Mehrgenerationenhäuser
Unter einem Dach
Wohnen im Mehrgenerationenhaus – dahinter steht die Idee, dass sich Alt und Jung gegenseitig unterstützen. In Deutschland wird diese Wohnform immer beliebter, auch bei Senioren. Doch gibt sie auch Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Fragen?
Unter Menschen, am besten mit Kindern, mitten in der Stadt und mit Grün vor dem Haus – so schwebte Ingrid Vetter ihr Leben im Alter vor. Im „Leuchtturm“, einem Mehrgenerationenhaus mitten im belebten Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg, fand sie vor drei Jahren ihr Traumhaus. Auch Rainer Gebauer machte sich irgendwann Gedanken, „wie man das Alter verbringen will“. Weil er und seine Frau sich ein Leben im Altersheim nicht ausmalen wollten, machten sie sich auf die Suche nach einer Wohnalternative für ihren Lebensabend und stießen ebenfalls auf den „Leuchtturm“. Seit 2009 lebt das Ehepaar mit einer buntgemischten Hausgemeinschaft aus Alt und Jung unter einem Dach.
Wohnmodell mit Zukunft
In gemeinschaftlichen Wohnprojekten wie dem Berliner „Leuchtturm“ steckt Potenzial. Das legt allein schon die demografische Entwicklung nahe: Während in Deutschland immer mehr Ältere leben, schrumpft der Anteil der Jungen. Aber auch Anforderungen der Arbeitswelt an Flexibilität und Mobilität, zunehmende Individualisierung und Auflösung traditioneller Familienstrukturen zwingen zum Nachdenken über neue Formen des Zusammenlebens. Weil immer weniger Menschen Kinder und Enkelkinder haben oder diese in anderen Städten leben, fallen verwandtschaftlicher Kontakt und Beistand immer häufiger weg.Während das Zusammenleben aller Generationen unter einem Dach einst selbstverständlich war, ist es heute die absolute Ausnahme. Mehrgenerationenhäuser sind somit in gewisser Weise ein Schritt zurück in die Vergangenheit, in der gewöhnlich drei Generationen unter einem Dach lebten. Austausch und Unterstützung sind allein schon dadurch gesichert, dass die Organisation des Zusammenlebens kein Nebeneinander, sondern nur ein echtes Miteinander zulässt: Die Bewohner entscheiden selbst darüber, wer einzieht, sie organisieren das Wohnen selbst, ebenso wie sie Regeln des Zusammenlebens entwickeln und dieses aktiv gestalten.
Die neue Wohnform spricht Alt und Jung gleichermaßen an: So halten laut Vorwerk Familienstudie 2012 denn auch 79 Prozent der über 60-Jährigen Mehrgenerationenhäuser für eine „gute Sache“ und 55 Prozent könnten sich vorstellen, selbst in einem solchen Haus zu leben. Bei den Jüngeren stößt das Modell auf fast ebenso große Resonanz. Wobei Personen mit höherer Bildung und höherem Einkommen den neuen Formen des Zusammenlebens aufgeschlossener gegenüber stehen.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Trotzdem ist Mehrgenerationenwohnen noch „ein reines Nischenprodukt“, erklärt Bernhard Heiming, Geschäftsführer des Bauunternehmens BB Hausbau und ehrenamtlicher Arbeitskreisleiter Seniorenimmobilien des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen. Seit einigen Jahren wurden zwar vermehrt Einzelprojekte gegründet, die häufig Privatinitiativen entspringen. Um echte Lösungen auf gesellschaftliche Probleme zu bieten, müsste nach Meinung Heimings die Idee des Mehrgenerationenwohnens jedoch über Insellösungen hinausgehen und auf Quartierskonzepte übertragen werden, die ein Umfeld schaffen, das der demografischen Entwicklung tatsächlich gerecht wird.Die Politik hat das Potenzial des Ansatzes für Kommunen erkannt und fördert mit ihrem „Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser“ seit 2006 bundesweit rund 450 teilnehmende Häuser. Diese sollen vor Ort als Drehscheiben für Informationen und Dienstleistungen etabliert werden, die Menschen verschiedenen Alters benötigen: Vom Computerkurs über die Leih-Oma bis zu Hausaufgabenhilfe und Mittagstisch für Schulkinder reicht die gegenseitige Unterstützung nach dem Vorbild der Großfamilie.
Mehr Lebensqualität
Doch lösen die neuen altersübergreifenden Wohnformen auch Probleme, die sich durch den demografischen Wandel der Gesellschaft ergeben? Yvonne Kuhnke untersuchte in ihrer Masterarbeit nachbarschaftliche Hilfen in Mehrgenerationenwohnprojekten. Sie konnte keine haltbaren Anzeichen finden, dass sich die von Forschung, Medien, Akteuren des Wohnungsmarktes und der Politik vorgebrachten hohen Erwartungen in den tatsächlich gelebten Unterstützungsbeziehungen widerspiegeln. Zwar greift man sich in solchen Wohnprojekten durchaus gegenseitig unter die Arme, von der Hilfe beim Einkauf über Kinderbetreuung bis zum Bekochen im Krankheitsfall, doch handelt es sich bei den Hilfeleistungen „überwiegend um ‚typische‘ Unterstützungsleistungen unter Nachbarn mit überschaubarem Umfang und geringem Maß an Verbindlichkeit“. Gerade die Verantwortung für die Pflege können oder wollen Nachbarn in der Regel nicht übernehmen. „Derartige Projekte sollten in Zukunft nicht unter dem Fokus einer Entlastung der öffentlichen Hand betrachtet werden“, schlägt Kuhnke daher vor, „sondern in ihrer Bedeutung für die Lebensqualität“.Mehr Lebensqualität war auch für die „Leuchtturm“-Gemeinschaft der springende Punkt, sich zu einer Hausgemeinschaft zusammenzutun. Die Kinder freuen sich über Gummibärchen von Ersatz-Oma Ingrid Vetter und sie selbst genießt ihre bunte Wahlfamilie. Ein Fallnetz für Ernstfälle sollte das Mehrgenerationenhaus für sie nie sein: „Von meinen Nachbarn erwarte ich Pflegeleistungen ja gar nicht. Pflege würde ich anders organisieren“, erklärt Ingrid Vetter. Allein das Wissen darum, dass ihr im Krankheitsfall mal jemand etwas koche, sei schon viel wert. Aber man habe bisher den Ernstfall auch noch nicht erlebt. „Und wer weiß heute schon, wie man mit einem Pflegefall im Haus umginge“, meint Rainer Gebauer, „wie’s kommt, so kommt’s.“