Der Ursprung der Menschheit liegt in Afrika. Bereits vor mehr als 1,5 Millionen Jahren verbreitet sich der Homo erectus von dort aus in Europa und Asien.
Aus diesem Vorfahren entstehen der Homo sapiens – auch „moderner Mensch“ genannt – aber auch andere, ältere Menschenformen wie der Neandertaler und der Denisova-Mensch.
Die Entwicklung des Homo sapiens beginnt vor rund 300.000 Jahren in Afrika. Die Merkmale, die den „modernen Menschen“ ausmachen, entstehen dabei unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen des Kontinents. Erst im Laufe einer mehrere Tausend Jahre langen Evolution kommen sie zusammen. Von Afrika aus besiedelt der Homo sapiens in mehreren Wellen die Welt. Auf seinem Weg trifft er auf die älteren Menschenformen. Doch der „moderne Mensch“ setzt sich durch, wahrscheinlich aufgrund seiner Neugier und Anpassungsfähigkeit.
Das heißt: Alle Menschen, die heute auf der Welt leben, gehören zur Menschenform Homo sapiens – so unterschiedlich sie auch aussehen.
Der aufrechte Gang
Homo erectus bedeutet „der aufgerichtete Mensch“. Der aufrechte Gang entsteht mehrmals und an verschiedenen Orten. Einen entscheidenden evolutionären Vorteil bringt diese Fortbewegungsform in der Savanne. Dort ist Laufen wichtiger als Klettern. Und wenn der Kopf oberhalb der Gräser ist, kann man Raubtiere früher sehen. Der Homo erectus und später der Homo sapiens sind gute Langstreckenläufer – was sich als sehr nützlich für die Jagd erweist. Sie haben keine dichte Behaarung mehr, um eine Überhitzung beim Rennen zu vermeiden. Als erfolgreiche Jäger essen die frühen Menschen viel tierisches Eiweiß und Fett. So kann sich unser großes Gehirn entwickeln, das sehr viel Energie benötigt.
Bereits vor mindestens 200.000 Jahren verlassen frühe „moderne Menschen“ erstmals den afrikanischen Kontinent. Die anderen Menschenformen bleiben aber in Europa und Asien noch lange weitgehend unter sich. Die extrem erfolgreiche Ausbreitung des Homo sapiens beginnt vor ca. 60.000 Jahren. Er kann sich gut an neue Lebensräume anpassen und besiedelt Stück für Stück die ganze Welt. In einigen Regionen leben verschiedene Menschenformen lange Zeit neben- und miteinander. Mithilfe neuester Untersuchungsmethoden können Wissenschaftler*innen nachweisen, dass in heutigen Menschen genetische Spuren von Neandertalern und Denisovanern überlebt haben.
Die Menschheitsgeschichte ist ein sehr aktives Forschungsfeld. Immer wieder werden neue Fossilien und Artefakte entdeckt, moderne Forschungsmethoden ermöglichen völlig neue Einsichten in Zusammenhänge.
Auch die Analysemethoden entwickeln sich sehr schnell. Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, gilt sogar als Begründer einer komplett neuen Forschungsrichtung – der Paläogenetik. Die Genanalyse von Knochenfunden verändert unser Bild von der Entwicklung des Menschen radikal. Hier ist der Forschungsstand des Jahres 2020 abgebildet: Welche neuen Erkenntnisse gibt es wohl mittlerweile?
Der Ursprung der Menschheit
Eine neue Art entsteht nicht an einem Tag, sondern in einem sehr langen Prozess. Das ist bei der Entstehung des Homo sapiens nicht anders. Bei Ausgrabungen im marokkanischen Jebel Irhoud werden 2017 rund 300.000 Jahre alte Knochen des frühen Homo sapiens entdeckt. Das widerspricht der lange geltenden These von der Entstehung des modernen Menschen in Ostafrika. Heute wissen wir, dass sich der „moderne Mensch“ bereits vor etwa 300.000 Jahren über den gesamten afrikanischen Kontinent ausbreitet. Das belegen auch die 260.000 Jahre alten Fossilien aus dem südafrikanischen Florisbad. Die Menschheit entsteht also durch frühe Wanderungsbewegungen und eine komplexe Evolution auf dem ganzen afrikanischen Kontinent. Durch ein soziales Netzwerk werden Gene und Kulturtechniken über große Distanzen hinweg weitergegeben.
Wanderungsbewegungen des „modernen Menschen“
300.000 Jahre
Jebel-Irhoud-Höhle
2017, Marokko
Die mit 300.000 Jahren bislang ältesten Knochen und Steinwerkzeuge des Homo sapiens widerlegen die alte These der alleinigen Entwicklung des „modernen Menschen“ in Ostafrika.
190.000 - 200.000 Jahre
Omo Kibish
1967, Äthiopien
Die Knochenfunde Omo I-III sind sehr frühe Überreste des Homo sapiens. Lange gelten sie als Beweis für die Entstehung des „modernen Menschen“ in Ostafrika.
90.000 Jahre
Al-Wusta
2018, Saudi-Arabien
Ein in der Nefud-Wüste gefundener Fingerknochen ist das älteste bisher bekannte Fossil des Homo sapiens außerhalb Afrikas. Heute ist die arabische Halbinsel extrem trocken, doch damals gibt es hier grüne Landschaften, Flüsse und Seen.
70.000 - 80.000 Jahre
Denisova-Höhle
2010, Russland
Die DNA-Analyse eines winzigen Fingerknochens führt zu einer überraschenden Erkenntnis: Der Knochen gehört zu einer bisher völlig unbekannten Menschenform.
63.000 Jahre
Tam-Pa-Ling-Höhle
2009, Laos
Die hier entdeckten Knochen einer Frau sind die ältesten bekannten Fossilien des „modernen Menschen“ in Südostasien.
45.000 Jahre
Ust’Ishim
2008, Russland
Vor etwa 45.000 Jahre beginnen die Vorfahren heute lebender Europäer und Asiaten, sich getrennt voneinander zu entwickeln. Das verrät uns das Genom eines Homo sapiens, der in Ust’Ishim lebte.
42.000 Jahre
Neandertal-Höhle
1856, Deutschland
Die im Neandertal gefundenen Fossilien werden bereits im 19. Jahrhundert als Knochen einer eigenständigen Menschenform erkannt. Die später nach dem Fundort benannten Neandertaler sterben vor etwa 40.000 Jahren aus. Manche ihrer Gene haben jedoch in den „modernen Menschen“ bis heute überlebt.
42.000 Jahre
Mungo-See
1974, Australien
Lange Zeit gilt der „Mungo Man“ als ältester Nachweis einer Besiedelung Australiens. Neueste Forschungsergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass dort bereits vor 65.000 Jahren Menschen lebten.
40.000 Jahre
Tianyuan-Höhle
2003, China
Die Genanalyse des Oberschenkelknochens eines Homo sapiens aus der Höhle bei Peking beweist: Die indigene Bevölkerung Amerikas ist mit heute lebenden Asiaten deutlich näher verwandt als mit Europäern.
Die Besiedelung Amerikas
Amerika ist die letzte große Landmasse, die der Homo sapiens besiedelt. Aber wie und wann kommen die Menschen dorthin? Die überzeugendste und allgemein anerkannte These geht von einer Besiedelung über den Landweg zwischen Sibirien und Alaska aus.
Den Landweg? Heute ist die Beringstraße eine 82 Kilometer breite und bis zu 50 Meter tiefe Meerenge. Doch in der Kaltzeit vor 20.000 Jahren liegt der Meeresspiegel sehr viel niedriger und die Region ist besiedelt. Damals gibt es auch in Nordamerika viele Gletscher. Deshalb gehen Archäolog*innen lange davon aus, dass die Menschen sich erst nach dem Ende der Kaltzeit nach Süden ausbreiten können. Doch dazu passen einige Funde im Süden des Kontinents nicht. Manche Forscher*innen glauben daher, dass es schon frühere Besiedlungen gibt – vielleicht durch Menschen, die von Sibirien, dem Südpazifik oder sogar von Europa aus Amerika mit Booten erreichen.
20.000 Jahre
Serra da Capivara
1980er-Jahre, Brasilien
Ist Amerika bereits seit mehr als 20.000 Jahren besiedelt? Malereien sowie Funde von Steinwerkzeugen und Holzkohle lassen das vermuten – allerdings ist die Datierung umstritten. Für manche Forscher*innen sind sie dennoch zumindest ein Hinweis, dass Menschen schon damals mit einfachen Booten aus Westafrika über den Atlantik kommen.
13.000 Jahre
Clovis
1937, USA
Besonders verarbeitete Speerspitzen aus Feuerstein sind typisch für die Clovis-Kultur. Die Menschen, die sie herstellen, kommen über die Beringstraße aus Sibirien. Sie gelten lange als die ältesten Amerikaner.
13.000 Jahre
Hoyo-Negro-Unterwasserhöhle
2007, Mexiko
Das fast komplett erhaltene Skelett eines Mädchens und viele weitere Funde in den letzten Jahren in diesem Höhlensystem legen nahe, dass die Besiedelung Amerikas weitaus komplizierter verlaufen sein könnte als bisher gedacht.
Prähistorische Kunst
Lange vor unserer Zeit schaffen Menschen beeindruckende Kunstwerke, nicht nur der frühe Homo sapiens, auch die Neandertaler haben uns bedeutende Zeugnisse hinterlassen.
115.000 Jahre
Aviones-Höhle
2010, Spanien
Durchbohrte Muscheln, Farbreste und sogar komplexe Farbmischungen: Bereits vor mehr als 100.000 Jahren stellen Neandertaler in dieser Höhle symbolische Objekte her.
44.000 Jahre
Leang-Bulu’-Sipong-Höhle
2017, Indonesien
Die Abbildungen mehrerer Tiere und Tier-Mensch-Wesen gehören weltweit zu den ältesten Darstellungen dieser Art – erschaffen von „modernen Menschen“.
40.000 Jahre
Stadel-Höhle
1939, Deutschland
Der etwa 40.000 Jahre alte Löwenmensch gehört zu den ältesten figürlichen Kunstwerken der Welt. Die Skulptur ist meisterhaft aus Mammutelfenbein geschnitzt und ermöglicht einen kleinen Einblick in die spirituelle Welt des Homo sapiens.
35.000 Jahre
Chauvet-Höhle
1994, Frankreich
Die heute sehr berühmten Höhlenmalereien in Südfrankreich sind von ganz besonderer Schönheit. In der Chauvet-Höhle im Ardèche-Tal erschaffen „moderne Menschen“ über mehrere Tausend Jahre hinweg 400 Wandbilder mit rund 1000 Einzeldarstellungen.
8000 Jahre
Ha'il-Region
2017, Saudi-Arabien
Vor mindestens 15.000 Jahren beginnen Menschen, Wölfe zu zähmen und Hunde zu züchten. Über 1400 in Felsen geritzte Abbildungen zeigen, welche Rolle Hunde bei der Jagd gespielt haben könnten. Anscheinend sind einige Hunde sogar angeleint.
Als der „moderne Mensch“ von Afrika aus Europa und Asien besiedelt, trifft er auf die anderen Menschenformen, die damals dort leben.
In manchen Regionen leben diese nahen Verwandten lange Zeit neben- und miteinander – und haben nachweislich auch gemeinsame Kinder. Einige der Gene, die der Homo sapiens dabei von Neandertalern und Denisovanern aufnimmt, erweisen sich als sehr nützlich und bleiben bis heute erhalten.
Zwei Beispiele: Eine von drei Frauen in Europa hat heute eine genetische Form des Rezeptors für das Hormon Progesteron, die von Neandertalern stammt. Diese Frauen haben weniger Fehlgeburten – und somit im Durchschnitt mehr Kinder. Die Menschen in Tibet haben von den Denisovanern eine besondere Genvariante geerbt. Sie beschränkt den Hämoglobin-Gehalt im Blut und macht so das Leben in den extremen, sauerstoffarmen Höhenlagen wohl erst möglich.
Die Sprache der Neandertaler
Wissenschaftler*innen gehen heute davon aus, dass auch die Neandertaler sprechen können. Zumindest haben sie die anatomischen Voraussetzungen dafür: Die Analyse eines kleinen, 60.000 Jahre alten Knochens zeigt, dass das Zungenbein beim Neandertaler ähnlich geformt ist wie beim heutigen Menschen. Und am Zungenbein setzen viele Sehnen und Bänder an, die für die Beweglichkeit der Zunge sorgen. Auch die Gene, die für das Sprechen notwendig sind, sind bei Neandertalern schon vorhanden. Auf jeden Fall können die Neandertaler komplexes Wissen an ihre Artgenossen weitergeben. Das zeigen viele ihrer Fähigkeiten, zum Beispiel das Herstellen fein ausgearbeiteter Werkzeuge, der Einsatz von Feuer oder die gemeinsame Jagd auf große Tiere.
Die Anatomie des Zungenbeins (hier rot) spielt eine wichtige Rolle beim Sprechen.
Die ersten Künstler
Lange Zeit gelten die Neandertaler als schwerfällig und nicht sehr intelligent – vielleicht, weil sie im Vergleich zum Homo sapiens einen gröberen Körperbau haben. Aber nicht nur der „moderne Mensch“ kann abstrakt denken und Kunstwerke erschaffen: Bereits vor mehr als 64.000 Jahren bemalen Neandertaler Höhlen im heutigen Spanien. Diese Kunst aus roten und schwarzen Farbpigmenten besteht aus Linien, Punkten, Scheiben und Handabdrücken. Dazu müssen die Macher dieser Kunstwerke eine Lichtquelle planen, Farbpigmente mischen und eine passende Wand auswählen. Die Fähigkeit, abstrakt zu denken und Kunstwerke zu schaffen, wird lange nur dem „modernen Menschen“ zugetraut. Nun wissen wir, dass auch Neandertaler so etwas können.
Dieser Handabdruck eines Neandertalers in der Maltravieso-Höhle im Westen Spaniens ist um die 66.000 Jahre alt und damit mindestens 20.000 Jahre älter als die frühesten Spuren des „modernen Menschen“ (Homo sapiens) in Europa.
Eine neue Verwandte
Ein winzig kleiner Teil eines Fingerknochens sorgt im Jahr 2010 für eine wissenschaftliche Sensation. Johannes Krause und Svante Pääbo sequenzieren am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig DNA aus einem winzigen Stück eines 70.000 bis 80.000 Jahre alten Fingerknochens. Er stammt aus der Denisova-Höhle im Süden Sibiriens. Die große Überraschung: Das Mädchen, von dem das Knöchelchen stammt, gehört zu einer bislang völlig unbekannten Menschenform, die heute als Denisova-Mensch bezeichnet wird. 2012 gelingt es mithilfe der weiterentwickelten paläogenetischen Methoden, das komplette Genom des Mädchens zu entschlüsseln. Für die Erforschung der Menschheitsgeschichte ist das ein wichtiger Schritt. Denn der Denisova-Mensch entwickelt sich genau wie auch der Neandertaler und der „moderne Mensch“ aus dem Homo erectus – und ist somit deren nächster Verwandter.
Die Denisova-Höhle stellt sich als eine einzigartige archäologische Fundstätte heraus. Wahrscheinlich wohnten hier vor etwa 280.000 Jahren schon Menschen.
Vor 20.000 Jahren sind alle Menschen Jäger und Sammler. Vor 5000 Jahren sind es nur noch zehn Prozent – die anderen sind sesshafte Bauern und Viehzüchter. Wie kommt es zu dieser Veränderung?
Die Landwirtschaft entsteht vor etwa 11.000 Jahren im sogenannten „fruchtbaren Halbmond“ – einem Gebiet, das vom heutigen Irak bis nach Syrien reicht. Auch dort wird es vor etwa 15.000 Jahren langsam wärmer und auf den zuvor kargen Steppen wachsen großkörnige Wildgräser. Die Jäger und Sammler können häufiger an einem Ort bleiben. Doch nicht immer ist das Klima so mild. Die Menschen beginnen, die besten Gräser gezielt auszuwählen und anzubauen, um sich auch in schlechteren Zeiten gut ernähren zu können. Die Bauern wohnen an einem Ort. Sie können Vorräte anlegen und größere Familien ernähren.
Vor ca. 8000 Jahren kommt die Landwirtschaft mit Bauern aus Anatolien nach Europa. Sie treffen dort auf Jäger und Sammler und leben meistens nebeneinander. Vor 4800 Jahren folgt eine zweite Einwanderungswelle: Viehzüchter mit großen Rinderherden kommen aus den Steppen des Ostens. Sie sind den Einheimischen kulturell und technisch weit überlegen.
Es ist genug Platz für alle da!
Vor 8000 Jahren treffen in Europa anatolische Bauern auf einheimische Jäger und Sammler. Die Bauern betreiben Ackerbau, haben aber noch kaum Milchvieh. Die beiden Gruppen leben mindestens 2000 Jahre nebeneinander her. Keiner hat großes Interesse, wie die jeweils anderen zu leben: Die Jäger und Sammler sind sehr gut ernährt und gesund, zum Beispiel haben ihre Zähne keine Karies – sie kennen ja kein Getreide, das beim Kauen zu Zucker wird. Sie bekommen aber nur wenige Kinder, da diese viele Jahre gestillt werden müssen. Um ihr Überleben zu sichern, benötigen die Jäger und Sammler nur etwa zwei bis vier Stunden am Tag. Sie haben also sehr viel „Freizeit“.
Die Bauernfamilien müssen dagegen den ganzen Tag hart arbeiten. Aber sie können viel größere Familien ernähren und bekommen deutlich mehr Kinder. Sie leben in Siedlungen und haben Besitz. Würden sie weniger arbeiten, könnten sie ihre großen Familien nicht ernähren. Gibt es doch einmal Konflikte, weichen die Jäger und Sammler in Gebiete aus, die für die Bauern wertlos sind. Platz gibt es in den großen Wäldern genug.
Die Erfindung der Landwirtschaft
Bereits vor 12.000 bis 14.000 Jahren sammeln Jäger und Sammler in der Gegend des heutigen Israel und Jordanien Wildgetreide. Daraus stellen sie Mehl her. Als es vor 13.000 Jahren zu einem Kälteeinbruch mit wenig Regen kommt, geht das Nahrungsangebot zurück. Vermutlich fangen die Menschen deshalb an, Getreide mit besonders „guten“ Eigenschaften auszuwählen und gezielt anzubauen. Schon vor rund 10.500 Jahren züchten sie Emmer, einen Vorläufer des heutigen Weizens. Emmer hat festsitzende Ähren, so fallen die losen Körner bei der Ernte nicht mehr auf den Boden – eine Eigenschaft, die für den Bauern nützlich ist, für ein Wildgetreide aber unsinnig wäre. Auch Gerste gibt es schon sehr lange: Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena vergleichen zusammen mit einem internationalen Forschungsteam 6000 Jahre alten Gerstensamen aus der Nähe des Toten Meeres mit heutigen lokalen Sorten. Sie stellen genetisch kaum einen Unterschied fest. Die Züchtung des Getreides war also schon in der Steinzeit weitgehend abgeschlossen.
Ein mehr als 6000 Jahre altes Gerstenkorn – gefunden in einer Höhle in der Nähe des Toten Meeres.
Wandel durch Migration und Ideentransfer
Durch Genanalysen wissen wir heute, dass die Landwirtschaft vor etwa 8000 Jahren durch die Einwanderung anatolischer Bauern nach Europa kommt. Doch wer sind diese Menschen und woher kennen sie die Landwirtschaft? Um das herauszufinden, haben Wissenschaftler*innen bis zu 15.000 Jahre alte prähistorische Skelette von Einwohnern Anatoliens untersucht. Das Ergebnis: Die anatolischen Bauern sind direkte Nachkommen dortiger Jäger und Sammler – ihr Genpool bleibt über mehr als 7000 Jahre lang stabil. In diesem Fall hat also die lokale Bevölkerung neue Ideen und Kulturtechniken übernommen und ihren Lebensstil geändert.
Neue Umwelt – neues Aussehen
Nach dem Ende der letzten Kaltzeit vor 18.000 Jahren leben in Zentraleuropa für die nächsten Jahrtausende Jäger und Sammler mit dunkler Haut und blauen Augen. Diese Menschen essen Fisch und Fleisch und nehmen dadurch viel Vitamin D auf. Die Bauern, die vor 8000 Jahren aus Anatolien nach Europa einwandern, ernähren sich dagegen vor allem von Pflanzen und haben deshalb einen Mangel an Vitamin D. Der menschliche Körper kann dieses Vitamin auch selber bilden – aber nur, wenn genügend UV-Licht die Haut durchdringt. Das ist in nördlichen Breiten jedoch nur bei heller Haut der Fall. So wird helle Haut bei den Bauern zu einem evolutionären Vorteil. Zumal der starke UV-Schutz dunkler Haut, die sich in Afrika entwickelt hatte, hier nicht mehr so wichtig ist.
Doch warum bleiben die blauen Augen erhalten? Sie haben keinen praktischen Vorteil. Vielleicht handelt es sich um ein frühes Schönheitsideal und Menschen mit blauen Augen sind als Partner beliebter?
Überraschende Folgen der neuen Ernährung
Die Laute der menschlichen Sprache sind äußerst vielfältig. Lange wird angenommen, dass schon bei der Entwicklung des Homo sapiens vor ungefähr 300.000 Jahren alle Laute entstehen. Doch eine neue Studie zeigt, dass sich Laute wie "f" und "v" erst vor relativ kurzer Zeit entwickeln – als Folge einer neuen Zahnstellung! Jäger und Sammler haben aufgrund der harten und zähen Nahrung einen „Kopfbiss“. Dabei stoßen die Schneidezähne des Ober- und Unterkiefers genau aufeinander. Mit der zunehmenden Verbreitung weicher Nahrung setzt sich dagegen ein leichter „Überbiss“ durch. Die oberen Schneidezähne stehen jetzt leicht über die unteren Zähne hinaus. Erst diese Zahnstellung ermöglicht die Bildung neuer Laute, die heute in der Hälfte aller Sprachen der Welt vorhanden sind. Bei diesen Lauten berühren die oberen Schneidezähne die Unterlippe, wie bei der Aussprache von "f".
Die Art der Nahrung beeinflusst die Zahnstellung – und die Sprache (links: Kopfbiss, rechts: Überbiss).
Die Milch macht den Unterschied
Bei Säugetieren können eigentlich nur die Kinder Milch verdauen. Sie spalten den Milchzucker (Laktose) mithilfe des Enzyms Laktase auf und können ihn so verwerten. Im Erwachsenenalter endet die Produktion des Enzyms – der Genuss von Milch führt dann zu ernsthaften Verdauungsproblemen. Vor 4800 Jahren bringen die Einwanderer aus der Steppe große Rinderherden nach Europa. Den Viehzüchtern steht eine gute zusätzliche Nahrungsquelle zur Verfügung: Obwohl auch sie keine Milch vertragen, können sie diese nutzen. Denn sie haben Kulturtechniken entwickelt, mit denen sie die Milch zu laktosefreien Produkten wie Kefir, Joghurt oder Käse verarbeiten.
Später kommt der evolutionäre Zufall hinzu: Bei einigen Menschen verändert sich das Gen, das die Produktion des Enzyms Laktase beim Heranwachsen beendet. Auch als Erwachsene können sie nun Milch trinken. In Zentraleuropa breitet sich die Mutation für diese „Laktosetoleranz“ mit der Weidewirtschaft aus – und zwar in atemberaubendem Tempo! Heute vertragen etwa 85 Prozent der Einwohner*innen in Deutschland Milch, in China dagegen nur etwa fünf Prozent.
Was Zähne erzählen
Wann und wo beginnt der Mensch, Milch in seinen Speiseplan aufzunehmen und systematisch Milchprodukte zu erzeugen? Das möchte Christina Warinner, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, herausfinden. Sie untersucht dafür den Zahnstein uralter Zähne. In der versteinerten Plaque findet sie sowohl Bakterien-DNA als auch Milchproteine. Besonders interessant ist ein Molkeprotein (beta-Lactoglobulin). Es kommt zum Beispiel in der Milch von Schafen, Kühen und Ziegen vor – jedoch nicht in menschlicher Muttermilch. Seine Aminosäuresequenz unterscheidet sich von Tierart zu Tierart. So können die Forscher*innen sogar erkennen, welche Art von Milch wann und wo verarbeitet wird.
Jahrhunderte alter Zahnstein erzählt viel über die Ernährung unserer Vorfahren.
Es gibt nichts umsonst
Die Landwirtschaft bringt den Menschen viele Vorteile, der neue Lebensstil hat aber auch seinen Preis: Das Zeitalter der Infektionskrankheiten beginnt! Große Gruppen leben eng beieinander und haben Kontakt zu Haustieren, aber auch zu Parasiten wie Flöhen und Ratten.
Paläogenetiker*innen kennen heute mehrere fast 5000 Jahre alte Pest-Erreger. Aber woher kommt die Krankheit? Bringen die Steppenbewohner die Pest mit ihren Pferden nach Zentraleuropa oder gibt es die Krankheit schon dort vorher? Das ist schwierig zu beantworten. Denn für den Zeitraum vor 5500 bis 4800 Jahren gibt es nur sehr wenige Skelettfunde in Europa – vielleicht, weil die Pest damals schon wütet und die Menschen ihre Toten verbrennen? Wandern die Steppenbewohner in menschenleere Räume ein? Dafür spricht, dass es kaum Nachweise für kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den in Europa lebenden Bauern und den Hirten gibt.
Die Schattenseite der Revolution
Der Übergang von der Jäger-Sammler-Kultur zu Landwirtschaft und Viehhaltung begünstigt die Entstehung neuer Krankheitserreger – das vermuten Forscher*innen schon lange. Im Jahr 2019 können sie es erstmals nachweisen: In einer groß angelegten Untersuchung von menschlichen Überresten, die bis zu 6500 Jahre alt sind, kann das Erbgut von mehrere Jahrtausende alten Salmonella-Stämmen rekonstruiert werden. Die in den Knochen der Landwirte und Viehzüchter gefundenen Salmonellen sind Vorläufer des Bakterienstamms Paratyphi C – ein Stamm, der nur Menschen infiziert und typhusähnliche Symptome verursacht. Die historischen Salmonellen hingegen sind wahrscheinlich noch nicht so spezialisiert und infizieren Menschen ebenso wie Tiere.
Am Beispiel von Salmonellen weisen Forscher*innen erstmals nach, dass das enge Zusammenleben von Bauern und Tieren zu neuen Krankheiten führt.