Soziale Balance
Die Neuerfindung der Europäischen Union

Europa
Europa | Foto: ©colourbox

„Hinter all den medialen Schlagzeilen, die uns eine EU in der Krise weismachen, geschehen spannende Dinge“, sagt Sten Inge Jørgensen. In seinem neuen Buch zeigt er, warum die EU für mehr steht, als es die Konfliktszenarien vermuten lassen.
 

In den letzten zehn Jahren haben die Medien jede einzelne Woche das Bild einer EU in der Krise beschworen. Populisten und Nationalisten gewinnen an Einfluss, die Finanz- und die Flüchtlingskrise schaffen enorme Konflikte, und die Briten wollen nur noch raus.  
Von Norwegen aus betrachtet wirkt es fast wie ein Wunder, dass die EU noch nicht völlig zusammengebrochen ist. Der Widerstand gegen die EU in unserem Land war noch nie so hoch wie gerade jetzt – vielleicht sind nur 15 Prozent der Bevölkerung der Meinung, wir sollten der EU beitreten.

Mit diesem deprimierenden Ausgangspunkt begann ich vor zwei Jahren die Arbeit an einem neuen Buch über die EU. Als außenpolitischer Redakteur mit der EU als Spezialgebiet wusste ich, dass die Wirklichkeit weitaus nuancenreicher ist, und ich wollte vermitteln, dass die EU mehr zu bieten hat, als es die Konfliktszenarien vermuten lassen. Aber selbst ich war positiv überrascht über die sehr vitale Zusammenarbeit innerhalb der EU – wenn man bereit ist, hinter die Fassaden der schrillsten Konflikte zu blicken. Die Integration auf zentralen Gebieten wie der Außen-, Verteidigungs-, Steuer- und Energiepolitik nimmt stark zu, und wenn wir den Meinungsumfragen Glauben schenken dürfen, ist die Zustimmung zur EU aktuell größer, als sie es in den letzten 35 Jahren jemals war.
 
Dass sich die Menschen gerade auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspolitik nach mehr Koordination sehnen, hängt damit zusammen, dass die Welt unsicherer und gefährlicher erscheint als seit vielen Jahren. Die drei größten Weltmächte – die USA, China und Russland – haben auf je ihre Weise eine autoritäre Entwicklung genommen. Immer weniger Menschen vertrauen darauf, dass die USA auch in Zukunft unsere Sicherheit garantieren wird.
Der Brexit ist das beste Beispiel dafür, wie verwundbar eine Gesellschaft ohne den Schutz der EU ist. Eine Sache ist, dass man ökonomisch an Boden verliert und die Bürger viele der Rechte einbüßen, die ihnen die EU gewährt hat. Das Land wird aber auch sehr schnell entdecken, dass es sich auf eigene Faust sehr viel schwerer tun wird, neue Handelsverträge auszuhandeln. Es kann sich auch sicher ein, dass die USA die Marktöffnung für Produkte fordern wird, die von der EU abgelehnt wurden, z.B. für „Chlorhähnchen“, „“Hormonfleisch“ oder gentechnisch veränderte Lebensmittel. 
Es ist nicht überraschend, dass die Briten immer weniger Lust auf den Brexit haben, weil immer offensichtlicher wird, wie illusorisch die eigene Souveränität in der heutigen globalisierten Welt anmutet. 

Sten Inge Jørgensen Sten Inge Jørgensen | Foto: © Kagge forlag Die EU bietet aber nicht nur Schutz gegen die Interessen der Großmächte; sie kann auch Muskeln zeigen, wenn es um die Machenschaften großer privater Unternehmen geht. Vor allem im Kampf gegen die Steuerhinterziehung und den Markenmissbrauch hat sich Brüssel in den letzten Jahren stark positioniert. 

Intern steht die EU für eine neue soziale Balance. Regeln und Initiativen begrenzen die Möglichkeiten des sozialen Dumpings. Der Europäische Gerichtshof schlägt sich mit seinen Urteilen oft auf die Seite der Gewerkschaften. Die EU-Kommission versucht nun, das „klassische“ Arbeitsleben wiederherzustellen, in dem nicht-zeitgebundene Vollzeitstellungen die Norm darstellten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die verschiedensten Instrumente eingesetzt: von Subventionen für Betriebe, die jungen Spaniern einen festen Job bieten bis hin zu einem neuen gesetzlichen Regelwerk, das es für Betriebe weniger attraktiver macht, allzeit „flexible“ Mitarbeiter einzustellen. 





EU kann Botschaft der Populisten schwächen

Moderate Politiker in vielen Ländern erkennen allmählich, dass sie mit der EU im Rücken viele Herausforderungen der globalisierten Welt meistern und Wähler zurückgewinnen können. Besonders die Tatsache, dass die soziale Ungleichheit stark zunimmt, während gleichzeitig die großen Konzerne an Macht gewinnen, lässt große Teile der Bevölkerung an der Gerechtigkeit der neoliberalen Wirtschaftsordnung zweifeln. Der große Erfolg der Populisten erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass viele Menschen der Meinung sind, die traditionellen politischen Eliten würden den status quo verteidigen. Sollte es der EU gelingen, die Marktkräfte politisch stärker einzudämmen, kann dies die Botschaft der Populisten schwächen.
 
Um die Rolle als Beschützerin der Europäer glaubhaft ausfüllen zu können, muss die EU die interne Integration weiter voranbringen. Sowohl auf dem Gebiet der Finanz- als auch der Außenpolitik können einzelne Länder effektive Positionen blockieren. Luxemburg und mehrere andere Länder wollen ihren Status als Steuerparadies nicht aufgeben; Griechenland wiederum unterband eine chinakritische Note der EU, nachdem die Chinesen den Hafen von Athen gekauft hatten. Nur wenn die EU von ihrem Einstimmigkeitsprinzip abrückt und stattdessen Beschlüsse auf der Grundlage qualifizierter Mehrheiten zulässt, kann sie ihr volles Potenzial entfalten.  
 
Die Kontroversen, die die EU in den letzten Jahren geprägt haben, legen den Verdacht nahe, dass es immer schwieriger wird, die Mitgliedsländer zu kooperativem Verhalten zu bewegen. Man sollte sich allerdings davor hüten, einzelne Konflikte als Ausdruck eines allgemeinen Zustandes zu interpretieren. Weder Polen noch Ungarn wollen aus der EU austreten, auch wenn sie sich massiv darüber beschwerten, als ihnen Quotenflüchtlinge zugewiesen wurden. Italien und Griechenland haben scharfe Kritik am Reglement der Eurozone geübt, gleichzeitig aber die EU um Hilfe in der Flüchtlingsfrage gebeten. Der Brexit zeigt uns in aller Deutlichkeit, wie komplex die EU-Zusammenarbeit geworden ist; niemand will aufgrund einzelner Streitfälle riskieren, auf diese Kooperation verzichten zu müssen.

Je mehr die EU als Protektorin kleinerer Länder auftritt und je mehr sie der sozialen Ungerechtigkeit entgegentritt, desto paradoxaler wird das Nein Norwegens zur EU. Nie zuvor waren die Argumente für eine norwegische Vollmitgliedschaft in der Union stärker als heute.