Kuratorischer Text
Von Lisabona Rahman
Kinofest 2025 | FAMILIE – ERWEITERT
Das Kinofest 2025 präsentiert eine filmische Landkarte der sich wandelnden und vielfältigen Vorstellungen davon, was Familie sein kann. Die Filme dieses Jahres dehnen den Begriff weit über traditionelle Definitionen hinaus und erkunden Familie als etwas Fließendes – geprägt von Kontext, Arbeit, Geschichte und Emotion. Diese Geschichten stellen Fragen wie: Was definiert heute eine Familie? Ist sie noch immer ein Ort der Geborgenheit und bedingungslosen Unterstützung – oder ist sie zu einem Netz gewählter Verbindungen geworden, das nicht länger auf Blutsbande gründet?
Über kulturelle Grenzen hinweg – von Berlin bis Teheran – entstehen Familien als Gemeinschaften der Fürsorge und Zugehörigkeit. Doch innerhalb dieser Einheiten behalten Individuen ihre eigenen Überzeugungen und Wünsche, was Spannungen und Brüche erzeugt. In der heutigen Welt ist Familie nicht immer nur privat – sie kann auch politisch sein. Sie kann bestehende Machtstrukturen aufrechterhalten oder zu einem Raum für kritisches Denken, Widerstand und Veränderung werden.
Die deutschen Filme beim Kinofest 2025 spiegeln diese Komplexität wider. Sie zeichnen das sich wandelnde Gesicht der Familie nach – im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen, ideologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Einige Geschichten zeigen, wie Rebellion statt Tradition engere familiäre Bindungen schaffen kann. In diesen gemeinsamen Akten des Aufbegehrens entstehen neue Formen von Verbundenheit und Gemeinschaft.
Auch Mutterschaft wird aus einer zeitgenössischen Perspektive beleuchtet. In diesen Filmen ist sie nicht nur Symbol für Liebe oder Aufopferung, sondern auch eine Quelle von Angst, Stärke und radikalem Wandel. Weibliche Erfahrungen von Schwangerschaft und Mutterschaft – ob selbst gewählt oder gesellschaftlich auferlegt – werden in all ihrer psychologischen und emotionalen Tiefe gezeigt. Die Bildsprache der Dramen, Komödien und Thriller offenbart die inneren Welten der Frauen in allen Lebensphasen. Mutterschaft bedeutet hier nicht nur, Leben zu schenken, sondern auch, neue Ideen, politische Theorien und Momente des Widerstands hervorzubringen.
Das diesjährige Programm widmet sich außerdem der oft unsichtbaren Welt der Sorgearbeit. Hausangestellte, Pflegekräfte und Reinigungskräfte – viele von ihnen Frauen – stehen im Zentrum ihrer eigenen Geschichten. Diese Filme zeigen, wie ihre Arbeit den Begriff von Zuhause und Familie überhaupt erst trägt, auch wenn sie gesellschaftlich kaum gewürdigt wird. Sie erinnern uns daran, dass Familie auch bedeutet: Fürsorge, Abhängigkeit und jene sozialen Strukturen, die bestimmen, wer gesehen wird – und wer nicht.
Schließlich stellen mehrere Filme die dunkle Seite familiärer Bindungen in den Mittelpunkt. Hinter verschlossenen Türen kann Liebe sich in Manipulation, Groll oder Grausamkeit verwandeln. In manchen Geschichten entladen sich diese Spannungen in surrealer Gewalt – eindringliche Metaphern für unausgesprochene Traumata und generationenübergreifende Wunden.
Gemeinsam fordern die Filme des Kinofest 2025 uns dazu auf, die Bedeutung von Familie neu zu denken – nicht als festes Ideal, sondern als Raum der Komplexität, der Widersprüche, der Fürsorge und der Veränderung.
Lisabona hat auch Filmvorführprogramme für Festivals, Archive und Galerien kuratiert. Ihre Karriere als Filmprogrammiererin begann sie 2006 in den frühen Jahren des Kineforum mit dem Jakarta Arts Council. Seitdem hat sie mit verschiedenen Festivals und Institutionen in Asien und Europa zusammengearbeitet. Ihre Arbeiten wurden mit Unterstützung von Institutionen wie dem Arsenal Institut in Berlin, dem EYE Filmmuseum Amsterdam, dem Film Archive Public Organization of Thailand und dem Rubanah Underground Hub Jakarta geschaffen und ausgestellt. 2024 nahm Lisabona an der Auswahlkommission der Forum-Sektion des Berlinale Film Festivals teil. Sie ist außerdem Mitbegründerin der Sekolah Pemikiran Perempuan (School of Women's Thought) und Kelas Liarsip - Kollektive von Kunstschaffenden, Schriftstellerinnen und Kulturarbeiterinnen, die aktiv Lernräume und Veranstaltungen für Feministinnen des Nusantara-Archipels schaffen und transnationale Solidarität pflegen.