Portofrei
Was es uns wert ist

Portofrei
Grafik: Bernd Struckmeyer

Keine freiheitliche Gesellschaft ohne Pluralismus, Meinungsfreiheit und Partizipation – aber diese zivilen Errungenschaften brauchen eine Verankerung im Alltag jeder liberalen Demokratie. Katja Kullmann, Essayistin und Journalistin, und der Philosoph und Polit-Aktivist Srećko Horvat debattierten darüber, wie sich Werte gegen Anstürme bewahren lassen und auch künftig als Basis für ein soziales Miteinander dienen können. Ihr digitaler Briefwechsel ist immer noch offen für Ihre Meinung: im Kommentarfeld dieser Seite oder auf Facebook, Twitter und Instagram unter dem Hashtag #portofrei. Geraldine de Bastion moderierte die Debatte.
 

3. November 2017   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Lieber Srećko, liebe Katja, ;auch ich fand unseren Austausch sehr anregend – und er hat mich, wie schon gesagt, zuversichtlich gemacht. Ich möchte mit einem kleinen Resümee und ein paar Vorschlägen enden.

Wir haben zum Anlass der Bundestagswahl in Deutschland und des 60. Jubiläums der Unterzeichnung der Römischen Verträge über die Werte gesprochen, die Europa auszeichnen und in Zukunft auszeichnen sollten. Wir haben über den Aufstieg von populistischen und nationalsozialistischen Tendenzen gesprochen und über die Bedeutung liberaler Demokratien. Als Werte, die für uns zentral sind, hielten wir in unserer Diskussion fest: Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Demut, Großzügigkeit und Solidarität.

Eine überzeugende Gegenposition zur Angstpolitik und zum Populismus in Europa ist notwendig. Warnzeichen sind da – aber auch Ideen, wie eine Zukunft positiv und sozial gestaltet werden kann. Es kamen viele konkrete Vorschläge zusammen, wie ein „European New Deal“ aussehen könnte. Ich würde mir wünschen, dass unser Briefwechsel einen Beitrag zu einer breiteren Diskussion leistet, dass er fortgeführt wird – und ich hoffe, dass wir uns alle weiter für ein Europa der Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Demut, Großzügigkeit und Solidarität engagieren.
 
24. Oktober 2017   |    Katja Kullmann
Katja Kullmann Foto: Nane Diehl Liebe Geraldine, lieber Srećko, auch ich fand unseren kleinen Diskurs sehr anregend. Eine binnen-europäische, durchaus strittige, aber gemeinsam am Kontinent leidenschaftlich interessierte Unterhaltung. Und damit vielleicht einer von vielen möglichen Spiegeln für das, was in Europa derzeit vor sich geht.

Srećko und ich bewerten etliche Dinge recht unterschiedlich, zum Beispiel die Katalonien-Frage, da liegen unser beider Einschätzungen doch klar quer zueinander. Andererseits – und damit komme ich auf den ersten „Wert“, der für mich einer der wichtigsten ist und bleibt – schätze ich gerade eine solche offene, selbstbewusste Auseinandersetzung. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Die Meinungsfreiheit begreife ich als eines der höchsten zivilisatorischen Güter. Die Europa-Theoretikerin Ulrike Guérot, die sich seit einer Weile für eine „Republik Europa“ stark macht, hat mich neulich mit einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit überrascht. Guérots These: In Spaniens Krise offenbart sich eine neue EU. Das kommt Srećkos Ansicht ziemlich nah – und ich bin nun angeregt und bereit, gedanklich noch etwas daran herumzukauen (auch wenn meine politischen Instinkte in Sachen Katalonien bislang in mir doch sehr viel mehr Skepsis hervorrufen).

Die Bewegungs- oder Reisefreiheit ist für mich der Kompagnon zur Meinungsfreiheit, der zweite wichtige Wert. Nun fällt mir gerade auf, dass das Wort „Freiheit“ in diesen meinen knappen Zeilen gleich zweimal auftaucht. Also: Freiheit! Nicht im neoliberalen Sinne – sondern solidarisch. Weshalb ich eben auch dafür bin, das herrlich alte L-Wort, die Idee des Liberalismus, neu und anders zu besetzen, als es zuletzt geschah, nämlich leider zuletzt eben vor allem Markt-liberal. Die Idee eines europäischen New Deal gefällt mir.

Ach, so vieles gäbe es zu den Werten noch zu sagen. Letztlich läuft es auf den Dreiklang der Französischen Revolution heraus – wobei ich dafür wäre, jenen Dreiklang leicht zu modernisieren, indem alle Geschlechter einbezogen sind, also so: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Und, wie ganz zu Anfang der Unterhaltung schon angedeutet und mit dem von Srećko erwähnten Star-Trek-Prinzip im Hinterkopf: Ich wünsche mir, dass Europa schließlich die Vorreiterin, der Prototyp für eine viel größere Angelegenheit wird – für eine freie und gleiche Weltgesellschaft nämlich.
 
24. Oktober 2017   |   Srećko Horvat
Screcko Horvat Foto: Oliver Abraham Wenn es einen Wert gibt, der nicht nur für mich persönlich, sondern auch für die Zukunft Europas enorm wichtig ist, dann ist das Solidarität. Ohne Solidarität hat Europa keine Zukunft. Ist genau das nicht bereits im Text der – offiziell instrumental gehaltenen – EU-Hymne Ode an die Freud festgeschrieben, dessen berühmte Zeilen lauten: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“?

Leider erleben wir derzeit genau das Gegenteil: Neue Grenzen und Mauern entstehen allerorts, und die Peripherie Europas fällt dem Sparkurs zum Opfer. Wenn es einen Moment gibt, der diese Diskrepanz zwischen der offiziellen EU-Hymne und der brutalen Realität illustriert, dann jener, als die führenden Häupter der Welt anlässlich des G-20-Gipfels zusammenkamen und in der Hamburger Elbphilharmonie Beethovens Ode an die Freude genossen, während nur ein paar Kilometer weiter in St. Pauli Protestanten und zufällig anwesende Passanten von Polizisten verprügelt wurden. In der EU herrscht keine Solidarität, sondern genau das Gegenteil.

Wenn ich von Solidarität spreche, meine ich aber nicht den Begriff im üblichen Sinne, also die Vorstellung, jemandem zu helfen, der in Not ist, zum Beispiel einem Bettler auf der Straße einen Euro oder einem Flüchtling ein Quartier zu geben. Diese Dinge sollten selbstverständlich sein. Ich glaube vielmehr, dass wir eine viel radikalere Interpretation des Begriffs Solidaritä brauchen, nämlich jene, die schon Oscar Wilde vor über hundert Jahren so wunderbar beschrieben hat, als er sagte, dass die meisten Menschen die Armut bekämpfen wollen, indem sie die Armen am Leben halten. Nehmen wir die Griechen als Beispiel, die derzeit unter Verschuldung und Arbeitslosigkeit leiden. Es kann nicht die Lösung sein, noch mehr Schulden zu machen und Sparkurse einzuführen, um sie gerade so am Leben zu halten. Man muss vielmehr, wie Wilde sagen würde „versuchen, die Gesellschaft so umzugestalten, dass Armut unmöglich wird“.

Mit anderen Worten: Was Europa jetzt braucht, wenn es überhaupt eine Zukunft hat, sind keine kleinen Schönheitskorrekturen hier und da. Wenn wir echte Solidarität leben wollen, in der Menschen ganz wie in der Ode an die Freude Brüder (und Schwestern) werden sollen, dann müssen wir Europa neu erfinden, und zwar so, dass Armut unmöglich wird.
 
19. Oktober 2017   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Liebe Katja, lieber Srećko – eure Beiträge machen mir große Hoffnung. Wie schön ist es, dass drei Menschen, die aus unterschiedlichen Regionen stammen und sich noch nie getroffen haben, die gleichen utopischen Vorstellungen teilen?

Ich bin für den „European New Deal“. Wir brauchen diese Visionen – nicht zuletzt auch als Antwort auf die Angstpolitik der rechten Populisten. Unsere kleine Stichprobe lässt mich hoffen, dass es noch viel mehr Menschen da draußen gibt, die ebenso denken – und dass manche unserer Vorstellungen somit umsetzbar sind und keine Utopien bleiben müssen.

Betrachtet man die Geschichte Europas, zeigt sich, wie fluid die Grenzen der heutigen Staaten sind. Nationalstaaten als Identifikationsrahmen sind ein entsorgbares Neuzeitphänomen. Wie Recht du hast, liebe Katja: Großzügigkeit ist ein wichtiger Wert, auf dem Europa aufgebaut werden könnte. Ein bisschen mehr Demut wäre vielleicht auch nicht verkehrt.

Indien ist eines der Länder, das eine auf Wechselseitigkeit beruhende Visa-Politik hat – Menschen aus Ländern, die indischen Staatsbürgern die Einreise erschweren, haben einen ebenso aufwendigen Prozess vor sich, wenn sie ein Visum für Indien möchten. In der Festung Europa ist es wichtig, daran zu erinnern, dass wir keine Vormachtstellung in der Welt gepachtet haben, sondern etwas dafür tun müssen, global relevant zu bleiben – zum Beispiel an unseren antiquierten Visabestimmungen arbeiten, wie unser Leser Wolfang Bell am 7. Oktober in seinem sehr interessanten Kommentar auf Facebook schrieb (siehe unten).

Die Reisefreiheit ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union. Auf welchen anderen Werten sollte unser „European New Deal“ aufgebaut werden? Welcher Wert ist euch persönlich wichtig?
 
10. Oktober 2017   |   Srećko Horvat
Screcko Horvat Foto: Oliver Abraham Als erstes fällt mir der Begriff „European New Deal“ ein. Das ist das einzige, was Europa noch retten kann. Obwohl ich Ihre Idee, liebe Geraldine, von einem kostenlosen Zugticket für junge Menschen sehr mag, mit dem sie durch ganz Europa reisen können, ist das, was Europa momentan am nötigsten braucht, ein struktureller Wandel.

Als jemand, der mehrmals in der Woche in den Flieger steigt, würde ich sogar vorschlagen, dass alle jungen Leute kostenlos überall hinfliegen können sollten, wo sie wollen. Und warum sollte es damit aufhören? In der vorherrschenden TINA-Ära, in der der durch Thatcher berühmt gewordenen Ausspruch There Is No Alternative herrscht („Es gibt keine Alternative!”), brauchen wir sicherlich neue utopische Ideen wie etwa kostenloses Reisen ohne Grenzen. Warum nicht auch kostenlose Telefongespräche innerhalb Europas für alle, oder, um noch mehr Utopie zu wagen, freie Bildung, freie Krankenversicherung, soziale Sicherheit, Jobs, grüne Energie und so weiter?

Wie Sie sehen, haben diese Fragen alle einen Haken, und dieser Haken heißt Kapitalismus.

Heute kann man sich leichter eine Gesellschaft wie in Star Trek vorstellen (eine utopische, vielleicht sogar kommunistische Gesellschaft, in der die Menschen das Universum erkunden, statt an Ausbeutung und Krieg zugrunde zu gehen) als ein Europa, das sich von Grund auf erneuert. Wenn Sie also vorschlagen, dass alle jungen Leute die Möglichkeit haben sollten, umsonst mit dem Zug durch Europa zu fahren, höre ich schon die Neoliberalen sagen: „Es gibt kein kostenloses Mittagessen!“

Sie argumentieren damit, dass irgendjemand ja dafür bezahlen muss. Wir sollten daher so argumentieren, dass wir, wenn wir wirklich ein anderes Europa wollen, zuerst einmal ein anderes Wirtschaftssystem brauchen. Und das ist näher an Star Trek, wo alle menschlichen Potenziale voll ausgeschöpft werden, als am momentanen Europa. Ist das eine Utopie? Nein. Wir brauchen dazu etwas, das die Ökonomen Yanis Varoufakis und James Galbraith in ihrem vor einigen Tagen in The Nation erschienenen Artikel Why Europe Needs A New Deal, Not Break Up („Warum Europa nicht zerbrechen, sondern neu strukturiert werden muss”) festgestellt haben.

Eine solche Neuausrichtung Europas heißt nicht nur, die Europäische Union im Bereich Wirtschaft und Finanzen radikal umzugestalten, sondern auch ein derzeitiges politisches Tabuthema aufzulösen – und dieses Tabu heißt Souveränität.

Nehmen wir doch die jüngsten Ereignisse in Katalonien. Angesichts der Wahl zwischen der gewalttätigen neo-franquistischen spanischen Regierung und den Independentistas ist die vorherrschende Meinung dort: „Beide Optionen sind furchtbar.“ Ich finde, wir sollten uns nicht in dieses falsche Dilemma hineinbegeben, sondern stattdessen eine dritte Option schaffen, ein „Europa von morgen“, wie Jacques Derrida es wohl nennen würde, ein Europa, das in der Lage ist, das Konzept der Souveränität neu zu erfinden, das Städte und Regionen stark macht und gleichzeitig nationale Partikularinteressen auflöst. Kurz: ein Europa, in dem es die gängige Vorstellung des Nationalstaats nicht mehr gibt.
 

9. Oktober 2017   |    Katja Kullmann
Katja Kullmann Foto: Nane Diehl Großzügigkeit ist der Begriff, der mir zuerst auf die Frage einfällt, was „wir“ brauchen. Damit meine ich jetzt nicht materielle, sondern geistige, mentale, emotionale Großzügigkeit. Ein Denken und Handeln in großen Zügen also, statt eines, das sich im Kleinklein verhakt.

Ich muss auf Katalonien zurückkommen. Beides ist so bitter – sowohl die Polizeigewalt, mit der die spanische Regierung gegen das Referendum vorging, als auch das massiv krawallige, verfassungswidrige Vorgehen der Unabhängigkeitsbefürworter. Abgesehen davon, dass die „Sí“-Bewegung eben nicht nur von sympathisch wirkenden, bunten jungen Leuten gepusht wird, sondern von der erzkonservativen Partei PdeCat (Partit Demòcrata Europeu Català), die für Korruption und Sparpolitik steht, werfen diese Vorgänge ein Schlaglicht auf einen größeren Komplex: Die Sezession brandet auch in Schottland und dem Baskenland immer wieder auf, in Südtirol, Flandern, Siebenbürgen und Ostdeutschland. Europa hat also nicht nur ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit nach außen, sondern auch eines nach innen. Man kann vielleicht von einer Kultur-Angst sprechen, die oft ins Irrationale reicht. Noch böser ausgedrückt: Es wirkt wie das Plärren von lauter beleidigten Kleinkindern, die sich in ihrer Engstirnigkeit viel mehr ähneln, als es ihnen wohl lieb ist. Das nervt mich, das empfinde ich als kleingeistig – und eben: geizig.

Was mir dabei durch den Kopf geht, ist das Verhältnis von Individualität und Identität. Zwischen diesen „I“-Wörtern herrscht aktuell eine hochgespannte Dialektik: Einerseits konzentrieren sich die Sezessionisten auf ihre je „individuellen“ katalanischen oder südtirolischen Interessen. Anderseits kreieren sie mit ihrem Identitäts-Geschrei ein umso enger gefasstes, ganz hermetisches Wir – etwas brutal Kollektivistisches, etwa gänzlich Un-Individualistisches also! Etwas, das die Menschen auch viel kleiner macht als sie eigentlich sind.

Europa ist der überaus großzügige Raum, in dem ich als gebürtige Hessin frei und offen mit gebürtigen Elsässern, Walisern, Bayern, Podlachiern, Korsen und Kosovaren verkehren kann – ohne, dass ich dabei etwas verliere. Im Gegenteil: Erst in der freien Begegnung mit meiner kosovarischen Friseurin, meinem walisischen Lieblings-DJ und meiner sächsischen Kollegin erkenne ich, was uns jeweils einzigartig macht. Wir können uns also bestaunen und besuchen, oder wir leben sowieso schon – angstfrei – miteinander am selben Ort. Darüber freue ich mich, statt mich davor zu fürchten.
 
4. Oktober 2017   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Liebe Katja, wie gut, dass du daran erinnerst, dass unsere Werte eben nicht biblisch in Stein gemeißelt sind, sondern wandelbar. Für viele der Werte, die wir mittlerweile als selbstverständlich erachten, haben Menschen hart gekämpft – und dasselbe müssen wir heute tun.

Lieber Srećko, warum sollte man auch glauben, dass sich die Menschheit in den letzten siebzig Jahren so zum Guten gewandelt hat, dass Auschwitz nicht wiederholbar wäre. Das ist Wunschdenken. Es ist und bleibt unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es einmalig bleibt.

Spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ist klar: Wir können uns nicht darauf ausruhen, was unsere Elterngeneration geschaffen hat – ein tolerantes, friedliches Europa kann es nur geben, wenn die Menschen sich dafür aktiv einsetzen.

Emmanuel Marcons Rede ist ein wichtiger Vorstoß, die Existenzberechtigung unserer Staatengemeinschaft mit neuem Leben zu füllen. Wir brauchen mehr Nach-vorne-Denken, müssen mehr Menschen mitnehmen und mehr Menschen davon überzeugen, dass eine offene, tolerante Gesellschaft der bessere Weg ist als Rückkehr und Abschottung. Wie machen wir das?

Vor allem: durch mehr Demut. Denn Europa ist nicht und war nie die zivilisatorische Hochburg, die es vorgibt zu sein. Unsere Hochnäsigkeit gegenüber anderen Kulturen schürt die Fremdenangst in unseren Gesellschaften. Europa braucht den Rest der Welt und wir brauchen einander. Wie kommen wir zu mehr gemeinsamen Verständnis und mehr Demut? Zum Beispiel durch interkulturelle Begegnungen. Ganz konkret: ein Zugticket, mit dem alle jungen Menschen kostenlos durch Europa reisen können.

Was brauchen wir noch?
 
28. September 2017   |   Srećko Horvat
Screcko Horvat Foto: Oliver Abraham Der Bumerang ist zurückgekommen – direkt ins Herz Europas.

Vor ein paar Jahren war der aufkeimende Rechtsextremismus und Geschichtsrevisionismus offenbar etwas, das nur in Süd- und Osteuropa zu beobachten war: Es gab diese Entwicklungen in Polen, Ungarn oder Kroatien, aber sie schienen kein gesamteuropäisches Problem. Inzwischen sind diese Bewegungen mitten in Europa angekommen. In Frankreich. In Deutschland. Sie sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Das Szenario ist ähnlich wie in den 1930er-Jahren: Erst herrscht eine Finanzkrise, die die finanzielle Situation der Bevölkerung deutlich verschlechtert. Und schon bald schlägt die Verzweiflung in Wut um, die dann von rechten populistischen Parteien genutzt wird, um die Flüchtlinge oder die Juden zu beschuldigen. Und dann sind wir auf einmal in einer Situation, in der über den Völkermord debattiert wird. Und wenn es soweit ist, dass über Genozid überhaupt diskutiert wird, dann sind wir nur einen kleinen Schritt davon entfernt, diesen Wirklichkeit werden zu lassen.

Ich bin derselben Meinung wie Geraldine: Über den Genozid darf nicht „debattiert“ werden. Man stelle sich nur einmal vor, es würde eine Diskussion darüber geben, ob Vergewaltigung akzeptabel ist oder nicht. Das gleiche sollte für den Völkermord gelten. Ich würde gerne in einer Gesellschaft leben, in der Vergewaltigung und Völkermord nicht diskutiert werden, weil sie schlichtweg nicht zu akzeptieren sind.

Was mir in diesem Zusammenhang Sorgen macht, ist das „Denkverbot“, das in Deutschland in Bezug auf ein mögliches zweites Auschwitz herrscht. Das beste jüngste Beispiel ist die Performance Auschwitz On The Beach auf der letzten Documenta, die abgesagt wurde, weil es einfach nicht sein durfte, dass man die Begriffe „Auschwitz” und „Strand” in einem Atemzug erwähnt. Dabei ging es dem italienischen Philosophen Franco Berardi Bifo, dessen Text dieser Performance zu Grunde lag, gar nicht darum, die Gefühle der Holocaust-Opfer zu verletzen. Im Gegenteil, er wollte dieses „Denkverbot” aufheben und am Beispiel von Millionen Geflüchteten, die im Mittelmeer sterben wie die Fliegen und in ganz Europa in Flüchtlingscamps gesteckt werden, die deutsche Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, dass ein zweites Auschwitz tatsächlich möglich ist.

Kurz, es kann und darf nicht „diskutiert” werden, ob der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat oder nicht oder ob er gut oder schlecht war. Diese „Diskussion“, die von Geschichtsrevisionisten und populistischen Parteien in ganz Europa geführt wird, ist einfach inakzeptabel. Wir sollten allerdings sehr wohl darüber diskutieren, ob ein zweites Auschwitz in einer anderen Form, vielleicht sogar am Strand, möglich wäre. Es geht schließlich nicht darum, das Gedenken an Ausschwitz in Frage zu stellen, sondern im Gegenteil, die Welt vor einem zweiten Ausschwitz zu bewahren.

Anmerkung der Redaktion: Die deutsche Debatte zur abgesagten Documenta-Performance mit dem Titel „Auschwitz On The Beach“ wurde komplex und vielschichtig mit gut begründeten Argumenten geführt. So kritisierte zum Beispiel Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und Beauftragte für Holocaust-Gedenken des World Jewish Congress, die Ankündigung der Documenta-Performance mit folgenden Worten: „Titel und Ankündigungstext sind absolut geschichtsblind und obszön. Die Flüchtlingsthematik mit Termini aus dem Kontext der systematischen nationalsozialistischen Judenvernichtung zu beschreiben, also die Gleichsetzung mit der Shoa ist unhaltbar, zeugt von unsäglichem Unwissen und entbehrt jeglichen Schamgefühls. Der Holocaust – die gezielte, industriell durchgeführte Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten – ist ein singuläres, präzedenzloses Verbrechen. Jede Relativierung oder Leugnung verbietet sich. Die Künstler sowie die Kuratoren und die documenta-Verantwortlichen schaden […] vor allem dem berechtigten Anliegen einer humanitären europäischen Flüchtlingspolitik.“
 

 

25. September 2017   |    Katja Kullmann
Katja Kullmann Foto: Nane Diehl Gut, dass du den Wahl-O-Mat erwähnst, Geraldine. Man sieht daran, wie breit sich neurechte Rhetoriken gemacht haben – da wird eine der ideellen Grundfesten der Bundesrepublik, das vitale Gedenken an den Holocaust, plötzlich als verhandelbar offeriert. Man sieht daran aber auch einen positiven Wandel. Vor 20 Jahren hielt Martin Walser seine berühmte Paulskirchenrede, Rudolf Augstein sekundierte ihm im Spiegel: Das Holocaust-Mahnmal sei ein „Schandmal“, geboren aus „Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand“. Das ist exakt der Jargon, mit dem heute der AfD-Mann Björn Höcke um sich kleckert. Ein Großteil der Gesellschaft nimmt das nicht mehr ehrfürchtig hin, wie noch 1998 – sondern empört sich massiv darüber.

Ähnlich ist es mit vielen anderen Werten, Sprach- und Rechtsgebräuchen: Homosexualität stand hierzulande bis 1994 unter Strafe, Ehemänner durften ihren Gattinnen noch bis 1977 die Berufstätigkeit verbieten: Klingt nach Scharia-Recht, nicht wahr? Für Millionen im liberalen Europa hat sich das Leben erheblich verbessert. Allzu oft wird das klein geredet, als bloße Lappalie im Vergleich zu sozialer Ungleichheit. Die wächst aber übrigens auch in Deutschland rapide. Die Prekarisierung findet auf unterschiedlichen Wohlstandsniveaus statt – aber sie ist strukturell eine verbindende Erfahrung und damit eine politische Chance.

Die Hassprediger des Nationalismus wie des Islamismus sind sich in vielem sehr ähnlich, sie verachten beide die liberale Demokratie, und ich will die aktuellen Pendelauschläge in Richtung Unfreiheit nicht verniedlichen. Mit Bestürzung beobachte ich auch den Nationalismus in Katalonien, der idiotischerweise auch von weit links gefüttert wird. Mir gefällt, was Srećko Horvat sagt: um „mehr Europa“ kämpfen. Die Mehrheit will genau das. Man sah es im französischen Wahlkampf, in Bewegungen wie „Pulse of Europe“ und der Programmatik von Diem25. Man sieht es an der Hilfe, die Menschen in Griechenland und Italien tagein, tagaus für Geflüchtete leisten. Ein liberales und solidarisches Europa wird längst gelebt – so selbstverständlich, dass es viel zu selten als Stärke gefeiert wird.

Derzeit regnet es viele, teils sehr konkrete Vorschläge für ein besseres Europa: Da geht es um einen gemeinsamen Finanzminister, einen Waffenexport-Stop und eine Europa-Armee; um ein „europäisches FBI“, ein gescheites Einwanderungsgesetz, ein sozial gleiches „Europa der Regionen“ und den politischen Umbau der EU hin zu einer wahren parlamentarischen Demokratie. Die AfD spricht von einer „EUdssr“. Ich plädiere für einen selbstbewussten und möglichst lauten europäischen Kampfoptimismus.
 
20. September 2017   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Deutschland und das restliche, westliche Europa, das tolerante, aufgeschlossene, humanistische, von dem Du sprichst, Katja – es ist so jung und fragil.

Wie jedes Jahr kurz vor der Bundestagswahl benutze ich den Wahl-O-Mat: ein Online-Tool, bei dem man die eigene Meinung mit den Positionen der zur Wahl stehenden Parteien abgleichen kann. Dabei werden einem 38 Thesen vorgelegt, denen man zustimmen oder eben nicht zustimmen kann. Ich bin erstaunt, wie viele dieser Thesen – aus meiner Sicht – nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Zum Beispiel die Frage, ob für die Aufnahme von neuen Asylsuchenden eine jährliche Obergrenze gelten soll. Am meisten stocke ich bei These Nummer 17: „Der Völkermord an den europäischen Juden soll weiterhin zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur sein.“

Es waren unsere Großeltern, die entweder vertrieben, verfolgt, und vergast wurden oder auf der Täter-Seite standen, als Mitgestalter und Mitläufer des NS-Regimes. Ich finde, es darf nicht zur Debatte stehen, dass man sich daran erinnert. Und ich ärgere mich, dass es die AfD und andere rechte Parteien geschafft haben, dass eine solche Frage – anstatt einer zu Gesundheits- oder Bildungsthemen – aufgenommen wird.

Erst vor wenigen Monaten wurde bei den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden deutlich, dass eine Regierungsbeteiligung rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa zumindest wieder eine reale Möglichkeit ist. Werte in Europa – das bedeutet vor allem Erinnern und Gedenken: an unsere Geschichte, an das, was wir daraus gelernt haben. Wie halten wir unsere Erinnerungskultur in Europa wach?
 
18. September 2017   |   Srećko Horvat
Screcko Horvat Foto: Oliver Abraham Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Wahlen bringt die von Ihnen beschriebene Einschätzung der Situation direkt das Hauptproblem auf den Punkt, das die EU aktuell hat. Stellen Sie sich doch nur einmal einen kleinen Ort in Spanien, Griechenland, Rumänien oder Kroatien vor, in dem unter dem Straßenschild eine blau-weiße Sternenflagge flattert. In den äußeren Ländern der EU steht diese Flagge leider nicht mehr für Frieden und Wohlstand. Im Gegenteil, die meisten Länder an der EU-Peripherie assoziieren mit dieser Flagge Sparmaßnahmen, Instabilität sowie vom Zentrum in die Randgebiete immer spärlicher werdende finanzielle und materielle Ressourcen.

Zufällig war ich anlässlich der Jubiläumsfeier zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im vergangenen März in Rom. Dieses Ereignis ist ein gutes Beispiel dafür, dass die derzeitige EU nicht in der Lage ist, ein Gefühl der Gemeinschaft beziehungsweise gemeinsame Zukunftsperspektiven zu schaffen, wie etwa das Modell eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ und eine Politik der „variablen Geometrie“ zeigen. Hintergrund dieser weiteren Spaltung zwischen dem Kern und den Randzonen der EU sind natürlich wirtschaftliche Interessen. Wenn man es also mit einer EU zu tun hat, die von ihrer Gründung bis zu ihrer momentanen Beschaffenheit von einer Wirtschaft abhängig ist, die zu Spaltungen führt – beispielsweise Deutschland versus Griechenland etc. –, wie soll man dann erwarten, dass die jüngere Generation sich mit der blauen Flagge mit den Sternen identifiziert? Überhaupt waren mir Menschen, die sich mit einer Flagge oder einer nationalen Identität identifizieren, schon immer suspekt.

Darum befinden wir uns heute in einer sehr gefährlichen Situation: Auf der einen Seite werden wir Zeugen der Rückkehr des Nationalstaates (vom Brexit bis hin zu den autoritären Regierungsformen in Ungarn oder Polen, die die Rechtsprechung der EU ignorieren), auf der anderen Seite sind wir mit einer ohnmächtigen EU konfrontiert, die nicht in der Lage ist, die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen oder die Flüchtlingskrise und den überall vorherrschenden Fremdenhass zu bewältigen. In dieser Situation müssen wir für „mehr Europa“ kämpfen, allerdings mit Sicherheit nicht für ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ oder eine „variable Geometrie“. Es kann auch kein Europa sein, in dem nur jene Menschen Frieden und Wohlstand genießen, die aus bestimmten Ländern kommen oder einer gehobenen sozialen Schicht angehören. Genau darum sind die Wahlen in Deutschland so wichtig – nicht nur für Deutschland, sondern auch für den Rest der EU. Wahlen sind jedoch nicht alles: Wir brauchen darüber hinaus auch gesamteuropäische Antworten auf die permanente Krisensituation der EU.
 
15. September 2017   |    Katja Kullmann
Katja Kullmann Foto: Nane Diehl Europa halte ich immer noch für den besten Ort der Welt. Ich bin mir bewusst, aus welcher Position ich das sage: als Westeuropäerin und Bürgerin des mächtigsten Profiteurs der EU – als Bürgerin des Platzhirschs Deutschland.

Wenn es um Europa geht, denke ich deshalb sofort über Ungleichheit nach. Und über westliche Werte. Werden diese kritisiert, ist im Kern oft der Kapitalismus in seiner neoliberalen Spielart gemeint. Und tatsächlich geriert sich die EU mit ihrem Austeritäts-Regime bislang als Profitmaschine für einige Auserwählte. In dem Zukunftspapier, das Jean-Claude Juncker jetzt vorgelegt hat, stellt er die weitere Öffnung des Schengenraums gen Osten in Aussicht. Im Wesentlichen liefert er wiederum ökonomische Antworten. Als ob die Parole „Euro für alle“ dieser Tage irgendjemanden beruhigen würde.

Aber zum Auftakt dieses Gesprächs soll es ja nicht um Geld, sondern um ideelle Werte gehen. Als progressiv gepolte Westlerin mit der unbedingten Liebe zu Meinungs- und Bewegungsfreiheit und dem Funken der Aufklärung im Sinn sage ich: Es gibt nichts zu beschönigen. Von Europa ging der Humanismus wie der Holocaust aus; der Kosmopolitismus wie der Kolonialismus; die Sozialgesetzgebung wie der Faschismus; der Kapitalismus wie der Kommunismus. Europa an sich ist nichts Moralisches. Als „typisch europäisch“ verstehe ich – ganz säkular – den Labor-Charakter, den dieser kleine krumme Kontinent stets hatte. Das „Westliche“ daran ist der Wille zur Beweglichkeit, zum konstanten Neuentwurf, zum Ausprobieren von sozialer und politischer Organisation.

Als Wessi gebe ich zu: Es ist für mich befremdlich, wie einige postsozialistische Gesellschaften sich aktuell verhalten. Was ist mit der Idee der solidarischen Internationalen? Was herrscht da für ein Chauvinismus gegenüber Fremden, Andersgläubigen, Homosexuellen? Was sind das für autoritäre Impulse? Für ein solches „nicht westliches“ Europa bin ich nicht zu haben.

Die EU funktioniert bislang als Plattform für die Interessen von Nationalstaaten. Doch Nationalstaaten und ihre Blöcke sind Bausteine der alten Machtapparate. Seit einem Vierteljahrhundert erleben wir eine Globalisierung von oben – eine politische Globalisierung von unten, mit gleichen sozialen Rechten für alle, wäre die einzige adäquate Antwort. Wir sitzen hier im Gruppen-Pilot-Projekt Europa, wir könnten jetzt etwas erfinden.
 
12. September 2017   |   Geraldine de Bastion
Geraldine de Bastion Foto: Roger von Heereman / Konnektiv Im Jahr der Bundestagswahl jährt sich die Unterzeichnung der Römischen Verträge, die den Grundstein der EU legten, zum 60. Mal. Und wenn man genau hinsieht, ist die Europäische Union in Deutschland zum Greifen nah: In meiner Seitenstraße hängt unter dem Straßenschild ein kleines Schild mit einer blauen Fahne und Sternchen: Mein Kiez ist von der EU verschönert worden. Mein Leben auch – denn was sich die sechs Staaten vorgenommen hatten, die damals die Römischen Verträge unterzeichneten, ist für viele Menschen, zumindest aus meinem Land und meiner Bildungsschicht, wahr geworden: Frieden und Wohlstand wurden gefördert.

Für viele junge Menschen sind die Vorteile der EU im Jahr der Bundestagswahl selbstverständlich geworden: Sie genießen die Vorteile der Reisefreiheit, der Währungsunion und des einheitlichen Studiensystems. Dennoch verstehen die meisten die EU als Wirtschaftsbündnis – und weniger als Wertegemeinschaft. Das geht aus der von der Tui-Stiftung vorgestellten Studie Junges Europa 2017 hervor. 6000 Menschen zwischen 16 und 26 Jahren aus den Ländern Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Großbritannien, Polen und Griechenland wurden online befragt: Nur 30 Prozent sehen die EU als Bündnis von Staaten mit gemeinsamen kulturellen Werten. „Millennials“, also um die Jahrtausendwende geborene junge Menschen, fällt es laut dieser Studie schwer, sich anzufreunden mit dem Konzept der Übertragung von Kompetenzen auf die Staatengemeinschaft. Sie wünschen sich mehr nationalstaatliche Verantwortung.

Liegt das, wie es so oft heißt, an der schlechten Vermarktung der EU? Oder mangelt es tatsächlich an einer gemeinsamen, gelebten Wertevorstellung? Was macht Sie zur Europäerin und zum Europäer?