Yuya Ishii im Interview
Die düstere Poetik der Großstadt

“The Tokyo Night Sky Is Always the Densest Shade of Blue”
“The Tokyo Night Sky Is Always the Densest Shade of Blue” | © Berlinale 2017

„Du, der sich selbst bemitleidet, Du, den niemanden liebt, Du darfst die Welt vollkommen hassen.“ Aus: Tokyo Sky Is Always the Densest Shade of Blue (2017)
 

Ryunosuke Akutagawa beschrieb die Gründe für seinen Selbstmord in Das Leben eines Narren (1927) wie folgt: „... zumindest in meinem Fall ist es nur eine vage Angst. Eine vage Angst vor irgendetwas in meiner Zukunft ...“ - Diese Worte kamen mir bei dem in Tokyo Sky Is Always the Densest Shade of Blue (2017) geschilderten tristen Alltag Tokioter Jugendlicher in den Sinn. Auch fast 100 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers teilen viele Jugendliche in der 13-Millionen-Metropole seine Gefühle: eine diffuse Angst, die dunkle Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren wird.
 
Diese Schattenseiten des Großstadtlebens schildert der Film mit einer guten Portion Sarkasmus: Mika (Shizuka Ishibashi), arbeitet als Krankenschwester und jobbt nebenbei in einer Hostess Bar in Tokyo. Auf den Straßen von Shibuya begegnet ihr immer wieder Shinji (Sosuke Ikematsu), der als Tagelöhner auf einer Baustelle arbeitet. Ein Freund aus Berlin, mit dem ich den Film zusammen sah, sagte mir, die Atmosphäre im Film erinnerte ihn an Lost in Translation (2003). Obwohl er im Vorfeld noch angedroht hatte, er würde sofort hinausgehen, wenn er den Film nicht mögen sollte, blieb er nicht nur sitzen – sondern unterhielt sich mit mir im Anschluss bis 2 Uhr morgens über die einzelnen Szenen.

Film oder Gedicht?

Der Film basiert auf Gedichten der Schriftstellerin Tahi Saihate (geb. 1986). Dementsprechend wird nicht nur eine Vielzahl von ihnen zitiert, sondern auch die Gedanken der Figuren selbst, insbesondere Shinjis, werden in Reimform dargestellt. Shinji ist „ein Mann, der allein eine Seite der Welt sehen kann“. Dabei unterscheidet sich seine Sichtweise radikal von der von Mika. Der Wunsch von einander verstanden zu werden, zwingt beide dazu nach und nach ihre Perspektiven zu erweitern, um einander näher zu kommen. Ihre allmähliche Annäherung wird visuell mit Anime Spezialeffekten untermalt. So sieht Shinji bei der Betrachtung von Rechnungen beispielweise mit einem Mal Schriftzeichen durch den Nachthimmel treiben.
 


 
Regisseur Yuya Ishii im Interview

Regisseur Yuya Ishii (geb. 1983) machte sich in der japanischen Filmszene schon früh einen Namen. 2010 wurde er als bester Regisseur bei den Blue Ribbon Awards ausgezeichnet und sein Film The Great Passage (2013) wurde nicht nur als bester Film bei den Japanese Academy Awards ausgezeichnet, sondern auch für Japan als „Bester ausländischer Film“ bei den Oscars eingereicht (auch wenn er letztlich keine Nominierung erhielt). Tokyo Sky Is Always the Densest Shade of Blue (2017) ist sein elfter Film.
 
石井裕也監督
石井裕也監督 | © 長田紫乃
Wie war die Reaktion der Zuschauer auf der Berlinale? Gab es Fragen beim Q &A mit denen Sie nicht gerechnet hatten?

Nein, mit dem Großteil der Fragen hatte ich im Großen und Ganzen gerechnet. Doch ehrlich gesagt, hat mich gerade das sehr gefreut. Auch wenn der Film den Alltag von Jugendlichen in Tokyo beschreibt, wurde er hier in Berlin verstanden. Es war gut hierher zu kommen und das zu erleben, denn ich wollte keinen Film machen, der nur ein Bild des heutigen Tokyos zeichnet, sondern ein allgemeineres Stimmungsbild skizzieren.
 
Haben Sie bei Ihrem Besuch Ähnlichkeiten zwischen Berlin und Tokio gespürt?

Nicht so sehr gefühlsmäßig, sondern eher rational gesehen denke ich, dass die fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften in Deutschland und Japan an einem Scheideweg angelangt sind, von dem aus es nicht mehr weiter Berg auf gehen kann. Ich glaube, die Grundstimmung in beiden Ländern, die diffuse Angst, dass es von nun an nur noch abwärts gehen kann, ist einander nicht unähnlich.
 
Obwohl Sie im Film eine Liebesgeschichte erzählen, berühren sich die beiden Protagonisten Shinji und Mika im Film kaum. Gibt es einen Grund dafür?  


Nun, in indischen Filmen wird in besonders passionierten Momenten zwischen Mann und Frau getanzt. Sie haben keinen Sex, sondern tanzen. Das mag ich sehr. Auf ausländischen Filmfestivals werde ich oft gefragt, warum die Figuren in meinen Filmen sich nicht z.B. über eine Umarmung annähern, wenn Worte scheitern, aber Japaner umarmen sich nun mal nicht. Gerade in dieser Distanz entsteht die Spannung, gibt es Leidenschaft, wird es interessant. Eine Umarmung spendet nur vorübergehend Trost. Das Interessante, das in dieser Distanz liegt, soll spürbar sein. Im Film berühren sich die Beiden nur zwei Mal, und wie viel Spannung sich daraus gewinnen lässt, ist für mich als japanischer Regisseur die eigentliche Herausforderung.
 
Dem Protagonisten Shinji geht es schlecht, wenn er nicht redet. Seine Stimmung schlägt abrupt um. Wie haben Sie den Schauspieler hier geführt? Stand alles genauso im Drehbuch oder wurde viel improvisiert?


Improvisiert war es nicht, aber Soseke Ikematsu hat bisher wohl noch nicht viele Rollen gespielt, in denen die Stimmung seines Charakters quasi auf Knopfdruck umschlägt. Es war unsere vierte Zusammenarbeit und ich wollte in diesem Film einmal eine ganz andere Seite von ihm zeigen.

Hat nicht jemand einmal gesagt, dass er selbst zwar unterschiedlichste Stimmen hören kann, seine eigene Stimme aber niemanden erreicht? Dieses Gefühl haben in meinen Augen heute viele und es umschreibt auch Shinjis Geisteshaltung. Er wird von Unsicherheiten geplagt, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als Worte wie ein Maschinengewehr in die Welt zu schießen.


Doch auch wenn die Zukunft düster ist, gibt es in Ihrem Film auch Hoffnung, nicht wahr?

Was macht einen Autor aus? Erstellt er nur Kopien und zeigt die Welt, in ihrer jetzigen Form, mit der es immer weiter bergab geht? Ich möchte das nicht. Ich will zeigen, wie man im Angesicht der traurigen Realität, trotzdem weitermachen kann. Ich will niemanden meine Ansichten aufdrängen, aber ich wäre mit mir selbst als Filmemacher unzufrieden, wenn ich nicht Auswege aufzeigen würde. Man weiß nie, was die Zukunft bringt. Es kann sich ja schließlich auch alles zum Guten wandeln, die eigene Perspektive und feste Überzeugungen  können sich ändern. Das habe ich von den Werken Saikaku Iharas gelernt. In seinem Vorwort zu Saikakus Erzählungen aus den Provinzen (1685) schrieb er:  „Menschen sind Monster“. Im Grunde sagte er, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Menschen sind zu unvorstellbaren  Grausamkeiten fähig. Doch ebenso sind sie zu unvorstellbaren Akten der Liebe fähig. Aus Monstern können Engel werden, niemand ist unveränderlich. Diesen Glauben an  die Veränderung von Wertvorstellungen habe ich von Saikaku Ihara. Ich habe das aber noch nie  direkt ausgesprochen, weil ich es glaube ich niemandem wirklich begreiflich machen kann. (lacht)

Im Film schneiden Sie Themen, wie „Gastarbeiter, Naturkatastrophen, Tod und Olympia“ an und spiegeln damit aktuelle soziale Fragstellungen in Japan wider.  Liegt Ihnen die Integration solcher Themen am Herzen?

Die Stadt ändert sich ständig. Bei diesem Film begannen die Dreharbeiten im September und das Drehbuch habe ich angefangen im Mai des gleichen Jahres zu schreiben. Es war also eine Blitzaktion, deswegen zeigt dieser Film vielleicht eine sehr klare Momentaufnahme. Ich habe zwar schon oft Filme so kurz nach der Drehbucherstellung gedreht, doch die Stimmungslage  änderte sich im Laufe der Zeit und das spiegelte sich natürlich auch in den Filmen wider. Diesmal war das nicht der Fall. Bereits die Ausgangsszene in der Mika an den zahllosen Baustellen in Shibuya entlangspaziert, lässt sich nur jetzt filmen und genau das wollte ich dokumentieren.

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