Biennale von São Paulo  „Die Konjugation des Menschseins ist keine leichte Aufgabe“

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Kurator der 36. Biennale von São Paulo
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Kurator der 36. Biennale von São Paulo © Franziska Sinn / Fundação Bienal de São Paulo

Der Chefkurator der 36. Biennale von São Paulo, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, setzt darauf, dort mehrheitlich Künstler*innen auszustellen, die in Brasilien eher unbekannt sind. Damit trägt er zu einer Erweiterung der künstlerischen Blickwinkel und territorialen Dialoge im brasilianischen Kunstsystem bei. Im Gespräch erläutert er, warum er ein Gedicht der brasilianischen Schriftstellerin Conceição Evaristo als Auslöser für kreative Auseinandersetzung gewählt hat und erzählt, wie er aus dieser Ausgabe der Biennale einen Raum der Komplexität und Unruhe machen möchte.

Haben Sie frühere Ausgaben der Biennale von São Paulo besucht und wie ist Ihre Beziehung zur brasilianischen Kunstszene?

I
ch habe die Biennale bereits zuvor besucht, aber meine Beziehung zur Kunst und Kultur aus Brasilien ist durch meine eigenen Interessen geprägt, die ich als Afrikaner an Afrika in der Welt und insbesondere an der Wirklichkeit des afrikanischen Kontinents in diesem Raum habe, der Brasilien genannt wird – und zwar im Guten wie im Schlechten. Seit 10 oder 15 Jahren forsche ich zu verschiedenen Bewegungen in Brasilien. Begonnen habe ich mit Zumbi dos Palmares, einer Mission und Bewegung, über die neben anderen insbesondere Beatriz Nascimento und Abdias do Nascimento ausgiebig gesprochen haben – vor allem in Bezug auf Quilombismo als Philosophie, als eine Form des Daseins in der Welt. Das hat mich interessiert. Daher lautete der Titel einer meiner ersten Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt in Berlin O Quilombismo – Von Widerstand und Beharren.

Mein Interesse erstreckt sich vom 17. Jahrhundert bis hin zu den Bewegungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Brasilien – den modernistischen Bewegungen, aber auch dem Cinema Novo. Aus irgendeinem Grund begann ich mich sehr intensiv mit Pernambuco zu beschäftigen, mit dem Bundesstaat, in dem 1936 die Schwarzenbewegung Frente Negra Pernambucana gegründet wurde. Außerdem weckte das von Abdias do Nascimento und weiteren Personen gegründete Teatro Experimental Negro, das schwarze experimentelle Theater, bei mir großes Interesse, ebenso wie die Idee, Kultur als Mittel zur Präsentation des Selbst zu nutzen. Dabei geht es nicht um Darstellung, sondern tatsächlich darum, sich selbst zu zeigen. Das ist meine Beziehung zu Brasilien, die sich auch auf mein Interesse am Manguebeat in Recife und auf verschiedene aktuelle Bewegungen erstreckt – bis hin zur Biennale selbst.

Die Biennale von São Paulo hat in diesem Jahr den Titel: „Not All Travelers Walk Roads – Of Humanity as Practice”. Dieser Titel ist dem Gedicht „Da calma e do silêncio“ (Von der Ruhe und der Stille) von Conceição Evaristo entlehnt. Können Sie uns etwas zu diesem Motto und diesem Gedicht als Ausgangspunkt der Ausstellung erzählen?

Conceição Evaristo ist offenkundig eine sehr wichtige Figur, eine bedeutende Schriftstellerin und Denkerin. Ich wurde um einen Vorschlag für die Biennale gebeten, als ich gerade die Elfenbeinküste in Westafrika bereiste, und ich hatte diese Gedichtsammlung von ihr dabei. Ein Gedicht gab mir besonders zu denken. Es rief eine Menge in mir hervor. Ich wollte Da calma e do silêncio als Titel der Biennale verwenden. Aber dann dachte ich, ein etwas rätselhafterer Titel wäre interessant – wie die Zeile Not All Travellers Walk Roads.

Sie bot die Möglichkeit, über eine alternative Art und Weise des Daseins in dieser Welt nachzudenken: Wenn dieser Weg, der uns auferlegt wurde, den wir zwangsweise beschreiten mussten, wenn diese Art des Menschseins nicht genug ist, welche Möglichkeiten haben wir dann? Grundsätzlich wurde diese Zeile für uns so etwas wie ein Zeichen, dass wir in der Lage sind, über andere Wege des Menschseins nachzudenken, indem wir das Menschsein als eine Übung ansehen und uns bewusst machen, dass es kein einfaches Projekt ist. Denn bisher scheitern wir daran. Wer sich anschaut, was in der Welt passiert, dem wird klar, dass das Projekt Mensch dem Untergang geweiht ist. Aber was sollen wir nun tun? Insbesondere diejenigen unter uns, die sich nicht in der luxuriösen Situation befinden oder das Privileg haben, einfach pessimistisch oder verzweifelt zu sein. Was können wir anbieten?

Vor zwei Jahren lud die Biennale drei schwarze Kurator*innen ein. Nun sind Sie Kurator der aktuellen Ausgabe. Welche Auswirkungen hat diese institutionelle Maßnahme Ihrer Ansicht nach? Und welchen Anteil hat sie an der zunehmenden Präsenz  schwarzer Kurator*innen in der internationalen Kunstszene?

Ich gebe Ihnen zwei Versionen meiner Antwort. Eine ist, dass es mich nicht interessiert, und zwar nicht im Geringsten. Ich bin nicht bereit, diese Darstellungsweise mitzugehen, die nichts als Kosmetik ist. Diane Lima und Hélio Menezes sind brillante Kurator*innen. Sie wurden nicht eingeladen, weil sie schwarz sind, sondern weil sie zu den besten Kurator*innen Brasiliens gehören. Grada Kilomba ist Künstlerin. Es ist wichtig, dass wir sie nicht auf ihr Schwarzsein reduzieren. Die andere Seite meiner Antwort lautet: Wenn im Laufe der Geschichte der Biennale weiterhin ausschließlich weiße Kurator*innen eingeladen worden wären, wäre das ebenso reduzierend, denn darin liegt eine Beschränkung des Wissens. Es ist offensichtlich, dass die Einbeziehung schwarzer Kurator*innen den Raum der Erfahrung, der Ästhetik und der Politik erweitert, der im Kontext einer Ausstellung wie dieser präsentiert werden kann.

Was mich selbst betrifft: Es ist offensichtlich, dass ich ein schwarzer Kurator bin. Ich mache meine Arbeit auch, damit gewährleistet ist, dass es viel mehr schwarze Kurator*innen auf dieser Welt gibt. Aus diesem Grund steht am Anfang des Konzepts dieser Biennale ein Disclaimer: Bei dieser Ausstellung geht es nicht um Diversität. Es geht nicht darum, repräsentativ zu sein. Es geht nicht um was auch immer. Ich bin ein schwarzer Kurator und ich entscheide mich dafür, mit Künstler*innen zu arbeiten, die mir gefallen. Ich möchte nicht das Spiel irgendeiner weißen Institution spielen, die denkt, dass ich komme und Kosmetik für sie betreibe. Aber ich stimme zu, dass mit der Tatsache, schwarz zu ein, in der Tat eine gewisse Schönheit und eine bestimmte Form der Politik, Ästhetik und Poesie einhergeht. Und das nehme ich an.

Als Vorbereitung auf die Biennale hat das Team der Kurator*innen sogenannte „Invokationen“ in anderen Ländern abgehalten, die Forschungstreffen und Diskussionen umfassen. Wie haben Sie die Städte ausgewählt, in denen diese Treffen stattfanden (Sansibar, Marrakesch, Guadeloupe und Tokio)? Können Sie uns mehr über diesen Prozess berichten?

Da gibt es zunächst einen Gesichtspunkt: Wir wollten uns nicht mit Ländern beschäftigen, sondern Städte oder Orte betrachten, die sich weit weg irgendwo auf der Welt befinden. Denn wenn wir untersuchen, was es bedeutet, Mensch zu sein, und wie wir das Menschsein konjugieren, können wir uns nicht allein auf Lateinamerika konzentrieren. Wir wollten uns soweit wegbegeben wie möglich. Der zweite Gesichtspunkt war: Wir wollten über Verbindungen zu diesen Orten und dem Wasser nachdenken. Wasser ist Leben. Wer über die Menschheit nachdenken möchte, tut eventuell gut daran, damit an einem Ort zu beginnen, der Leben spendet. Wasser trennt nicht, es verbindet. Uns wurde erzählt, der Atlantik würde uns trennen, aber in Wahrheit hat er uns verbunden. Es war unser Anliegen, diese Körper aus Wasser als verbindende Faktoren zu betrachten. Und der dritte Aspekt ist: Wenn wir über das Menschsein nachdenken und Menschsein als eine Übung ansehen, heißt das, dass wir uns für Performativität interessieren, für Performance als einen Weg, Menschsein auszudrücken. Wir suchen nach Orten mit besonders performativen und akustischen Kulturen. Wir denken an Gnawa, ein sehr spezielles Genre der Musik, das von den Gnawa aus Westafrika nach Marokko oder in den nördlichen Teil des afrikanischen Kontinents gebracht wurde. Der Klang selbst und die Art und Weise, wie er gespielt wird, erzählen die Geschichte von Bewegung, Überleben, der Suche nach Raum. Gnawa ist auch ein Ritual. Im Zentrum dieser Einladung stand eine Vorstellung des Atmens. Wir denken an all die Menschen, die wir verloren haben, weil ihnen der Atem genommen wurde.

Und dann Guadeloupe: Gwo Ka ist ein Musikgenre, aber es ist auch eine Philosophie, die die von ihrem Kontinent verschleppten Afrikaner*innen mit in die Karibik brachten. Sie trugen diese Musik in sich oder haben sie weiterentwickelt als einen Weg, sich in dieser sogenannten Neuen Welt zurechtzufinden. Im Universum von Gwo Ka ist Tanz verkörperte Philosophie. Unsere Kooperationspartnerin Lena Blou hat sich mit dem sogenannten Bigidi beschäftigt. Bigidi mè pa tonbé! bedeutet auf Kreolisch zu wanken, aber niemals zu fallen – die Lebensphilosophie in der Karibik. Du stolperst vielleicht, aber du fällst niemals. Du erlaubst dir nicht zu fallen. Es steckt so viel Erkenntnis in diesem Satz. Und die Frage lautet im Grunde: Woher beziehen wir unsere Erkenntnisse? Finden wir sie nur in Büchern? Nein. Wir finden sie in der Art, wie wir tanzen, wie wir Räume schaffen und besetzen, in der Art, in der wir uns darstellen.

Anschließend gingen wir nach Sansibar und haben uns mit Taarab als Genre der Musik, als Philosophie, als Form des Daseins in der Welt beschäftigt.  Wir haben insbesondere zwei bedeutende Momente der Taarab-Musik betrachtet, die sich aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Menschen entwickelt haben. Dabei handelte es sich um Stimmenimprovisation und Instrumentalimprovisation, um Taqsim und Mawali. Wir sahen sie als Momente an, in denen sich Menschsein ausdrückt. In dem Moment, in dem du improvisierst, hältst du dich nicht mehr an das Drehbuch, du kannst dich artikulieren, du kannst das Menschsein konjugieren.

Die letzte Phase fand in Tokio statt. Dort haben wir uns mit der Noh-Performance beschäftigt, insbesondere aber mit einer Vorstellung, die über Menschlichkeit hinausgeht: die Idee, humanoide Roboter zu schaffen. 1972 schrieb der japanische Gelehrte Masahiro Mori einen Artikel mit dem Titel Das unheimliche Tal, in dem er über die Beziehung zwischen den Menschen und den von ihnen erschaffenen Robotern sprach. Wir realisierten ein Projekt, das sich mit humanoiden Robotern und Affektivität beschäftigte.

In dieser Ausgabe der Biennale werden viele afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Künstler*innen vertreten sein. Wie haben Sie die Schnittstelle zwischen diesen verschiedenen Künstler*innen, die eint, dass sie alle aus dem Globalen Süden stammen, innerhalb einer Biennale konzipiert?

Wir haben diese Künstler*innen eingeladen, weil sie momentan die besten der Welt sind. Es hat sich einfach so ergeben, dass sie aus Lateinamerika, Asien, dem afrikanischen Kontinent und Nordamerika stammen. Es ist reiner Zufall, dass sie von dort kommen. Es hat nichts mit dem Globalen Süden zu tun. Sie sind einfach die besten Künstler*innen.

In dieser Ausgabe der Biennale sind auch einige deutsche Künstler*innen vertreten, wahrscheinlich mehr als in den vergangenen Jahren – insbesondere internationale Namen aus Berlin. Können Sie erläutern, wie es zu dieser Auswahl kam?

Es sind Künstler*innen, die mir nah sind. Künstler*innen, die ein so schweres Thema schultern können: die Konjugation des Menschseins ist keine leichte Aufgabe. Einige sind aus meinem Umfeld, deshalb wurden sie eingeladen. Einige wohnen einfach ebenso wie ich selbst in Deutschland. Tatsächlich lebe ich aber in Berlin, nicht in Deutschland.

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