Konkrete Poesie in Brasilien  Mathematik der Formen

 © Juan Camilo Roa, 2018

Die Ideale des Bauhauses ebneten künstlerischen Experimenten und Avantgarden den Weg, so auch der brasilianischen Konkreten Poesie. Diese stand in einem engen Dialog mit der Ulmer Hochschule für Gestaltung.

Trotz der relativ kurzen Zeit seines Bestehens von kaum mehr als einem Jahrzehnt beeinflusste das Bauhaus Architektur und Design überall auf der Welt, und auch das Denken über diese Disziplinen im gesamten 20. Jahrhundert. Als Inspirationsquelle weitete sich der Einfluss auch auf die bildenden Künste aus und erreichte sogar die Literatur, wie im Fall der brasilianischen Konkreten Poesie.

Jahre nach Schließung des Bauhauses unter dem Naziregime 1933 bildeten sich neue Zentren um ehemalige Schüler und Meister des Bauhauses. Im Nachkriegsdeutschland war die Hochschule für Gestaltung in Ulm eines dieser Zentren, die 1951 ihren Betrieb unter der Leitung ihres Mitbegründers, des Schweizers Max Bill, aufnahm. Der Künstler und Architekt studierte in den Jahren 1927 und 1928 am Bauhaus.

„Für mich ist es spannend zu sehen, wie sich die Ulmer Hochschule für Gestaltung später auf die brasilianische Ästhetik auswirken sollte. Junge brasilianische Künstler und Designer gingen in den 1950er Jahren zum Studieren nach Ulm. Viele kehrten zurück nach Brasilien und beteiligten sich dort an dem, was wir als Kulturindustrie bezeichnen können. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hochschule für Industriedesign in Rio de Janeiro, ESDI, nach dem Ulmer Vorbild geplant wurde“, sagt Professor Nathaniel Wolfson von der University of California in Berkeley, USA, der sich mit dem Thema beschäftigt.

Max Bill und Brasilien

Die Verbindung Max Bills zu Brasilien beginnt Ende der 1940er Jahre. „Das Ateliê Abstração, eine Gruppe abstrakter Maler aus São Paulo, angeführt von dem Frankobrasilianer Samson Flexor, trat damals mit Max Bill in Verbindung. Bill reiste 1950 nach Brasilien, um im gerade eröffneten Museu de Arte de São Paulo seine künstlerische Arbeit auszustellen. Auf der ersten Biennale von São Paulo erhielt er den Großen Preis für Skulptur“, erzählt Wolfson.

Bills Besuche in Brasilien beeinflussten die lokale Szene entscheidend, waren aber auch umstritten, etwa als er 1953 in einigen Vorträgen die moderne brasilianische Kunst als „unverantwortlich“ und „barbarisch“ bezeichnete. In dieser Hinsicht, so Wolfson, sei Bill als Besucher und Betrachter weit weniger einfühlsam gewesen als etwa Max Bense. In seinem Werk Brasilianische Intelligenz. Eine cartesianische Reflexion von 1965 berichtet Bense von seinen zahlreichen Besuchen in Brasilien Anfang der 1960er Jahre und von seinen Eindrücken von Brasília sowie über zeitgenössische Kunst und Literatur. Benses Ton ist abwägend, überraschend, wenngleich immer noch exotisierend.“ Bense und Bill kannten sich gut seit ihrer gemeinsamen Zeit in Ulm.

Lauf der Ideen

Für Arlindo Stephan von der Universidade Federal de Juiz de Fora hat das Erbe des Bauhauses großen Einfluss auf die Konkrete Bewegung Brasiliens. „Wir können verfolgen, wie die Ideen von Theo von Doesburg, Walter Gropius, Otl Aicher und Max Bill ihren Weg bis zu Waldemar Cordeiro in Brasilien fanden. Der Konkretismus geht von formalen geometrischen Konzepten aus, basierend auf einer Mathematik der Formen, womit er sich neben Konzepte des Designs, der Architektur und anderer Disziplinen stellt“, erklärt Stephan.

Die Dichter und Theoretiker Augusto de Campos, Décio Pignatari und Haroldo de Campos veröffentlichten 1958 in Brasilien das Manifest „Plano-Piloto para Poesia Concreta“ (pilotplan für konkrete poesie) in der Zeitschrift Noigandres, die auch ihrer Gruppe den Namen gab. In dem Text stellten sie Parameter für die Konkrete Poesie auf, einschließlich des grafischen Raums als ein Element der poetischen Struktur. „Der Rationalismus auf konzeptueller konstruktivistischer Basis des Bauhauses - nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgenommen von der Ulmer Hochschule für Gestaltung - war gekennzeichnet von einer zugleich materialistischen wie utopischen Konzeption der instrumentellen Anwendung von Design als Fundament eines Einbringens der Künste in das moderne Alltagsleben“, sagt Julio Mendonça, Koordinator des Referenzzentrums Haroldo de Campos.

Für Mendonça hatte dieser konstruktivistische Rationalismus großen Einfluss besonders auf die erste Phase der Konkreten Poesie „von der Beobachtung einer Rechtwinkligkeit, die das Gedicht als Text nicht mehr linear anordnete, bis zum freien Umgang im Sinne einer Herauslösung der Poesie aus einem streng literarischen Umfeld hinein in Räume des öffentlichen Zusammenlebens. Es dauerte jedoch nicht lang, bis sich in der Produktion der konkreten Dichter - vor allem, aber nicht nur, bei Haroldo de Campos - eine kreative und originelle Spannung dieses konstruktivistischen Rationalismus mit barocken Elementen bemerkbar machte, wie übrigens Max Bense noch Mitte der 1960er Jahre feststellte“, fügt Mendonça hinzu.

Max Bense und Elisabeth Walther-Bense

Der deutsche Philosoph Max Bense war also das wichtigste Bindeglied zwischen den Konkretisten der Gruppe Noigandres und der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Außer Professor für Semiotik war Bense auch Schriftsteller, Dichter und gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth Walther-Bense Gründer der Literaturzeitschriften Augenblick (1955) und reihe rot (1960). Seine Theorien, die Mathematik, Semiotik und Ästhetik miteinander verbinden, waren wichtige Einflüsse für die brasilianische Konkrete Poesie. Bense und Haroldo de Campos blieben mehr als vier Jahrzehnte über eine aktive Korrespondenz im Dialog.

„Gewiss hatten Benses Besuche und Bücher, von denen viele ins Portugiesische übersetzt wurden, großen Einfluss“, glaubt Wolfson. „Die erste Reise des Ehepaars nach Brasilien war Ende 1961, nach Brasília - gemeinsam mit dem Dichter João Cabral de Melo Neto, der ein Gedicht über diese Begegnung schrieb -, Rio de Janeiro und São Paulo, wo er die von Mario Pedrosa organisiert 6. Biennale besuchte“, berichtet der Wissenschaftler. Drei Mal sollte das Ehepaar Bense bis 1964 noch nach Brasilien reisen.

Brasilianische Kultur in Deutschland

Interessant ist der Hinweis, so Wolfson, dass Bense und Haroldo de Campos genauso „entscheidend an der Verbreitung der brasilianischen Literatur im Deutschland der Nachkriegszeit beteiligt waren“. Haroldo de Campos ging 1964 als Gastprofessor an der Technischen Hochschule nach Stuttgart und hielt dort Vorlesungen über João Cabral de Melo Neto, Oswald de Andrade, Guimarães Rosa, die konkreten Poeten und andere. Bense stellte in der Galerie der Universität brasilianische Künstler aus, darunter Mira Schendel, Lygia Clark und Aloísio Magalhães.

„Ich glaube, die Besucher der Ausstellung konnten in diesen Arbeiten eine faszinierende Fülle sinnlicher Experimente, neokonkrete Kritik des Gegensatzes von Körper und Geist, Investigationen über nicht-semantische Dimensionen des sprachlichen Ausdrucks und Kommentare zu Konsumismus und Werbestrategien sehen. Diese Arbeiten einschließlich der Konkreten Poesie wirkten auf deutsche Betrachter sicherlich katalytisch, was ihre - wohl auf Mangel an Information beruhenden - Voreingenommenheit gegenüber brasilianischer Kultur angeht. Und vielleicht sogar auf ihre Eigenschaft als europäische Betrachter brasilianischer Avantgardekunst im Ausland“, schließt Wolfson.

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