Marcin Wilk empfiehlt
Tschudi

Tschudi von Mariam Kühsel-Hussaini © Rowohlt, Hamburg 2020 Hugo von Tschudi ist für viele Kunsthistoriker und Museumsmacher – insbesondere wenn sie sich für die Geschichte Berlins um die Jahrhundertwende interessieren – eine Kultfigur. Das Buch von Mariam Kühsel-Hussaini kann Tschudi heute in weiteren Kreisen bekannt machen.

Die Idee, auf belletristische Weise von einer historischen Persönlichkeit zu erzählen, realisiert die Autorin durch verschiedene Anspielungen an Kunststile. Ganz am Anfang des Buches trifft uns also die „weiche Luft“ und der schöne Anblick aufblühenden Knospen eines Baumes zieht unsere Aufmerksamkeit etwas länger auf sich als sonst. Auch die Figuren bewegen sich langsam. Häufiger ertappen wir sie bei der Selbstbeobachtung als bei atemberaubenden Abenteuern. Aber nicht in der Handlung, sondern in der Erzählweise liegt die Besonderheit dieser Erzählung.

Die dargestellte Wirklichkeit ist gewissermaßen vernebelt und wie mit Pastellkreide gezeichnet. Die poetische Verbildlichung und die impressionistische Optik werden durch die spezifische Phrasierung und Rhythmik der Sätze und Absätze verstärkt.

Die politische oder ökonomische Geschichtsschreibung scheint der Autorin weniger interessant, obwohl wir doch Zeugen wichtiger Geschehnisse werden. Berlin, eine europäische Metropole, die an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert gewaltigen Veränderungen unterworfen ist, erscheint hier nachgerade märchenhaft, um nicht zu sagen unwahrscheinlich.

Der Titelheld ist eine authentische Figur: Der legendäre Direktor der Nationalgalerie Berlin kaufte über dreißig Werke ausländischer Maler wie Manet, Monet und Degas, womit er eine ästhetische Revolution auslöste, gegen die Kaiser Wilhelm II. einschritt, dem die von ihm als „provokativ“ bezeichneten impressionistischen Extravaganzen zutiefst missfielen. Die Szene der Konfrontation zwischen Tschudi und Wilhelm gehört übrigens zu den erzählerisch stärksten Momenten des Buches. Außer ihnen treten zahlreiche andere historische Persönlichkeiten auf. Es handelt sich hier aber eher um Vertreter der Elite, der oberen Gesellschaftsschichten, Unternehmer und Künstler, Mächtige und Würdenträger: den Industriellen Walther Rathenau oder Max Liebermann, den Dialekt sprechenden Mitbegründer der Berliner Secession.

Man kann wohl Mariam Kühsel-Hussainis Buch in die seit längerer Zeit geführte Diskussion über die Möglichkeit einer Diskussion über Kunst und Geschichte einordnen. Auf jeden Fall ist Tschudi ein guter Ausgangspunkt für ein spannendes Gespräch über die Gegenwartsliteratur.
Rowohlt Verlag

Mariam Kühsel-Hussaini
Tschudi
Rowohlt, Hamburg 2020
ISBN 9783498001377
320 Seiten

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Rezensionen in den deutschen Medien:
Perlentaucher
Deutschlandfunkkultur.de
Süddeutsche Zeitung