Deutsche Spuren im Libanon
Libanon bei den Olympischen Spielen in München 1972

Olympische Silbermedaille: München 1972
© Goethe-Institut Libanon

Als Muhamad Khair Traboulsi im Sommer 1972 in Beirut das Flugzeug nach München besteigt, fühlt er sich sportlich in Bestform. Mehrere Wochen Kraft- und Ausdauertraining und technische Vorbereitungen liegen hinter ihm. 

Bei Wettkämpfen im Libanon, in Syrien und in der Türkei hatte der 1950 in Beirut geborene Athlet im Gewichtheben mehrfach erste Plätze belegt. Seine einzige Sorge galt dem Wetter in Deutschland und damit verbunden seiner Leistungsfähigkeit. Muhamad Traboulsi hatte Angst vor einer Erkältung. 

Sanft setzte das Flugzeug mit den 19 libanesischen Sportlern am 14. August 1972 am damaligen Flughafen München Riem auf. Fluggastbrücken gab es damals keine. Muhamad und seine Kameraden  gingen zu Fuß vom Flugzeug zum für die Olympischen Spiele herausgeputzten Terminalgebäude, um nach einer kurzen Pass- und Gepäckkontrolle von ehrenamtlichen Helfern als Athlet empfangen zu werden. Muhamad Khair Traboulsi ist erleichtert: die Sonne scheint, angenehme 25 Grad lassen die Angst vor einem nasskalten Deutschland sofort verschwinden. 

Mit den Mitgliedern seiner Delegation aus dem Libanon zieht er in eines der zwei neu errichteten Olympischen Dörfer, die von 1. August bis 18. September 1972 über 13.000 Sportlerinnen und Sportlern eine Heimat auf Zeit geben sollten. Die Neubauten hatten allen für die 1970er Jahre denkbaren Luxus. In einer Notiz im Olympischen Archiv findet sich ein Eintrag, der von Muhamad Traboulsi stammen könnte: Ruhe, viel Grün, fließend kaltes und vor allem warmes Wasser in den Duschen, moderne Küchen, Farbfernseher und kurze Wege zu den Trainings- und Sportstätten. 

Muhamad Traboulsi war jung und ehrgeizig. Bereits einen Tag nach der Ankunft nahm er sein Training wieder auf. Bei der Eröffnung am 26. August 1972 zog er stolz als Teil des libanesischen Teams in das neue Olympiastadion in München ein. 62.000 Menschen jubelten den Sportlerinnen und Sportlern zu. Das freitragende, weit geschwungene Dach des Münchner Stadions war vom Grün in der Mitte aus noch beeindruckender. Am Vortag hatte Muhamed Traboulsi mit Gewichthebern aus anderen Ländern das olympische Gelände von oben, von der Aussichtsplattform des damals ebenfalls neu errichteten Münchner Fernsehturms bewundert. 

Die Stimmung bei der Eröffnung war ergreifend, auch für Muhamad Traboulsi, der von den deutschsprachigen Durchsagen nur sehr wenig verstand, doch der damalige Stadionsprecher Joachim Fuchsberger informierte auch in englischer und französischer Sprache. Über 90 Minuten lang dauerte der Einmarsch der Athleten, begleitet von einem Musikmedley aus europäischen, chinesischen, arabischen, afrikanischen und südamerikanischen Klängen – gespielt von der Bigband des damals bekannten Bandleader Kurt Edelhagen. Offiziell eröffnet wurden die Spiele durch den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, den Präsidenten des Organisationskommittee Willi Daume und den IOC-Chef Avery Brundage. Das Grußwort der Jugend kam von über 3.500 Münchner Schulkindern, begleitet vom Tölzer Knabenchor. Die Eröffnung war  im Stil der „Flower Power“ gehalten und ideal inszeniert für das Farbfernsehen, das Anfang der 1970er Jahre in Deutschland Einzug gehalten hatte. Nach Hissen der Olympischen Flagge und Entzündung des Olympischen Feuers stiegen 5.000 Friedenstauben in die Luft, um der Welt die Botschaft harmonischer und glanzvoller Spiele zu senden. 

Die Wettbewerbe im Gewichtheben begannen gleich am Tag nach der Eröffnungsfeier. Insgesamt 188 Sportler nahmen in neun Gewichtsklassen daran teil.  Muhamad Traboulsi hatte seine Konkurrenten genau beobachtet: Stil, Herangehensweise an die Gewichte, Atemtechnik und Kraftpotential in Armen, Bauch und Beinen hatte er bei seinen Gegnern in Augenschein genommen. Er wollte Rückschlüsse ziehen, wie stark die anderen Sportler im Reißen, Stoßen und Drücken, dem klassischen Dreikampf im Gewichtheben, waren. 

Siegermeldung in der Zeitung AL- Hawadeth vom 8. September 1972
Siegermeldung in der Zeitung AL- Hawadeth vom 8. September 1972 | Mit freundlicher Genehmigung von UMAM Documentation and Research
Am 30. August 1972 gelang Muhamad Traboulsi die Sensation. Mit insgesamt 472,5 Kilo holte er im Mittelgewicht für den Libanon die Silbermedaille. Er ließ den Italiener Anselmo Silvino mit 2,5 Kilo hinter sich und musste sich nur dem Bulgaren Yordan Bikov, der nochmals 12,5 Kilo mehr schaffte, geschlagen geben. Knapp hätte Muhamad Traboulsi  sogar Gold holen können. Er versucht sich im Reißen mit 146,5 Kilo, was ein neuer Weltrekord gewesen wäre, scheiterte jedoch, so dass dieser Versuch nicht in die offizielle Wertung mit aufgenommen wurde. 

Die Freude über Muhamad Traboulsis Sieg war unbeschreiblich. Die wenigen aus dem Libanon angereisten Journalisten überschlugen sich. Zwei Tage lang war der junge Sportler auf der Titelseite aller Tageszeitungen und Hauptnachricht im staatlichen Fernsehen. 1952 hatte das Land zwei Medaillen errungen, danach gingen die libanesischen Sportler immer leer aus. Der Gewinn von Silber in München war Balsam für die libanesische Seele. Am Abend des Erfolgs feierte er in kleinem Kreis mit seinen Trainers und Betreuern.  Stolz ging Muhamad Traboulsi mit seiner Medaille im olympischen Dorf spazieren und freute sich über die Glückwünsche vieler anderer Sportler aus aller Herren Länder.

Die entspannte Stimmung, die Freude über den Erfolg kam zu einem jähen Ende: Am 5. September 1972 nahmen PLO-Kämpfer 11 israelische Delegationsmitglieder im olympischen Dorf als Geiseln. Die Geiselnehmer verlangten die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischer Gefangenschaft. Eine weitere Forderung war die Freilassung der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof sowie des japanischen Terroristen Kozo Okamoto. Zunächst liefen die Spiele trotz Geiselnahme noch weiter, wurden dann aber nach zahlreichen Protesten von Sportlerinnen und Sportlern und der Öffentlichkeit unterbrochen. Die Regierung Israels, die sofort eingeschaltet worden war, lehnte jede Form von Verhandlungen ab. Bei einem Befreiungsversuch der deutschen Sicherheitskräfte kamen alle Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist ums Leben. 

Die Wohnhäuser der Athleten wurden zur Hochsicherheitszone. Die Spiele wurden unterbrochen, das Gelände hermetisch abgeriegelt, einige Athleten evakuiert. Auf den Dächern aller Häuser standen Scharfschützen. Panzerwagen waren aufgefahren. Wie waren die PLO-Attentäter unbemerkt auf das Gelände gekommen? Hatten sie Helfer innerhalb des olympischen Dorfes? Alle waren verdächtig, auch Muhamad Traboulsi. Hatten libanesische Sportler den PLO-Kämpfern geholfen. Muhamad Traboulsi geriet in das Fahndungsraster der Münchner Polizei und des deutschen Verfassungsschutzes. Schon seit längerem kursierten Erkenntnisse über Verbindungen deutscher Terroristen der Roten Armee Fraktion, RAF, in den Libanon. Hatten die Sportler aus dem Libanon etwa Geld oder einfach Informationen, Namen und Adressen für deutsche RAF-Kämpfer im Gepäck? 

Muhamed Traboulsi wurde nach einer kurzen Vernehmung durch die deutsche Polizei Unbedenklichkeit bescheinigt. Traboulsi war Sportler mit Leib und Seele, freute sich über seine Medaille. Politische Aktivitäten waren nie seine Sache gewesen. Doch er hatte Angst, dass die Spiele nun beendet und sein Erfolg in München für immer im Zeichen des Terrors und nicht im Zeichen der sportlichen Leistung stehen werde. 

Doch die Verantwortlichen in München und beim IOC wollten die Olympischen Spiele 1972 nicht unter das Joch von Terroristen stellen. Nach dem blutigen Ende der Geiselnahme blieben die Spiele für einen Tag unterbrochen. Nach einer Trauerfeier im Olympiastadion ließ IOC-Präsident Avery Brundage sie mit dem Satz „The games must go on!“ fortführen.

Die Stimmung im Olympischen Dorf wandte sich wieder zum Positiven. Sport und sportlicher Wettbewerb, internationale Freundschaft und die Olympische Idee hatten über Terror und politischen Extremismus gesiegt. Auch Muhamed Traboulsi glaubte stets an die völkerverbindende Kraft des Sports. 

Die Abschlussfeier der Olympischen Spiele fand am 11. September 1972 statt, einen Tag später als zunächst geplant. Die Athleten und ihre Betreuer sorgen mit ihren Flaggen ins Stadion ein und nahmen im inneren Grün hinter ihren Flaggen Aufstellung. Die Lichtstimmung im Stadion wurde dunkler. Avery Brundage betrat das Podium. Es war der letzte offizielle Auftritt  des seit 1952 amtierenden IOC-Präsidenten, der sein Amt an den Iren Lord Killanin übergab. Als letzte Amtshandlung erklärte Avery Brundage die Spiele in München für beendet. Viele Sportlerinnen und Sportler hatten Tränen in den Augen. Die Stimmung war voll emotionaler Rührung. Avery Brundage richtete sich im Anschluss in deutscher Sprache an das Publikum:
Liebe Münchner, Ihre herzliche und liebenswürdige Gastfreundschaft hat uns tief bewegt. Die Tage der strahlenden Freude haben wir zusammen gefeiert, und die schweren Stunden tiefster Dunkelheit haben wir mit Ihnen gemeinsam ertragen. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Wir kehren in unsere Heimat zurück und rufen Ihnen allen zu: Auf Wiedersehen!

Nach minutenlangem Applaus von Sportlern und Zuschauern erlosch das Licht. Der 85-jährige Avery Brundage ging zur Ehrentribüne zurück. Auf der Anzeigetafel des Stadions stand „Thank you, Avery Brundage“. Das einzige Licht in diesem Moment spendete das Olympische Feuer. Nach einem Moment der Stille erlosch das Olympische Feuer um 20.02 Uhr unter den Klängen einer Trompete und Pauken. Alle Sportlerinnen und Sportler sowie alle Gäste erhoben sich, um den Opfern der Geiselnahme zu gedenken. 

Muhamed Traboulsi berichtete noch oft von diesem berührenden Moment. Auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere war er auf deutschem Boden Teil der Weltpolitik und einer Zeremonie geworden, die von über einer Milliarde Menschen weltweit live verfolgt wurde. Zurück nach Deutschland hat er es nie wieder geschafft.

Empfang in Beirut in Az-Zaman vom 18. September 1972
Empfang in Beirut in Az-Zaman vom 18. September 1972 | Mit freundlicher Genehmigung von UMAM Documentation and Research
Bei seiner Rückkehr aus München bekam er eine Ehrung von damaligen libanesischen Premier Saeb Salam und im Anschluss die Möglichkeit, einen Job bei der Feuerwehr zu erhalten. Ende 1972 war Muhamed Traboulsi bei den World Championships im Gewichtheben erfolgreich. 1978 und 1982 setzte er sich im Leichtgewicht bei den Asia-Spielen durch. Seine Freundschaft zu Deutschland, seine Erinnerungen an München, blieben ungebrochen.  Am 1. Januar 2002 verstarb Muhamed Traboulsi an den Folgen einer Krebserkrankung. Seine Silber-Medaille aus Deutschland hatte er sich über das  Krankenbett gehängt.

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