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Nina Simon im Gespräch
„Rassismuskritischer Unterricht geht weit über diversitätssensible Lehrwerke hinaus.“

Porträt Jun.-Prof.in Dr.in Nina Simon
Can Kınalıkaya

In ihrer Forschung beschäftigt sich Jun.-Prof.in Dr.in Nina Simon unter anderem mit der Frage, wie Lehrmaterialien dazu beitragen, Rassismus zu reproduzieren. Im Gespräch erläutert sie Potenziale und Dilemmata des DaF-Unterrichts und reflektiert unter anderem diversitätssensible Lehrwerke aus einer rassismuskritischen Perspektive.

Frau Simon, in Ihrer Forschung setzen Sie sich mit rassismuskritischer Bildung auseinander. Was genau wird unter Rassismus verstanden und warum wird zwischen Rassismuskritik und Antidiskriminierung unterschieden?

Die Erfindung menschlicher ‚Rassen‘ geht auf den europäischen Kolonialismus zurück. ‚Rassen‘ wurden damals erfunden und in eine Hierarchie gebracht, um den Kolonialismus zu legitimieren. Rassismus ist also ein Herrschaftsverhältnis, und wie alle Herrschaftsverhältnisse basiert er auf einem binären Unterscheidungsschema. Bei Rassismus ist das das Unterscheidungsschema zwischen weißen und Schwarzen [1], die innerhalb dieses Verhältnisses unterschiedlich positioniert sind: Schwarze Subjekte sind marginalisiert, weiße privilegiert positioniert.

Häufig wird Rassismus auf Situationen reduziert, in denen eine Person von einer anderen rassistisch diskriminiert wird. Rassismus wird dabei auf die individuelle Ebene beschränkt gedacht. Das maßgeblich von Claus Melter und Paul Mecheril entwickelte Konzept der Rassismuskritik (ausführliche Literaturhinweise finden Sie am Ende des Artikels, Anm.d.R.) hingegen basiert auf einem Verständnis von Rassismus, das neben der individuellen vor allem die strukturelle und die diskursive Ebene in den Blick nimmt. Die letztgenannte Ebene wird zum Beispiel in Lehrwerken sichtbar, aber auch in Filmen, etwa wenn danach gefragt wird, wer wie bzw. wer nicht dargestellt wird. Da Rassismus wie auch andere Herrschaftsverhältnisse unsere Gesellschaft strukturiert und alle Teil dieser Gesellschaft sind, sind auch alle in rassistische Verhältnisse involviert. Das ist ein weiterer wichtiger Unterschied zum Konzept der Antidiskriminierung: Dieses Konzept läuft häufig Gefahr zu suggerieren, dass es möglich ist, sich außerhalb dieser Strukturen zu befinden, wenn man sich nur stark genug gegen Rassismus positioniert. Aber rassismusfreie Räume gibt es nicht. Daher wären Label wie das der sogenannten Schule ohne Rassismus aus rassismuskritischer Perspektive zu problematisieren.

Im Schulsetting geht es darum, sich über diese Wirkungsweise von Rassismus bewusst zu werden. Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass jede*r in diese Strukturen und Diskurse eingebunden ist, um sie nicht unreflektiert zu reproduzieren.

 

Inwiefern spielt das im Kontext von Deutsch als Fremdsprache (DaF) eine Rolle?

Im DaF-Kontext spielt all dies in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Die Frage, wer mit Blick auf Rassismus privilegiert und wer marginalisiert positioniert ist, lässt sich hier allerdings nicht pauschal beantworten. Es hängt immer vom jeweiligen Kontext ab. Wir müssen berücksichtigen, dass privilegierte und marginalisierte Subjektpositionen immer historisch und diskursiv entstanden sind bzw. entstehen. Sie existieren also nicht kontextunabhängig Folgendes Beispiel kann das veranschaulichen: Wenn Sie als Schwarze Person mit deutschem Pass nach Simbabwe reisen, dann sind Sie weißer als Ihre Schwarzen Kolleg*innen dort, weil Sie durch den Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft privilegierter positioniert sind. Die Intendantin des Theaters Dortmund, Julia Wissert, hat das einmal sehr schön in einem Text reflektiert. In dem sehr lesenswerten Roman Identitti von Mithu Sanyal geht es ebenfalls um diese Relationalität von Identität.

Das Besondere am DaF-Kontext ist daher: Es ist erforderlich, sich diese Komplexität und Relationalität von Identität immer wieder neu bewusst zu machen. Zugleich geht mit dieser Notwendigkeit das Potenzial einher, eben darauf zu reflektieren.

 

Für den DaF-Unterricht ist das also eine Chance und ein Risiko?

Ich sehe darin wie gesagt vor allem ein großes Potential: DaF kann überall auf der Welt unterrichtet werden. Damit wird es möglich, Herrschaftsverhältnisse und Identitätspositionen in unzähligen Kontexten zu reflektieren. Diese Tatsache kann dazu beitragen, die Komplexität von Rassismuskritik zu steigern. Komplexitätsreduktion ist ein zentrales Kennzeichen von Rassismus. Indem wir die Komplexität erhöhen, bekämpfen wir gewissermaßen auch Rassismus. Institutionen wie das Goethe-Institut oder der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) haben besonders gute Möglichkeiten, an dieser Komplexitätssteigerung mitzuwirken, weil sie global agieren. Sie sind nicht, wie beispielsweise staatliche Schulen, auf einen lokalen Kontext beschränkt. Das bedeutet natürlich nicht, dass staatliche Schulen Rassismuskritik nicht vorantreiben können und sollen.

Die Entstehungsgeschichte von Deutsch als Fremdsprache und die Tatsache, dass überall auf der Welt Deutsch gelernt wird, ist sehr eng verwoben mit dem Kolonialismus. Neben der genannten Möglichkeit zur Komplexitätssteigerung besteht für mich das größte Potential darin, sich vor Augen zu führen, dass DaF und damit Institutionen wie das Goethe-Institut sehr ambivalent sind. DaF trägt nach wie vor dazu bei, dass Deutsch als eine wertvolle Sprache verhandelt wird und damit gegenüber anderen Sprachen privilegiert ist. Aus rassismuskritischer Perspektive ist das problematisch, weil es zur Aufrechterhaltung bestehender und aus dem Kolonialismus erwachsener Herrschaftsverhältnisse führt. Zugleich aber wird durch DaF auch etwas ermöglicht. Diese Ambivalenz ins Zentrum unserer Überlegungen zu stellen, erscheint mir sehr wichtig. Sie ist nicht nur zentral für postkoloniale Theorietraditionen, sondern gewinnt auch mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse, die dazu neigen Ambivalenz zu nivellieren, an Bedeutung.

 

Wie werden Herrschaftsverhältnisse im Lehrmaterial sichtbar? Wie sollten Lehrkräfte damit umgehen?

Diversitätssensibilität wird bei der Konzeption von Lehrwerken immer stärker berücksichtigt. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden in Lehrwerken meist nur privilegiert positionierte Subjekte abgebildet: weiße Subjekte, heterosexuelle Subjekte oder mit Blick auf Klassenverhältnisse privilegierte Subjekte. Diese Repräsentationen in Lehrwerken wirken sehr stark, vor allem, wenn sie im Unterricht nicht kritisch reflektiert werden.

Ich glaube allerdings nicht, dass diversitätssensible Lehrwerke ausreichen, um Kritik an Rassismus und auch anderen Herrschaftsverhältnissen zu üben und so auf deren Schwächung abzuzielen. Wir können auch mit herkömmlichen, größtenteils nicht diversitätssensibel gestalteten Lehrwerken guten DaF-Unterricht machen. Das setzt voraus, dass die Lehrperson entsprechend ausgebildet ist, um mit den Lernenden diese Lehrwerke inklusive der darin auszumachenden Repräsentationen machtkritisch zu hinterfragen. Wenn ein Lehrwerk mit dem Label ‚diversitätssensibel‘ versehen ist, birgt das zwei tendenzielle Gefahren in sich: Zum einen könnte der Eindruck entstehen, damit sei schon alles erledigt. Damit müsse die Lehrkraft nicht mehr darüber nachdenken, wie sie ihren Unterricht gestaltet oder wie sie selbst und die Lernenden in Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind. Zum anderen kann die Praxis der Dekonstruktion nur erlernt werden, wenn es etwas zu dekonstruieren gibt. Und gerade auch diese Praxis im DaF-Unterricht einzuüben, erachte ich für ein zentrales Moment.

 

Unter welchen Gesichtspunkten können Lehrkräfte ihr Material kritisch analysieren?

Aus wessen Perspektive wird eine Geschichte erzählt? Wer ist Objekt, wer ist Subjekt? Wer hat welchen Beruf, welche Ziele? Wer nimmt welche Rolle ein? Diese Fragen sollten sich Lehrende in Bezug auf ihr Material stellen. Es gibt Leitfäden, die den kontinuierlichen Prozess der Reflexion unterstützen können, zum Beispiel vom Autor*innenKollektiv Rassismuskritischer Leitfaden. Er dient nicht nur der Befragung von bestehenden Unterrichtsmaterialien, sondern auch der Erstellung neuer. Dort finden sich eine Menge Fragen, die sich auf verschiedene Niveaustufen und Medien anwenden und neben Rassismus auch für weitere Herrschaftsverhältnisse inklusive deren intersektionalen Zusammenwirkens fruchtbar machen lassen.

Die Analyse von Material kann die selbst- und machtkritische Reflexion auf die eigene Involviertheit in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse jedoch wie gesagt nicht ersetzen. Das ist ein lebenslanger Prozess und damit ein sehr viel längerer und intensiverer, als sich in als diskriminierungskritisch eingestufte Schulbücher einzuarbeiten.

 

Können Sie das genauer erklären? 

Lebenslang und intensiv ist dieser Prozess, weil wir vorhandene Privilegien, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir als selbstverständlich erachten, ‚verlernen‘ müssen, wie es die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak bezeichnet. Und dieses Verlernen kann nicht durch Material ersetzt oder in zweistündigen Fortbildungsformaten abgehandelt werden. Beides kann ein produktiver Ausgangspunkt sein, aber der Prozess des Verlernens an und für sich ist ein fortlaufender. Zu Beginn geht es darum zu verstehen, was Rassismus ist und wie ich innerhalb rassistischer Verhältnisse positioniert bin. Erst im nächsten Schritt kann ich mich fragen: Was heißt das mit Blick auf mich als Lehrkraft, mit Blick auf meine Unterrichtspraxis, mit Blick auf diejenigen, die ich unterrichte? Ich erlebe oft eine Frustration bei Teilnehmer*innen, die innerhalb von zwei Stunden rassismuskritische Lehrkräfte werden sollen, obwohl in dieser Zeit kaum vermittelt werden kann, was Rassismus ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass Bildung Zeit braucht und Verlernen als spezifischer Bildungsprozess vermutlich sogar noch mehr. Selbstreflexion kostet Kraft, sie kann unangenehm sein und sie braucht Raum.

 
[1] Die Schreibweise von weiß und Schwarz orientiert sich an den Empfehlungen von Amnesty International zur diskriminierungssensiblen Sprache.
 
Expertin
Jun.-Prof.in Dr.in Nina Simon ist seit April 2021 Juniorprofessorin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache mit dem Schwerpunkt Kulturstudien am Herder-Institut der Universität Leipzig. Sie arbeitet aus gesellschaftstheoretisch-reflexiver Perspektive unter anderem zu Fragestellungen des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache und der Kulturellen Bildung. Zu ihren momentanen Forschungsschwerpunkten zählen das Zusammenwirken von Wissen(sproduktion) und Machtverhältnissen, (Subjekt-)Bildungsprozesse und qualitativ-rekonstruktive sowie diskursanalytische Forschung in DaF/Z-Kontexten.

Literaturhinweise
Claus Melter / Paul Mecheril: Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus, in: Migrationspädagogik, hg. von Paul Mecheril, María do Mar Castro Varela, İnci Dirim, Annika Kapalka und Claus Melter, Weinheim 2010, S. 150-178.

Wissert, Julia (2018): Was würden wir atmen, wenn weiße Menschen nicht die Luft erfunden hätten? In: Liepsch, Elisa / Warner, Julian / Pees, Matthias (Hg.): Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen. Bielefeld, 246-260.

https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/67/5b/fa/oa9783839443408OKITS02eXD4EE.pdf

Sanyal, Mithu (2021): Identitti. (2. Auflage.) München.


 

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