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Überlegungen zum BGDF 2021
Wenn die Vergangenheit in die Gegenwart eintritt: die Notwendigkeit von Empathie

Two people in conversation at the BGDF 2021
© Cumberland Lodge

Von Dr. Jan-Jonathan Bock

Wie fließt die Vergangenheit in die Gegenwart ein, und wie sollten historische Ereignisse und Erfahrungen die Art und Weise beeinflussen, in der wir unsere heutige soziale, politische und wirtschaftliche Realität gestalten?

Dies waren die zentralen Fragen, die die Diskussionen auf dem Deutsch-Britischen Forum für Demokratie in Cumberland Lodge begleiteten. Sowohl Großbritannien als auch Deutschland stehen vor schwierigen Fragen über die Vergangenheit und die Verantwortung, die sich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit - um nur einige zu nennen - kolonialen Ungerechtigkeiten, dem Sklavenhandel, der Unterdrückung indigener Völker, dem Völkermord, Kriegen und der gewaltsamen Durchsetzung von politisch-ökonomischen Strukturen, Bestrebungen, Überzeugungen und Werten ergibt.

Die Entflechtung historischer Verantwortlichkeiten und Hinterlassenschaften ist eine komplexe Aufgabe, die durch die Zusammenführung von Perspektiven aus verschiedenen Ländern erfolgreich bewältigt werden kann. Da es sich sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland um ausgereifte demokratische Gesellschaften handelt, kann die zunehmend lautstark geäußerte Forderung nach einer Änderung der Einstellung zur Vergangenheit - in Deutschland als Vergangenheitsbewältigung bezeichnet - nicht einfach beiseite geschoben werden. Eine Debatte muss geführt werden.

Ein Gespräch, das Stimmen aus beiden Kontexten einbezieht, hat das Potenzial, eine versöhnliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ermöglichen. Deutschland hat bereits Erfahrung mit der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, einschließlich der Auseinandersetzungen zwischen der schweigenden Eltern- und Großelterngeneration nach 1945 einerseits und den jungen Menschen, die seit den 1960er Jahren Entschuldigungen und gesellschaftliche Korrekturen und Reparaturen fordern, andererseits. Während Debatten über den Kolonialismus in Deutschland erst in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen haben, haben Studierende und Aktivisten in Großbritannien Diskussionen über öffentliche Räume, Museen und Universitätslehrpläne angestoßen, die ihre deutschen Kollegen inspirieren.

In den Diskussionen auf dem Forum wurde der starke Wunsch deutlich, die Ansichten derjenigen zu (re)präsentieren, die bisher zum Schweigen gebracht oder ignoriert wurden. Besonders deutlich wurde dies in einem Panel, in dem ein neues digitales Museumsprojekt zum britischen Kolonialismus diskutiert wurde. In einer Präsentation, die das Projekt vorstellte, wurde eine Aufnahme aus der mündlichen Sammlung der Geschichte gezeigt. In einem in Kenia gefilmten Interview spricht ein heute älterer Mann über seine Erfahrungen während des Mau-Mau-Aufstands gegen die britischen Kolonialbehörden in den 1950er Jahren. Seine Berichte sind erschreckend. Er erzählt anschaulich von der Gewalt und dem Hass, der Schwarzen entgegenschlägt, die versuchen, ein unterdrückerisches Regime zu stürzen.

In der anschließenden Diskussion unter den Teilnehmern des Deutsch-Britischen Forums für Demokratie stellten einige die Frage, wie das virtuelle Museumsprojekt die Erzählung des Mannes kontextbezogen vermitteln wolle. Könnte es eine begleitende Archivrecherche geben, um persönliche Erinnerungen zu untermauern? Könnte es eine begleitende Archivrecherche geben, um die individuellen Erinnerungen hervorzuheben? Und könnte es einen Faktencheck zur Vermeidung von Vorwürfen geben, das Museum sei nicht sorgfältig oder akkurat vorgegangen - denn solche Anschuldigungen könnten dessen Ziel untergraben, die Stimmen der zum Schweigen Gebrachten zu erheben und die Öffentlichkeit über das Empire aufzuklären?

Die Befürworter des Museumsprojekts reagierten mit Unmut auf diese Vorschläge Ein Diskutant kritisierte, dass die Frage nach dem historischen Wahrheitsgehalt von Erinnerungen nur bei Schwarzen gestellt würde; bei Weißen, die sich an Unrecht erinnern, würde niemand daran zweifeln, dass ihre Erfahrungen ohne ''Korsett'' dargestellt werden sollten. "Niemand hat Anne Franks Bericht in Frage gestellt", rief ein Mitglied der Diskussionsgruppe in die Runde und brach damit bei vielen der deutschen Teilnehmer ein Tabu. Die Atmosphäre wurde zunehmend angespannter, als jemand ausführte, dass viele Menschen die Tagebücher von Anne Frank als gefälscht abgetan hätten. Die historische Einordnung und die Hintergrundrecherche machten ihre Geschichte kraftvoll und überzeugend - und ermöglichten es, dass ihre Tagebücher in den Kanon der Holocaust-Geschichte aufgenommen wurden. Andere sprachen sich dagegen aus und meinten, dass die Forderungen nach einer Rahmung und Überprüfung der Fakten dazu dienten, den Prozess in die Länge zu ziehen und zu verzögern, um den schwarzen Opfern von Ungerechtigkeit die Anerkennung zu verweigern.

Im Laufe der Diskussion ergaben sich zwei Ansätze, die sich auch in den Gesprächen während des Forums wiederholten. Einer davon stellt die Anerkennung und den Respekt in den Vordergrund und lehnt die Forderung nach weiterem Nachforschen und kritischem Hinterfragen ab, um endlich denen eine Stimme zu geben, die nie eine hatten. Dabei handelt es sich um einen weitreichenden Ansatz, der die dringende Notwendigkeit von Veränderungen und Gerechtigkeit hervorhebt und Verbündete mobilisiert, die frustriert sind über die vermeintlichen Versuche, die Entwicklung zu verlangsamen und die Diskussion zu vertiefen. Sollten bestimmte Informationen nicht vorliegen, so könnten diese laut diesem Ansatz auch später ergänzt werden. Solange die Richtung stimme, könne es losgehen. Der Fokus liegt auf dem Fortschritt. Dazu sagte ein Teilnehmer: "Egal, ob der Bericht beispielsweise eines Kenianers die Geschichte eines Nachbarn erzählt, oder ob seine Erinnerung durch traumatische Ereignisse verzerrt ist, es spielt keine Rolle. So geht er eben mit dem Trauma um."

Der zweite Ansatz, der sich durchsetzte, war etwas vorsichtiger und stellte die einfache Einteilung in Opfer und Unterdrücker in Frage, wobei er die Notwendigkeit von Differenzierungen hervorhob. Die Befürworter dieses Ansatzes vertraten die Ansicht, dass der Einzelne auch unter Unterdrückung und angesichts erheblicher Machtungleichgewichte immer handlungsfähig bleibt, und dass diese Komplexität bei Analysen kolonialer Begegnungen berücksichtigt werden muss. Mündliche Überlieferungen gehörten in den entsprechenden Kontext gestellt, und es sollten die gleichen strengen Maßstäbe für die Überprüfung der Fakten gelten. Genauigkeit bei der Arbeit sei wichtig.

Ist dieser zweite Ansatz etwa ein bewusster Versuch, die Wiederaussöhnung hinauszuzögern? Jene, die des Zauderns und der Verzögerung beschuldigt wurden, wiesen diese Charakterisierung zurück und erklärten stattdessen, dass sie wollten, dass die Versöhnungsbemühungen aufgrund ihrer Gründlichkeit überzeugend wären. Ohne Sorgfalt würde die Gesellschaft nicht nachziehen.

Ein Teilnehmer deutete an, dass die beiden Haltungen eine Trennung in AktivistInnen und WissenschaftlerInnen zum Ausdruck brächten, die mit unterschiedlichen Vorgehensweisen und Erwartungen hinsichtlich der Geschwindigkeit des Wandels bei der Produktion und Verbreitung neuer Narrative arbeiteten. Natürlich sind solche Begriffsbildungen, wenn sie vollständig binär sind, zu vereinfachend, da sie die Intersektionalität nicht berücksichtigen - dennoch könnten sie einen wichtigen Gesichtspunkt aufgreifen. In künftigen Gesprächen sollte ergründet werden, wie sich die beiden Ansätze ergänzen können, anstatt zu einer Konfrontation zu führen. Empathie könnte diese Kluft überbrücken.
Einerseits müssen sich die sogenannten Aktivisten in die Mechanismen einfühlen können, mit denen die sogenannten Wissenschaftler bei der Wissensgenerierung arbeiten - und andererseits müssen sich die ''Wissenschaftler'' in die Enttäuschung der ''Aktivisten'' einfühlen können, die angesichts von Ungerechtigkeitsgefühlen und vermeintlich mangelnder Sachkenntnis ungeduldig daherkommen, weil sie möchten, dass die Gesellschaft das Unrecht anerkennt und sich mit dessen Hinterlassenschaften auseinandersetzt.

Es herrscht ein ständiger Wettbewerb um Werte, und es wird über alles verhandelt. Für viele Menschen sind dies verunsichernde Zeiten. Was bei den Diskussionen während des Forums manchmal zu fehlen schien, war die Bereitschaft, anzuerkennen, dass alle Teilnehmer das Ziel teilen, sich auf unterschiedliche Weise mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, um die Gesellschaft zu verändern; insofern spiegelten die Gespräche die Spaltungen wider, die die Gesellschaft im Allgemeinen kennzeichnen. In Zeiten der Orientierungslosigkeit verlaufen die Wege des Wandels möglicherweise sehr unterschiedlich - und doch lässt sich ein dauerhafter sozialer Wandel am besten durch Zusammenschlüsse erreichen.


 

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