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Proteste der Jugend
Eine Chance auf Veränderung

Die Jugend hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Jugendliche engagieren sich politisch stärker, wenn sie glauben, dass sie Einfluss nehmen können und mit ihren Anliegen gehört werden.
Die Jugend hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Jugendliche engagieren sich politisch stärker, wenn sie glauben, dass sie Einfluss nehmen können und mit ihren Anliegen gehört werden. | Foto (Detail): © Adobe

Fridays for Future, BLM, MeToo, #Leavenoonebehind: Dass es Jugendliche zum Protest auf die Straße treibt, ist vor allem Ausdruck einer grundlegenden Unzufriedenheit mit der Politik. Es ist aber auch ein Signal, dass sie den Glauben an Veränderung noch nicht aufgegeben haben. Diese Stärke beweisen sie aktuell auch bei Solidaritätskundgebungen für die Ukraine.
 

Von Ole Jantschek

Die Jugend in Deutschland ist politisch. Dies zeigt sich unter anderem an den beiden Themen, die in der Jugendforschung regelmäßig als ihre wichtigsten Anliegen identifiziert werden: die Klimakatastrophe sowie gesellschaftliche Diversität und Gleichberechtigung. In den letzten zwei Jahren kamen, wenig überraschend, die mit der Coronakrise einhergehenden Folgen für Ausbildung, Arbeitsplatz und Gesundheit als Thema hinzu. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bringt Frieden und Solidarität mit Geflüchteten zurück auf die Liste der drängendsten Themen.

Jugendliche und junge Erwachsene wollen mit ihren Perspektiven gehört werden und sich engagieren. Bei der Form des politischen Engagements, das sie dafür wählen, sind die Trends seit Jahren ungebrochen: Klassische Wege politischer Teilhabe über Parteien, Gewerkschaften und andere Großorganisationen verlieren an Bedeutung gegenüber dem themenbezogenen Engagement in Initiativen, Protesten und sozialen Bewegungen. Diese werden häufig von Jugendlichen selbst gestaltet. Dort können sie sich konkret und sichtbar für ihre Anliegen einsetzen. Das politische Interesse und Engagement sind jedoch stark davon abhängig, ob Jugendliche glauben, Einfluss nehmen zu können. Ob sie eine solche „Selbstwirksamkeitserwartung“ haben, steht dabei in engem Zusammenhang mit ihren sozioökonomischen Ressourcen und der positiven Alltagserfahrung, mit ihren Anliegen gehört und ernstgenommen zu werden.

Mit Blick auf die wichtigsten öffentlichkeitswirksamen Statements der jungen Generation in jüngster Zeit – neben „Fridays for Future“ zum Beispiel „Black lives matter“-Aktionen oder Proteste gegen bestimmte Regulierungsvorhaben des Internets – wird deutlich: Getragen wird dieses Engagement sowohl von der Forderung nach verbindlichen Regelungen und einem eher positiven Begriff fortschreitender Demokratisierung als auch von dem Wunsch nach persönlicher Freiheit und dem Respekt für Vielfalt. Die Proteste sind zudem transnational und digital vernetzt. Junge Aktivist*innen greifen ähnliche Themen in ihren Ländern auf und lernen voneinander, getreu dem Motto: „Think global, act local.“

Ausdruck einer Zeitenwende

Folgt man der These des Soziologen Andreas Reckwitz in seinem Werk Das Ende der Illusionen von 2019, so stehen die liberal-demokratischen, pluralistischen Systeme des Westens am Übergang zu einem neuen politischen Zeitalter. Die Zeit des öffnenden Liberalismus, der seit den 1980er-Jahren die Politik geprägt hat, geht zu Ende. Kennzeichnend für diese Phase waren Prozesse der ökonomischen, aber auch soziokulturellen Globalisierung einerseits und einer gesellschaftlichen Liberalisierung andererseits.

Die Proteste der Jugend lassen sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck eines doppelten Wunsches lesen: Sie verdeutlichen das dringende Anliegen, die Wirtschaft global stärker zu regulieren und Alternativen zum aktuellen Wirtschaftsmodell zu finden, das auf der Illusion endlosen Wachstums basiert und die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in nächster Zukunft zu zerstören droht. Sie stehen aber auch für eine hohe Identifikation mit den Errungenschaften gesellschaftlicher Liberalisierung und der Suche nach einer neuen Verbindung von Vielfalt, Gemeinsinn und sozialem Ausgleich. Was Reckwitz als neues Paradigma eines „regulativen, einbettenden Liberalismus“ beschreibt, ist jedoch erst im Entstehen begriffen, und die Herausforderungen sind hoch: die Klimakrise, die disruptiven Auswirkungen der Globalisierung, wachsende Ungleichheit und die Infragestellung der liberalen Demokratie durch aggressive autoritäre Regime von außen und (rechts-)populistische Akteure im Innern.

Chance für eine grundlegende Transformation

Gesellschaft, Politik und Bildungssysteme tun gut daran, die Proteste der Jugend als Chance und als Ressource für die notwendige Transformation zu begreifen. Proteste markieren in unserer Demokratie nach dem Soziologen Armin Nassehi Grundkonflikte, die nicht mit den üblichen Routinen und Mechanismen aufzulösen sind. Sie machen Unzufriedenheit der Bürger*innen deutlich und zwingen Entscheidungsträger*innen, dazu Stellung zu beziehen. Dieser emanzipatorisch-progressive Protest ist unbequem, denn er schafft Sichtbarkeit und Dringlichkeit für nicht gelöste Probleme. Doch erst so entstehen die Freiräume, in denen das Neue in die Welt kommen kann.

Die Anliegen und Formen aktueller Proteste sollten daher als Ausdruck einer grundlegenden Unzufriedenheit mit einer Politik anerkannt werden, die trotz lange bekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Klimakatastrophe keine überzeugenden Antworten gefunden hat. Sie sind aber auch als Signal einer Generation zu deuten, die den Glauben an die Möglichkeit der Veränderung nicht aufgeben will. Die aktuelle Herausforderung durch den russischen Angriff auf die Ukraine macht dabei deutlich: Sich an Protesten und in sozialen Bewegungen zu beteiligen, ist für Jugendliche eine prägende Erfahrung. Sie werden empowered, individuell und kollektiv ihre Perspektiven zu Gehör und damit etwas in Bewegung zu bringen. Diese Stärke und ihre Sensibilität für globale Zusammenhänge beweisen sie jetzt bei Solidaritätskundgebungen für die Ukraine.

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