Mapa Teatro“ (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
  • Die Maschinen der Erinnerung vor den Interventionen (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
    Die Maschinen der Erinnerung vor den Interventionen (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
  • Rolf Abderhalden, von „Mapa Teatro“, erklärt die Regeln des Maschinen-Experimentes (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
    Rolf Abderhalden, von „Mapa Teatro“, erklärt die Regeln des Maschinen-Experimentes (Santiago Sepúlveda – Mapa Teatro)
  • Erste Versuche mit den Maschinen der Erinnerung (Felipe Moreno – Mapa Teatro)
    Erste Versuche mit den Maschinen der Erinnerung (Felipe Moreno – Mapa Teatro)
  • Aufbau des Ephemermonumenten von Olivier Grossetête (Secretaría de Cultura, Bogotá)
    Aufbau des Ephemermonumenten von Olivier Grossetête (Secretaría de Cultura, Bogotá)
  • Das Pappkarton-Monument – im Hintergrund die Iglesia del Voto Nacional (Secretaría de Cultura, Bogotá)
    Das Pappkarton-Monument – im Hintergrund die Iglesia del Voto Nacional (Secretaría de Cultura, Bogotá)
Im weiteren Verlauf erzählten sie eine Anekdote über ihren kürzlichen Besuch in einem ehemaligen Camp der kolumbianischen Farc-Guerilla. Die kolumbianische Armee plant dort die Errichtung eines „Museums der Erinnerung“, in dem vor allem die Verbrechen der inzwischen demobilisierten Guerilla untersucht werden sollen. Die Geschwister Abderhalden berichteten, wie einer der mit diesem Projekt beauftragten Militärs sagte: „Der Krieg in Kolumbien ist zu Ende. Jetzt beginnt der Krieg um die Erinnerung“... Diese seltsame, etwas schockierende, aber letztlich wahre Bemerkung führte zu einer Doppelfrage, die wie die bereits genannten das gesamte Regionalprojekt begleiten wird: Wer erzählt die Geschichte? Welche Version der Geschichte wird sich schließlich durchsetzen?

Und auf diese Weise setzten die Redebeiträge der zur Eröffnung anwesenden Kuratoren und ihre Beschreibungen der verschiedenen Künstlerprojekte die Reihe grundlegender Fragestellungen fort: Gibt es die sogenannte kollektive Erinnerung überhaupt? Welche Rolle spielt die Zukunft beim Nachdenken über die Erinnerung? Für wen wird die Erinnerung aufrechterhalten, für wen erinnert man sich? Wer oder was genau ist das Opfer, und wer benennt es als solches?

In welcher Form diese Fragen im Projekt aufscheinen, konnte sehr gut bei den Workshops, Performances und künstlerischen Interventionen beobachtet werden, die an den Tagen vor der Eröffnungsveranstaltung von „Die Zukunft der Erinnerung“ und Experimenta/Sur VI stattfanden.

So entspann sich zum Beispiel in Mapa Teatro, nachdem eine Frau als Opfer des kolumbianischen Konflikts vor der Zuhörergruppe ihr schmerzvolles Zeugnis abgelegt hatte, eine hitzige und aufreibende Diskussion über das Thema unter den eingeladenen Intellektuellen: der kolumbianischen Richterin Gloria Guzmán, der brasilianischen Psychoanalytikerin, Kunst- und Kulturkritikerin Suely Rolnik, dem kolumbianischen Schriftsteller Roberto Burgos Cantor, der kolumbianischen Philosophin Adriana Urrea, der brasilianischen Anthropologin Ludmila da Silva Catela und den Kolumbianern Iván Orozco und Alejandro Valencia Villa, respektive Politikwissenschaftler und Rechtsanwalt. Später bekam eine Gruppe junger Künstler aus verschiedenen südamerikanischen Ländern, zusammen mit den Ko-Kuratoren von „Die Zukunft der Erinnerung“, die Aufgabe gestellt, ihre Eindrücke von dem gehörten Zeugenbericht wiederzugeben, indem sie sechs Gegenstände aus Holz und Zahnradgetrieben benutzten, genannt „Brechtsche Maschinen zur Distanzierung, Erinnerung und zum Vergessen“. Bei jedem dieser mechanisch-künstlerischen Experimente wurden in einzigartiger Weise der Schmerz, die Angst, die Machtlosigkeit, und vielleicht auch das Gefühl von Befreiung, der Frau spürbar, deren Geschichte man im Kollektiv gehört hatte und in der sich verschiedenste Empfindungen mischen, die mit den Konzepten von „Erinnerung“, „Vergessen“, „Opfer“ – aber auch mit dem von „Zukunft“ –verbunden sind. Genauso bildeten die Überlegungen und Fragen zur Bedeutung des Erinnerns das Fundament für eine der „Ephemerbauten“ des französischen Künstlers Olivier Grossetête auf dem traditionellen Platz der Märtyrer im Zentrum von Bogotá: Hunderte Bürger errichteten gemeinsam aus Karton eine Replik der historischen Kuppel der Kirche Iglesia del Voto Nacional. Die Errichtung des Monuments nahm mehrere Tage in Anspruch. Kaum vollendet, beaufsichtigte Grossetête den Wiederabbau der gigantischen Kartonkopie. Einmal mehr verwandelte sich die Erinnerung in Abwesenheit, allerdings nicht ohne in ihrer vorübergehenden Anwesenheit unberührbare Spuren hinterlassen zu haben.

Zum Auftakt stellten sich vor allem Fragen. Fragen über die Erinnerung und das Vergessen. Sie werden, neben vielen weiteren, die wohl unterwegs noch auftauchen werden, zweifellos die Basis und der rote Faden zwischen den verschiedenen Bausteinen sein – unter anderem Kunstwerke, interdisziplinäre Reflexionen und Gespräche –, die der „Zukunft der Erinnerung“ in den kommenden Monaten Gestalt verleihen werden.